Perspektiven

Sexualisierte Gewalt in der Kirche

Die Auseinandersetzungen um sexualisierte Gewalt, auch in der evangelischen Kirche, werden medial breit rezipiert. Die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes sind der Überzeugung, dass eine vertiefte systematisch-theologische Reflexion nötig sei, die auch zentrale Begriffe wie Schuld und Vergebung, Gerechtigkeit und Rechtfertigung in den Blick nimmt. Dazu versammelt der Band wissenschaftliche Theologinnen und Theologen, die aber zugleich ihre eigenen Betroffenheiten wie die Perspektive der Institutionen eintragen, für die sie stehen.

Der erste Abschnitt „Gründe und Abgründe“ arbeitet theologisch und beleuchtet Fragen von Vergebung, Freiheit und Machtmissbrauch. Vergebung, als eine wichtige Perspektive im kirchlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt, steht im Mittelpunkt des Beitrages der badischen Landesbischöfin Heike Springhart. Dabei nimmt sie den befreiungstheologischen Impuls auf, Opfer nicht durch ein sogenanntes Silencing vorschnell erneut zu viktimisieren. Betroffene sind und bleiben Teil der Kirche, nicht ihr Gegenüber. Dies betont auch Kirsten Fehrs, Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck, in ihrem Beitrag, wenn sie stark macht, dass Betroffene Akteurinnen und Akteure sind und es elementar wichtig sei, dass sie selbst sprechen und nicht nur über sie gesprochen werde.

Eine theologische Scharnierstelle stellen sicher die beiden Beiträge von Reiner Anselm und Johann Hinrich Claussen dar, die sich mit evangelischer Freiheit befassen. Der Münchener Theologieprofessor Reiner Anselm betont den hohen Anspruch an moralische Positionierung und moralische Integrität des eigenen Personals. Auch das Familienmodell markiert er als problematischen Zuschnitt, verstärkt durch die theologische Legitimierung von Hierarchien. Hier liege eine besondere Chance im tertius usus legis, nämlich da­rin, innerkirchliches Handeln vorbehaltlos an die Geltung des demokratisch anerkannten Rechts, insbesondere der Grundrechte, zu binden.

Johann Hinrich Claussen, EKD-Kul­tur­beauftragter, setzt sich mit einer „Kultur der Grenzverletzungen“ als Folge von Abgrenzungsversuchen gegen Bürgerlichkeit und einem absolut verstandenen Freiheitsbegriff auseinander. Hier ist auch ein Gedankengang des Theologieprofessors Thorsten Dietz zu ergänzen: „Das Bewusstsein für Normen und traditionelle Werte hat Evangelikale befähigt, die Propagierung vermeintlich progressiver Werte im Einzelfall als Vorwand von Machtmissbrauch zu durchschauen. […] Die Kirchen wären gut beraten gewesen, diesen Widerspruch ernster zu nehmen.“

Es ist ein besonders Merkmal dieses Buches, dass der Begriff der evangelischen Kirche auch auf die Diakonie wie auf die pietistische und evangelikale Bewegung ausgezogen wird (Beiträge von Michael Diener und Thorsten Dietz). Der Diakoniewissenschaftler Thomas Zippert betont, dass (sexualisierte) Gewalt strukturell auch in Anstaltsdiakonie mit angelegt ist, Macht und Ohnmacht sind in solchen Betreuungskontexten besonders deutlich ein zentrales Thema.

Im zweiten Abschnitt untersucht der Traumafachberater Andreas Stahl sieben Dimensionen von Aufarbeitung für Kirche, die eine Unterstützung der Opfer darstellt. Dabei sei auch zu bedenken, dass ein traumatisches Ereignis im Leibgedächtnis weiterwirkt. Die Praktische Theologin Nikolett Móricz stellt in ihrem Beitrag vor, auf welche Weise Psalmentexte in die Seelsorgepraxis eingespielt werden können.

Der Beitrag der promovierten Theologin Elke Seifert, der einer der stärksten des Bandes ist, steht für die Sicht einer Betroffenen, die auch zu sexualisierter Gewalt in der Bibel promoviert wurde. Bei dieser Auseinandersetzung geht es um eine komplette Revision des theologischen Gedankengebäudes und der kirchlichen Praxis, damit vollendet sich der Argumentationsbogen des Buches – in den Worten von Elke Seifert: „Ich würde mir wünschen, dass die Theologie ebenso wie die Kirche […], dass sie mit den Menschen redet und nicht über sie […]. Es geht darum, denen einen sicheren (!) Raum anzubieten, die auf der Suche sind nach Schutz, […] nach Heilung […].“

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Anne Günther/Universität Jena

Sarah Jäger

Dr. Sarah Jäger ist Juniorprofessorin für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Jena.


Ihre Meinung


Weitere Rezensionen