Unsere 13 Baustellen (III)

Warum sich die evangelische Theologie ehrlich machen sollte
Die Behörden des internationalen Flughafens in Sylhet (Banglasdesh) lassen mehrere illegale Bauten entlang der Straße zum internationalen Flughafen Sylhet MAG Osmani räumen (20. August 2022)
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Die Behörden des internationalen Flughafens in Sylhet (Banglasdesh) lassen mehrere illegale Bauten entlang der Straße zum internationalen Flughafen Sylhet MAG Osmani räumen (20. August 2022).

Stimmen die Grundparameter des Denkens in der heutigen Theologie noch? Der Bochumer Systematische Theologe Günter Thomas meint, dass sich der christliche Gottesbegriff vielerorts in eine diffuse Natur- und Ökoromantik von zweifelhafter Substanz aufzulösen droht. Er diagnostiziert 13 Baustellen evangelischer Schöpfungstheologie der Gegenwart. Nach Teil eins und Teil zwei in der vergangenen Woche, nun Teil drei mit den letzten vier Baustellen und einem Resümee.

10. Baustelle: Religiöse Naturerfahrungen. Ja welche denn?

Gibt es Erfahrungen der Natur, die für evangelische Christen ein spirituelles Erschließungspotenzial haben? Und wenn es die gibt, welche wären es denn? Nicht erst die ökologische Schöpfungslehre des 20. und 21. Jahrhunderts durchziehen diese Fragen. Diese Fragen nach den Medien der Erschließung des Göttlichen haben eine lange, bis in die hebräische Bibel zurückreichende Spur in der Frömmigkeits- und Theologiegeschichte gezogen. Die zwei Teile von Psalm 19, die Vorstellung von zwei Büchern (Buch der Natur und Buch der Offenbarung) als Quellen der Gotteserkenntnis und nicht zuletzt viele Debatten um eine natürliche Theologie lassen sich im Horizont dieser Frage begreifen. Seit Immanuel Kants Rede vom gestirnten Himmel über ihm („Kritik der praktischen Vernunft“) stehen auch halbsäkularisiert kirchenfernen Zeitgenossen entsprechende Imagination bereit. Wer will schon das Staunen verlernen? Wer will schon seine Ahnen verleugnen? Wer mag in dieser Sache schon seinen missionarischen Furor bremsen?

In der Tradition einer pointierten Offenbarungstheologie wurde die simple Gegenüberstellung einer Theologie von unten oder von oben schon lange überwunden und – einer bestimmten Leserichtung folgend – die Gleichnishaftigkeit von Welt und Natur festgehalten. Für Christen, so dieser Ansatz, wird die Welt von Christus her lesbar in ihren partikularen Gleichnissen. Aber eben nur in dieser Leserichtung. So manches Lied von Paul Gerhardt lebt von gleichnisfähigen Naturphänomenen, aber auch von dieser Leserichtung.

Wenn der Ausgangspunkt in der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus zurückgewiesen wird, dann steht mit Macht die Frage im Raum: Welche Naturerfahrung kann eine sachlich hinreichend klare, emotional ergreifende und sozial anschlussfähige Erschließungskraft beanspruchen? Eine zweifellos lange historische Spur führt auf das Feld der Ästhetik. In der Religionsgeschichte sind es vielfach die Erfahrungen der Fruchtbarkeit – heute sind es abgemildert und generalisierter die Erfahrungen der Kreativität. Doch die Rückfrage lautet: Wie erschließend dürfen Erfahrungen der Gewalt, der Zerstörung und der Todesnähe sein? Auffallend ist, dass – von markanten Ausnahmen abgesehen – wenige ökologisch gestimmte Theologen bereit sind, die tiefe Ambivalenz und Abgründigkeit der Naturerfahrungen zu sehen und theologisch zu verarbeiten. Die an Harmonie, Integrität und Partnerschaft interessierte Schöpfungstheologie blendet die Phänomene der evolutionären Gewalt und Zerstörung geflissentlich aus. Doch warum sollte ein blühender Kirschbaum, ein Blick aufs Meer oder ein Schrebergarten religiös potenter sein als ein vom Fuchs gerissener und verblutender Wildhase, ein von Krebs zerstörter menschlicher Körper oder ein gewaltiger Tsunami? Der Religionsphänomenologe Rudolf Otto war an dieser Stelle ambiguitätssensibler: Es gibt kein fascinosum ohne ein tremendum.

