Vorzüglich

Fußball ist Religion

Dieses Buch, das als von Birgit Weyel betreute praktisch-theologische Dissertation 2021 der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen vorgelegt wurde, macht es sich mit der aufgeworfenen Frage nicht einfach. Es betreibt vielmehr einen bewundernswerten religionstheoretischen, religionsempirischen und vor allem ethnographischen Aufwand und kommt dennoch zu einer klaren Antwort. Ja, Fußball ist Religion, dann, wenn man auf diejenigen Menschen schaut und sie in ihren Motiven und Absichten zu verstehen versucht, denen der Fußball in ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Verein und einem seiner Fanclubs etwas Lebenswichtiges bedeutet. Probst lehnt nicht nur die Säkularisierungsthese, wonach die gesellschaftliche Moderne mit einem Bedeutungsverlust der Religion einhergehe, rundweg ab. Er fordert die Praktische Theologie entschieden dazu heraus, das weite Feld der populären Kultur mit einem religionstheoretisch geschärften Blick und unter Aufbietung elaborierter religionsempirischer Methoden differenziert wahrzunehmen. Worauf man dann stößt, so seine These, das sind die „kleinen sozialen Lebenswelten“, in denen Menschen immer auch an der unumgänglichen Sinndeutung ihres Lebens arbeiten, in denen sie Halt und Orientierung in Krisen finden.

In der Zugehörigkeit zum Fanclub eines Fußballvereins kann sich für Menschen eine solche „kleine soziale Lebenswelt“ bilden. Doch wie stellt man sicher, dass der Verweis auf deren Lebenssinn stiftende Bedeutung nicht nur eine von hintergründigen theologischen Interessen motivierte Behauptung ist?

Dazu muss man sich selbst ins Feld begeben, muss zum integralen Bestandteil dieser „kleinen sozialen Lebenswelt“ werden. Man muss am Vereinsleben aktiv teilnehmen, muss die Ritualdynamik, die den Spieltag bestimmt, mitvollziehen, muss zu den Auswärtsspielen mitfahren, zu denen meistens lange Anfahrten im gemeinsamen Bus gehören, muss vor allem auch bei den geselligen Abenden unter der Woche dabei sein.

Probst ist im Rahmen seiner ethnographischen Studie drei Jahre lang ins Feld gegangen, wurde Teil einer Fangemeinschaft der SV Stuttgarter Kickers und gelangte so zu „dichten Beschreibungen“, die die Sinnwelten der Fans in der Binnenperspektive erschließen, die Bedeutungen zeigen, die sie selbst ihrer Zugehörigkeit zur Fangemeinschaft zuschreiben. Dabei tritt hervor, wie wichtig die Gemeinschaftserfahrungen sind, ebenso aber auch, dass diese in Wechselwirkung mit der individuellen Selbstdeutung stehen. Das Sinngefüge, zu dem die Eingliederung in die Fangemeinschaft Zugang verschafft, ist nicht vorgegeben. Es entsteht immer erst dadurch, dass die Einzelnen ihren Fanaktivitäten eine entsprechende Bedeutung geben, wobei wiederum von den Erzähltraditionen der Fangemeinschaft Gebrauch gemacht wird.

Zusätzlich zu seiner exzellenten ethnographischen Studie bietet Probst ein reiches Arsenal an soziologischen und theologischen Religionstheorien auf. Sie stützen jedoch die These dieser vorzüglichen, die Praktische Theologie in Richtung einer pluralistischen praktischen Kulturtheorie energisch voranbringenden Studie: In pluralistischen und individualistischen modernen Gesellschaften verliert die kirchlich institutionalisierte Religion ihre normative und sozial integrale Bedeutung. Die gelebte Religion, die Menschen Lebensinhalt und Sinnerfüllung gibt, verlagert sich in unzählige „kleine soziale Lebenswelten“. Diese sind fluide, ohne scharfe Abgrenzungen und für einander durchlässig, auch zu den „kleinen sozialen Lebenswelten“ kirchengemeindlich praktizierter Religion. Menschen finden in ihnen das, was die Religion denen, die sie leben, seit jeher gegeben hat, die Gewissheit, nicht vergeblich zu leben.

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Foto: Humboldt-Universität zu Berlin

Wilhelm Gräb

Wilhelm Gräb ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.


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