Apartheidsbegriff ein No-Go

Eine Stellungnahme der „AG juden&christen“ zum Apartheidsvorwurf gegen Israel
Juden und Araber treten bei einem von der Stadt Jerusalem gesponserten Backgammon-Turnier am Neuen Tor in der Altstadt gegeneinander an (22. August 2022).
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Juden und Araber treten bei einem von der Stadt Jerusalem gesponserten Backgammon-Turnier am Neuen Tor in der Altstadt gegeneinander an (22. August 2022).

Unter dem Titel „Stellungnahme zum Vorwurf der Apartheid gegenüber Staat Israel“ hat sich die „AG juden& christen beim deutschen evangelischen Kirchentag“ wenige Tage vor Beginn der XI. Ökumenischen Vollversammlung in Karlsruhe noch einmal grundsätzlich zum Thema Israel geäußert. Das Thema wird wahrscheinlich auf der Vollversammlung eine wichtige Rolle spielen. Wir dokumentieren die Erklärung im Wortlaut:

Aufgrund der sehr unterschiedlichen und gegensätzlichen Positionen, die in der weltweiten Christenheit zum jüdisch-christlichen Gespräch, zum Staat Israel und den Nahostkonflikten eingenommen werden, sehen wir uns veranlasst, unsere Position klar zu formulieren. Dabei ist es uns wichtig, Anliegen und Interessen aus den Mitgliedskirchen des ÖRK aufzunehmen, die wir in einigen Punkten und bis zu einem gewissen Grad teilen. Wichtiger aber ist für uns zu diesem Zeitpunkt, offen gegen falsche Anschuldigungen Stellung zu beziehen. Dabei richtet sich unsere Sorge insbesondere auf die Verwendung des Apartheidsbegriffs in Bezug auf den Staat Israel.

Bei der Gründung des Ökumenischen Rats der Kirchen 1948 in Amsterdam erklärten die versammelten Delegierten, „Der Kampf gegen jeden Antisemitismus gehört zum christlichen Zeugnis“. 2020 bekräftigte der ÖRK seine Überzeugung, dass „Antisemitismus unvereinbar ist mit dem Bekenntnis und der Ausübung des christlichen Glaubens“. Dennoch sehen wir, wie sich traditionelle christliche antijüdische Ressentiments (z.B. Rache, Gewalt, Erwählungsarroganz, Stammesreligion …) sowohl in den Auseinandersetzungen über die Politik Israels innerhalb des ÖRK niederschlagen, aber eben auch in internationalen Debatten, wie denen zu deutscher Erinnerungspolitik durch Dirk Moses, zu Achille Mbembe oder jüngst zur Documenta 15.

Die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus geht die weltweite Christenheit an, denn Antisemitismus ist nicht annähernd überwunden. Zwar besteht wegen der NS-Geschichte fraglos eine besondere deutsche Verantwortung gegenüber Israel. Aber die Geschichte des christlichen Antisemitismus ist älter und in keiner Weise überwunden. Das gilt insbesondere für den Mechanismus der Selbstidealisierung und den Drang zur Selbstviktimisierung, die beide wichtige Motive auch im israelbezogenen Antisemitismus sind. In beiden finden wir moderne Ausdrucksformen von Judenhass, der den Negativ-Anderen braucht, um ihm das Eigene entgegenzusetzen und positiv zu beschreiben. Das geht die weltweite Christenheit an!

Die antijüdische Negativ-Projektion reicht bis in die Anfänge der christlichen Kirche zurück, und sie zieht sich bis in die Gegenwart. Der christliche Antisemitismus hat aber nicht nur eine lange Tradition, sondern er zeigte und zeigt sich überall in der christlichen Welt. Juden wurde schon in der alten Kirche ein solcher gesellschaftlicher Ort zugewiesen, dass die Christen an deren unwürdiger, verachtenswerter Situation ihre eigene, christliche Glaubenswahrheit gleichsam materiell erfahren und bestätigt sehen könnten. Immer wieder hat die christliche Theologie einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Judentum und Christentum behauptet und dabei „die Juden“ als paradigmatische Häretiker und Manipulatoren in der christlichen Welt diffamiert.

Diese lange und umfassende Tradition christlicher Judenfeindschaft wäre mit dem ÖRK zur genaueren Beschreibung und Konkretisierung seiner Ablehnung des Antisemitismus zu diskutieren und könnte Ausgangspunkt einer Erklärung zum Thema Israel innerhalb der Deklarationen des ÖRK sein.

Sätze und Gegensätze:

Erstens: Wir sind uns der rassistischen und hegemonialen Rolle Europas und der Kollaboration der Kirchen mit dem Kolonialismus bewusst und sehen es als Aufgabe der weltweiten Christenheit an, dies zu thematisieren und für Heilungsprozesse auch auf materieller Basis einzutreten.