Eine evangelische Theologie der Schöpfung steht daher an einer Weggabel. Entweder erkundet und entwickelt sie eine letztlich trinitarisch orientierte Re-Lektüre von Naturerfahrungen (zum Beispiel als verschiedene Typen von Gleichnissen). Oder aber bevorzugt sie ein Hören auf die verschiedenen Mitteilungen der Mutter Erde. Beschreitet sie diesen zweiten Weg mehr oder weniger entschlossen, so steht sie unweigerlich an einer weiteren Wegkreuzung: Entweder leugnet sie die tiefe Ambivalenz, das Zerstörerische, das Gewalttätige und das Unbarmherzige in der Natur (wie es zum Beispiel bei Jürgen Moltmann oder Dorothee Sölle zu besichtigen ist) und pflegt ihre Blühwiesenromantik und ihre Naturpartnerschaftsidylle. Erlösung wäre dann die Erlösung der Erde von dem Menschen. Oder aber sie lässt die phänomenologische Oberflächlichkeit hinter sich und öffnet sich einer naturreligiösen Spiritualität und Theologie, die auch eine systematische Verdunklung Gottes zu befördern bereit ist. Gott oder das Heilige erschließt sich dann gleichermaßen im majestätisch kreisenden Adler wie in dem vom Adler gerissenen blutigen Rehkitz. Hier liegen die Karten offen auf dem Tisch. Eine wie auch immer im Detail ausgestaltete Theologie der Offenbarung Gottes in Christus wird diese Natur nicht vergöttlichen können. Es ist schon wieder anrührend, wie leicht man auch hier, wie schon beim Charakter der Schöpfungstheologie, mit einer Orientierung am sich offenbarenden Gott als Barthianer gelabelt wird. Ist es aber nicht einfach gute Theologie, vom heiligen Gott anstelle von der Heiligkeit der Natur zu sprechen? Hier gibt es viel zu besprechen – und zu streiten.

11. Baustelle: Ökologie und Interessenspolitik. Doch Bullerbü?

Was kann die Kirche und ihre ökologische Schöpfungsethik von der Politik, national wie international, erwarten? Welche Erwartungen sind zu pessimistisch, welche mutig, welche erfordern nur einen langen Atem, welche sind illusionär? Diese Frage steht in diesen Tagen wie ein Elefant im Raum.

Der Einsatz von Gaslieferungen als Waffe durch Russland ist eine mächtige Erinnerung an einen weithin verdrängten und verleugneten Sachverhalt: Jede durch eine kirchliche Umweltethik gestützte Umweltpolitik findet statt in einem geopolitischen, von Einflussinteressen und machtpolitischen Strategen durchsetzten Raum. Weil dies nicht gesehen wurde, konnte der Einstieg in alternative Formen der Energiegewinnung mit dem Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohleverstromung kombiniert werden. Weil dies nicht gesehen wurde, konnte man die Abhängigkeit von Russland pflegen.

Doch der Ukrainekrieg offenbart einen Sachverhalt und bietet die Chance für eine Erkenntnis, die beide auch ohne ihn gesehen werden können: Jede einer Schöpfungstheologie entsprechende theologische Umweltethik und alle Ideen einer Heilung der Erde müssen sich mit dem Faktum einer macht- und interessengeleiteten Politik konfrontieren lassen.

Dazu gehört die realistische Einsicht, dass die Öl und Gas exportierende arabische Welt für ihre wachsenden Bevölkerungen kein „Geschäftsmodell“ hat, das an die Stelle dieser kohlenwasserstoffbasierten Exportindustrie treten könnte. Dazu gehört auch die Einsicht, dass nicht klar ist, welche Einnahmen im Erdölstaat Nigeria den 45%-Anteil des Staatshaushaltes, der aus Öleinnahmen kommt, ersetzen könnte. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen.

Die Partei der Grünen erfährt im Augenblick  schmerzhaft, was geschieht, wenn man, wie die amtierende Außenministerin am Morgen des 24. Februar 2022 formulierte, „in einer anderen Welt aufwacht“ – weil eine von Idealen getriebene Umweltpolitik auf die macht- und interessegetriebene, und auch gewaltbereite Geopolitik trifft – und so Illusionen demaskiert werden.

Nun ist macht- und ökopolitischer Zynismus nicht die Alternative. Es ist vielmehr das Eingeständnis, dass religiöse wie nicht-religiöse, von Ethiken gestützte Moralen, und die darauf aufsetzenden Politiken, für eine nicht-ideale Welt entwickelt werden müssen. Sie müssen, wohl oder übel, in einer nicht-idealen Welt voller Manipulation, Korruption, Gier, Rücksichtslosigkeit, Selbsttäuschung und Täuschung realisiert und umgesetzt werden.