Es ist ein Widerspruch zu den geschichtlichen Tatsachen, die zionistische Bewegung als ein Phänomen des europäischen Kolonialismus zu betrachten. Im Gegenteil stellt sie ein Projekt dar, das Jüdinnen und Juden zu selbstbestimmten Subjekten ihrer Geschichte gemacht hat: Unter dem Eindruck des jahrhundertealten gesamt-christlichen Antijudaismus und dessen Radikalisierung im rassischen Antisemitismus – unter Bezug auf die eigene jüdische Tradition und als deren Neubelebung - ist der Zionismus eine Befreiungsbewegung. Dieses erneuerte Selbstbewusstsein beruft sich wesentlich auf die allgemeinen Menschenrechte, zu der auch die Achtung der Rechte der arabischen, der muslimischen und christlichen Bürger des Staates Israel beziehungsweise der palästinensischen Nachbarn gehört, auch wenn sie erheblich verbesserungswürdig ist.

Zweitens: Eine wachsende Zahl von Stimmen innerhalb der Gliedkirchen des ÖRK belegt die Politik des Staates Israel in den palästinensischen Gebieten mit dem Begriff der „Apartheid“ und plädiert dafür, dass auch die Vollversammlung ein entsprechendes Votum trifft.

Den Staat Israel als „Apartheitsstaat“ zu bezeichnen, ist sachlich falsch und verdreht die historischen Tatsachen. Die Regierungsbeteiligung der Ra´am (der vereinigten arabischen Liste), arabische Richterinnen bis hin zum Obersten Gericht, die professionelle Mischung der Ärztinnenschaft und des Krankenhaus-Personals oder die Zusammensetzung der Studierendenschaft oder des Militärs im Staat Israel – all das spricht auffällig dagegen. Schon die UN-Resolution 3379, in der Zionismus als Rassismus bezeichnet wurde, war von Ideologie geleitet. Heute ist „Apartheid“ längst zu einem Kampfbegriff geworden und als solcher nicht hilfreich, um die Situation der Palästinenser*innen im Staat Israel oder in den besetzten Gebieten klarer zu verstehen oder gar ihre Lage zu verbessern. Wenn das Leid der Palästinenser*innen thematisiert wird, dann ist die Fokussierung auf Israel und die besetzten Gebiete zu eng oder von unlauteren Motiven getrieben. Der Blick muss ebenso auf ihre Marginalisierung und Ausgrenzung in den arabischen Staaten wie Libanon oder Syrien und die Instrumentalisierung der Zivilbevölkerung durch Hamas, IS oder korrupte Fatah-Eliten geweitet werden.

Drittens: Verschiedene Gruppen und Einzelpersonen in unterschiedlichen Teilen der internationalen Christenheit und des deutschen Protestantismus, in der katholischen Kirche etwa auch „pax Christi“, haben erklärt, dass sie den Staat Israel und seine Politik für ein oder gar das große Hindernis für Frieden in der Region halten, und brandmarken ihn als einen Kolonialstaat.

Wir halten andere Akteure in der Region für deutlich friedensgefährdender und sehen den UNO-Beschluss von 1948 als völkerrechtlich bindend. Zudem haben besonders während der ersten 20 Jahren der Existenz des Staates Israel regelmäßig arabische Staaten gegen internationales Recht verstoßen und die Legitimität dieses Staates auch militärisch bestritten. Wenn im Blick auf die aktuelle Situation von einer eindeutigen Asymmetrie der Kräfteverhältnisse die Rede ist, weisen wir auf die konkrete und existentielle unvermindert weiterbestehende Bedrohung des Staates Israel hin: sowohl durch die aggressive Rhetorik der iranischen Führung, der Hisbollah im Libanon und der Hamas in Gaza, als auch und vor allem über den Aufbau von Raketenarsenalen und die Entwicklung nuklearer Waffentechnik, die auf die Vernichtung des Staates Israel zielen.

Viertens: Die Besetzung von Gebieten in der West Bank erscheint auch uns als großes Hindernis für Gerechtigkeit für die Palästinenser*innen, das beseitigt werden muss.

Wir halten es für falsch, die palästinensische Rolle ausschließlich in Begriffen der Passivität, des Leidens und des Opferschicksals zu fassen. Zu einer gerechten Lösung können und müssen alle beteiligten Seiten etwas beitragen. Die Verantwortung palästinensischer Führungsgremien und Führungspersönlichkeiten für Terror gegen israelische und jüdische Ziele, für Defizite und Versäumnisse im Blick auf Demokratie und die Rechte des palästinensischen Volkes selbst müssen offen benannt werden. Nur dann kann ein Friedensprozess glaubwürdig entwickelt und begleitet werden. Die Zuschreibung fester Täter-Opfer-Rollen verhindert pragmatisches und kompromissorientiertes (Ver-)Handeln und birgt die Gefahr der Selbstviktimisierung auf der einen Seite, die zur Dämonisierung des Gegners führt.

Fünftens: Die „Nakba“ ist eine palästinensische Tragödie, die auch durch israelische militärische Aktionen mitverursacht ist. Um das ganze Bild wahrzunehmen, gehört jedoch dazu, den Überfall der arabischen Staaten auf den neugegründeten Staat und deren Kriegsführung und Propaganda als auslösende Umstände zu würdigen.

Es hat nicht nur vertriebene und geflüchtete Palästinenser*innen gegeben, sondern eine ähnlich große Zahl jüdische Flüchtende, Migrant*innen, Vertriebene aus den umliegenden arabischen Ländern.

Sechstens: Zum ganzen Bild gehört, auch die teilweise verzweifelte Situation der palästinensischen Bevölkerung in den arabischen Nachbarstaaten Israels wahrzunehmen.

Es muss Entschädigungsregelungen geben, die das Rückkehrrecht materiell mit Entschädigungsregelungen umsetzen, aber auch der veränderten Realität Rechnung tragen. Es ist in keinem Falle verantwortlich, die Kinder und Enkel der Flüchtlinge in dritter Generation als Geiseln politischen Kalküls in von der UNO betreuten Flüchtlingslagern im Libanon, in Syrien oder den palästinensischen Autonomiegebieten unter teilweise menschenunwürdigen Verhältnissen zu halten.

Siebtens: Etliche Gliedkirchen des ÖRK haben öffentlich zum Ausdruck gebracht, dass sie den Boykott israelischer Waren, Wissenschaft und Kultur als ein legitimes und gewaltfreies Mittel des Protestes gegen das Unrecht der Besatzung betrachten.

Wir halten die Boykottbewegung nicht für hilfreich, sie ist im Gegenteil fundamental schädlich. Das zeigt sich daran, dass der Boykott ohne Ausnahmen Kunst, Kultur und Wissenschaft aus Israel miteinschließt und damit gerade auch solchen Stimmen das Gehör und die Unterstützung verweigert, die kritisch Stellung zu Entscheidungen und Handlungen der Regierung nehmen. Insgesamt verhindert die Boykott-Bewegung systematisch Begegnung und Austausch und damit auch die gegenseitige Wahrnehmung der jeweiligen Traumageschichten, die für eine Verständigung aber von elementarer Bedeutung sind.

Achtens: Der ÖRK hat sich in seiner Gründungsversammlung 1948 dazu verpflichtet, „Antisemitismus als Sünde gegen Gott und die Menschheit“ zu verwerfen. Wir brauchen einen andauernden Austausch sowie kontinuierliche Lernprozesse über den jahrhundertelangen christlichen Antijudaismus und die Verantwortung der weltweiten Kirchen auch für den modernen, säkularen Antisemitismus mit all seinen Folgen bis in die Gegenwart.

Das jüdisch-christliche Gespräch ist kein europäisches oder gar rein deutsches Projekt. Ebenso wenig ist es ein koloniales Projekt, nur weil es seine Zentren in den USA und Europa hat. Stattdessen ist diese dialogische Bewegung ein notwendiges Zu-Sich-Selbst-Kommen der Christenheit, die ohne das Feindbild des Negativ-Anderen auskommen will und so die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden anstrebt. Weil die Katastrophe des Holocaust als Kulminationspunkt einer fast die gesamte Kirchengeschichte hindurch praktizierten Lehre der Verachtung anzusehen ist, muss die kritische Auseinandersetzung von der ökumenischen Christenheit als Ganzer geführt werden.

Für den Vorstand:

Prof. Dr. Doron Kiesel (jüdischer Vorsitzender) und Dr. Christian Staffa (christlicher Vorsitzender)

Vergleiche zum Thema auch die folgende zeitzeichen-Texte:

- Peter Noss: Vermittlung versucht – Fünf Landeskirchen äußern Ideen für den Nahostkonflikt

- Fred Sobiech: Entschiedenes Sowohl-als-auch

- Christian Staffa: Israel ist kein Apartheidstaat – Über das Kirchenpapier zu den Nahostkonflikten vor dem ÖRK-Treffen in Karlsruhe

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Doron Kiesel

Prof. Dr. Doron Kiesel ist seit 2016 wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Zuvor war der Soziologe und Erziehungswissenschaftler von 1998 bis 2016 Professor für Interkulturelle und Internationale Pädagogik der Universität Erfurt. Er publizierte zahlreiche Veröffentlichungen zu antisemitismuskritischer Bildung, zu Migration und zur Integration ethnisch-kultureller Minderheiten in Deutschland.

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Christian Staffa

Dr. Christian Staffa ist Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche der Evangelischen Akademie zu Berlin, Christlicher Vorsitzender der AG Juden und Christen beim DEKT und Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland für den Kampf gegen Antisemitismus


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