Was hat dies mit der ökologischen Schöpfungstheologie der evangelischen Kirchen zu tun? Der gegenwärtige Realitätsschock wirft die Frage auf, inwieweit die von kirchlichen Aktivisten innerhalb und außerhalb von Gemeinden und Synoden bevorzugte Strategie der moralischen Überbietung weltlicher Akteure in Sachen Ökologie richtig ist. Ist die Überbietung notwendig und angemessen, weil sie politischen Druck aufbaut? Sind die Maximalforderungen wichtig, weil sie Teil einer aktiven Bewahrung der Schöpfung sind und reale Praxis einer Verantwortungsethik? Oder ist die Rhetorik der Überbietung töricht, kindisch und Illusionen befördernd? Ist sie gar irreführend und angesichts der politischen Wahrscheinlichkeiten gefährlich? Haben ihre Befürworter*innen zu lange imaginativ in Bullerbü gelebt? Befördert sie oder untergräbt sie sowohl spirituelle als auch politische Resilienz? Unterstützen die protestantischen Kirchen mit ihrer Umweltethik – als einer so neuen wie alten Variante einer politischen Theologie – eine politische Selbstillusionierung? Über die Notwendigkeit eines politischen Realismus, auch im kirchlichen Fordern und Reklamieren, muss offen debattiert und nicht weniger offen gestritten werden – der Streit würde sich lohnen.

12. Baustelle: Verzicht und Selbstzurücknahme. Oder doch Kreativität?

Es mag der lange Schatten der Romantik sein oder eine spezielle Sensibilität der Deutschen gegenüber den Gefahren der Technik - jedenfalls fällt auf, dass sich vornehmlich in deutschen Landen eine enge Verklammerung einer weitgehenden Verzichtsethik und einer tiefgreifenden Technikskepsis findet. Lastenfahrrad statt Auto, Biogasanlage statt Atomkraftwerk, „Weniger ist mehr“, „40 Tage ohne“, Degrowth statt Wachstum, alternativ-bäuerliche Landwirtschaft statt Agrobusiness. Oft verbindet sich dies mit an Kleinraumbewirtschaftungen orientierten Forderungen nach ursprünglicher Einfachheit, solidarischer Genossenschaftlichkeit und einer Abschaffung des Kapitalismus zugunsten eines wirklichen Sozialismus. Nicht selten wird dieses Sehnsuchtsbündel mit dem Begriff der „ökologischen Gerechtigkeit“ etikettiert. Wie spezifisch deutsch die jeweilige Gestaltung der ökologischen Gerechtigkeit ist, ist exemplarisch an der Offenheit der finnischen Grünen für die Atomkraft ablesbar.

Eine Ethik des Verzichts auf Rechte und Praktiken, auf Privilegien und Besitz, ist zweifellos ein wichtiges Element einer neutestamentlichen und so letztlich auch kirchlichen Nachfolgeethik. Ebenso offensichtlich ist, dass endliche Ressourcen nicht die Basis eines grenzenlosen Wachstums sein können. Eine Ethik des Verzichts prägt darum schon die Bergpredigt. Ebenso plausibel ist, dass jede die Zukunft prägende Technologie auf ihr manifestes langfristiges Gefährdungspotential befragt werden muss.

Dennoch bleibt die Frage nach der geradezu unausweichlichen Fusion von Verzichtsethik und Technikskepsis. Dabei erfährt gegenwärtig die bis in weite Teile der „Extinction Rebellion“ hineinreichende Vorliebe für Subsistenzwirtschaft oder die Ökobauernromantik der deutschen Mittelschicht einen harten Realitätstest: Ohne das ukrainische und russische Agrobusiness würden Millionen Menschen in Hungersnot geraten. Was soll nun der Treiber sein, der Verzicht oder die technische Innovation? Dabei würde die Innovation nicht nur den Klimawandel abwenden helfen, sondern, im Fall des wahrscheinlichen Falles, die notwendigen Anpassungstechniken bereitstellen. Darf es einen Innovationsoptimismus geben, gar ein Vertrauen in zukünftige technische Innovation? Darf die apokalyptische Grundstimmung technisch aufgehellt werden oder ist dies theo-politisch inopportun? Könnte das Gleichnis der anvertrauten Pfunde (Lukas 19, 11-27) ökotheologisch interpretiert werden? Sind wir nicht als Cooperator Dei zu aktiver, auch technisch innovativer Weltgestaltung aufgefordert – wissend um deren Gefahren und Ambivalenz? Wer andere Länder und Kulturen bereiste, weiß, wie unzertrennlich in deutschen Landen Verzicht und Technikskepsis verschwistert sind. Doch dies muss nicht so sein. Das ökomoralische „Germany first“ darf auch abgelegt werden. Darum muss darüber gestritten werden.

13. Baustelle: Ambivalenzexperten. Oder doch Jakobiner?

Ein verzweifelter Optimismus prägt zunehmend die aktiven Vertreter einer ökologischen Ethik innerhalb wie außerhalb der Kirchen. Die Kirchen agieren dabei als Verstärker der Dringlichkeit und des Optimismus. 

Die ökologische Bewegung hat sich – und dies hängt selbstverständlich von der Betrachtungsperspektive ab – über die letzten Jahrzehnte innerhalb der Kirchen mit der feministischen Theologie und der Befreiungstheologie vernetzt. Befördert durch die Idee der intersektionalen Gerechtigkeit, wird die Vorstellung einer ökologischen Gerechtigkeit in den kirchlichen Diskurs eingebracht. Verbunden wird dies, unter dem Eindruck der ‚auslaufenden Zeit‘ zur Begrenzung des Klimawandels, mit der Forderung einer vorbildgebenden Entschlossenheit, einer zielgerichteten Eindeutigkeit und einem raschen Handeln auf klar definierten Handlungspfaden. So rief beispielsweise die Badische Landeskirche alle Kirchengemeinden dazu auf, sich an den Demonstrationen von Fridays for Future zu beteiligen und ein Pfarrer, der bei „Extinction Rebellions“ mitmacht, annonciert sich als Vorbild. Umweltbeauftragte der Kirchen sollen die Organisation ‚auf Kurs‘ bringen. Eine von Gewissheit getragene Entschiedenheit im religiös-politischen Urteil, eine Eindeutigkeit im öffentlichen Zeugnis und eine Entschlossenheit und Eile im Handeln, scheinen kirchlicherseits das Gebot der Stunde zu sein. Die große Transformation, an der auch die Kirche mitwirken will, kann nicht warten.

Doch die Frage steht im Raum: Ist diese Performanz von Eindeutigkeit, Entschlossenheit und Eile das, was die Christen im öffentlichen Diskurs verstärken sollen? Wie gesagt, eine Distanzierung von der Politik und eine ästhetische Existenz als moralischer Flaneur ist nicht die Alternative.

In Zeiten moralischer Radikalisierung ist es hilfreich, an diejenigen Traditionen im kanonischen Gespräch zu erinnern, die moralskeptisch sind. Die biblischen Traditionen sind voller Einsichten in Logiken des Handelns, die auch heute noch handlungstheoretisch hoch aktuell sind. Es gilt immer noch, dass alle Menschen lügen (Psalm 116,1) beziehungsweise Sünder bleiben. Nicht die moralisch Edlen, sondern die Gebrochenen und Lumpen sind die Heiligen. Die sogenannte Krise der Weisheit erinnert an eine bittere Erkenntnis: Zwischen Motivationen, Absichten und Handlungszielen auf der einen Seite und den Resultaten von Planen und Handeln auf der anderen Seite, klafft zu oft eine große Lücke. Auch gutgemeinte Handlungen müssen nicht zu großformatigen Erfolgen führen. Tun und Ergehen, Handlung und Handlungserfolg, stehen zu oft in einem Missverhältnis. Nicht nur die Krise der Weisheit, nein, auch die jesuanischen Rede vom Balken im Auge (Matthäus 7,3-5) und die paulinische Reflexion auf den tödlichen Charakter vermeintlich lebensförderlicher Gesetze (Römer 7) sind explosive Erinnerungen für einen verzweifelten Handlungsoptimismus. Christen wissen als Beter des Vaterunsers um die Grenzen ihrer Handlungen in einer noch unerlösten Welt. Nicht zuletzt sollte auch die egalisierend wirkende lutherische Rechtfertigungslehre, die den Menschen bleibend und grundlegend als simul iustus et peccator bestimmt, für eine verzweifelt-optimistische Haltung ein entlastendes Korrektiv sein. Wer nach säkularen Alternativen sucht: Es gibt eine Fülle soziologischer und politikwissenschaftlicher Literatur zu nicht-beabsichtigten Handlungsfolgen.

Vor dem Hintergrund dieser Traditionen sind Christen, und protestantische Christen allzumal, keine potenziellen oder realen Jakobiner oder Zeloten, sondern sogenannte Ambivalenzspezialisten. Sie sind barmherzige Experten für nicht beabsichtigte Folgen und geduldige Fachleute für Ziel- und Abwägungskonflikte. Als Experten für moralische Ambivalenz erlauben sich Protestanten Abwägungs- und Zielkonflikte anzuerkennen, ohne sie mit moralischer Wucht beiseite zu schieben.

Ökologische Landwirtschaft verbraucht mehr Fläche und emittiert doppelt so viel CO2? Biosprit schadet dem Nahrungsmittelanbau? Biogas beschädigt die Versorgung mit Mais? Flächenstilllegungen reduzieren den für viele Empfängerländer notwendigen Getreideexport? Batterietechnologie benötigt schmutzige Gewinnung von seltenen Erden bei ungeklärter Recyclingsituation? Ökologische Gebäudesanierung befördert Altersarmut? Ist ein alternatives Geschäftsmodell für Öl und Gas exportierende Länder mit einer jungen Bevölkerung in Sicht? Was tun mit den 1,2 Milliarden Menschen, die noch auf eine Steckdose warten? Wieviel ukrainisches Blut klebt ganz ungeplant an den Händen derer, die den Atom- und den Kohleausstieg vorangetrieben haben? Wieviel an den Händen der Kirche, die Fracking zur Bekenntnisfrage erhob? Wieviel Landschaftsschutz darf den Windrädern zum Opfer fallen? Lief nicht die als so vorbildhaft angelegte deutsche Umweltpolitik mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auf das Riff der Geopolitik?

All diese unerwarteten Zielkonflikte sind nicht einfach lösbar. Sie sollten für Kirche und Theologie aber Anlass sein, mit Blick auf ein ökomoralisches Pathos eher abzurüsten. Gönnen Christen sich und ihren Umwelten eine barmherzige Geduld, die auch tragisch anmutende Zielkonflikte und Abwägungssituationen konstruktiv angehen lassen? Oder lassen sie sich durch Gelegenheiten des öffentlichen Redens und Handelns zu einem moralischen Angebertum verführen? Zweifellos gilt: Je höher der moralische Turm ist, von dem herunter gesprochen wird, umso größer ist die Fallhöhe für denjenigen, der abstürzt. Darum dürfen, ja, sollten sich auch Bischöfinnen und Bischöfe, Präses und leitende Geistliche in Solidarität mit den Nicht-Mittelstandschristen gelegentlich die Freiheit nehmen, richtig alte Benziner zu fahren – statt mit E-Autos zu posen.

Auf die Gefahr hin, von manchen als lauwarme Zauderer und unverantwortliche Nörgler wahrgenommen zu werden, können Christen eine Kultur befördern, in der spirituelle Ressourcen bereitstehen, mit diesen Konflikten und Unwägbarkeiten umzugehen. Nur mit den schon im biblischen Material vorgezeichneten ‚Brechungen‘ des verzweifelten Planungs- und Handlungsoptimismus wird angesichts des eintretenden Klimawandels eine fatale Alternative überwunden. Ohne Zweifel aufziehen wird die politisch unfruchtbare Alternative: Gewaltbereitschaft oder Resignation. Diese Alternative gilt es durch Christen zugunsten eines langen Atems realistischer Hoffnung zu überwinden. Die Wahrnehmung komplexer Realitäten befördern oder eher die Wucht moralischer Eindeutigkeiten verstärken? Das ist kurzgefasst hier die Alternative. Dramatisierung oder Entdramatisierung eines verzweifelten Optimismus, darüber muss gestritten werden.

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Alle Baustellen erfordern weitere Arbeit. Alle angetippten Konflikt- und Spannungslagen sind nicht einfach aufzulösen. Christen verantworten die Gegenwart und suchen das Beste für eine Zukunft, die anders sein wird als geplant. Sie tun dies vor Gott und inmitten vielfältiger Anforderungen und in mehreren Verantwortungsräumen gleichzeitig. Die Menschen, die im Leben stehen, wissen um die konfliktträchtige Vielzahl der Verantwortungsräume. Die Christen denken und handeln in einer Welt, die von Humanität und Egoismus, von Einsicht und Dummheit, von Aufrichtigkeit und Täuschung, von Barmherzigkeit und Gewalt, von Verständnis und Missverstehen-wollen geprägt ist. Diese Welt kennt gesteigerten moralischen Sensibilitäten und einen Missbrauch von Moral für das eigene Interessensmanagement. Und: Zu oft sieht dabei vieles zum Verwechseln ähnlich aus. Genau dies wissen Christen hoffentlich besser als manche andere. Darum geht es in einem hoffnungsvollen Realismus. In dieser nicht-idealen, nicht ausplanbaren und überraschungsreichen Welt, navigieren Christen und fährt das Schiff der Gemeinde durch das Meer der Zeit.

Hier können Sie alle drei Teile des Textes „Unsere 13 Baustellen“ am Stück lesen.

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