Analytisch

Wissenschaft und Religion

Der Untertitel der kompakten Studie des Philosophen Rainer Enskat über das Verhältnis von Aufklärung, Wissenschaft und Religion ist fast so prägnant wie der Buchtitel selbst, der die drei Begriffe schlicht aufzählt. Er lautet: „Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes“. Der analytische Blick des emeritierten Philosophen, der lange in Halle lehrte, richtet sich auf die Geistesgeschichte; er fragt, wie etwas wurde, was es heute ist. Und dieses Etwas ist nicht irgendein „Spannungsfeld“, sondern markiert einen die Neuzeit bis zur Gegenwart prägenden Grundkonflikt. Das bestätigen schon naheliegende Assoziationen: Wissenschaftsskepsis wird in der Corona-Pandemie gerade zu einem Zeitpunkt massiv artikuliert, da strenge Wissenschaft umso wichtiger ist; „Aufklärung“ steht infrage, als angebliche Alternativen treten naturmedizinische Gläubigkeit oder Aberglaube auf.

Immerhin scheint die Mehrheit noch im guten Sinne aufgeklärt zu sein. Der Krieg in der Ukraine macht den aufgeklärten Westen dagegen zu einem Gutteil ratlos. Die zum Einsatz kommende Waffentechnik bestätigt, dass Wissenschaft und ihre Anwendung nicht nur dem allgemeinen Wohlbefinden dienen. Eine ähnliche Diagnose legt der Klimawandel nahe, was ebenfalls an die sprichwörtliche Empfehlung denken lässt, wonach man hier nur noch beten könne. Dass Aufklärung, Wissenschaft und Religion sich einander ergänzen, ist möglich und wünschenswert. Diese Grundüberzeugung trägt Enskats Analysen. Dass sie miteinander in Konflikt geraten, bleibt freilich eher die Regel. Die Aufklärung wird stets von einer negativen Schattenseite begleitet, die nicht erst Horkheimer und Adorno in den Blick nahmen. Enskats Gewährsdenker lebten im 17. und 18. Jahrhundert. Dass ungezügelter Wissenschaftsglaube – wobei sich der Begriff „Wissenschaft“ bei Enskat durchweg auf die sogenannte exakte (Natur-)Wissenschaft bezieht – ins Verderben führen kann, formulierten schon Francis Bacon und Montesquieu. Und ein Vordenker der Aufklärung und des Parlamentarismus, John Locke, trug mit seinem strikten Empirismus dazu bei, dass metaphysische Dimensionen mehr und mehr aus dem Blickfeld der Allgemeinheit gerieten.

Diderot setzt Aufklärung gleich mit strenger Wissenschaftsorientierung – und ignoriert dabei, dass die Aufklärung auch eine weitere praktische Dimension umfasst, für welche die gesamte philosophische Tradition seit der Antike steht. Zum Feld des zu erstrebenden Wissens zählt auch das Gute, zählen die Wege, die zum allgemeinen Wohlbefinden (und nicht nur zu Wohlstand) beitragen. Und davon ausgehend eröffnet sich wieder ein Raum für die Religion. Das ergibt sich aus Überlegungen schon von Rousseau und Kant, die für Enskat in seiner vornehmlich in Form von historischen Schlaglichtern voranschreitenden Abhandlung die Referenzdenker sind. Die Konfliktfelder sind seit Jahrhunderten bestechend analysiert, ein Grund zu ungeteilter Freude ist das aber leider nicht, weil sie ja weiterhin nicht oder nur teil- und zeitweise zu einem wirklichen Ausgleich zu bringen sind. Gelingen kann das durch wohlverstandene Aufklärung, durch Vernunftorientierung und besondere Rücksicht auf das Wohl von Mensch und Welt, die eben auch eine aufgeklärte Religion bedingen. Enskat appelliert dafür nur implizit. Argumente sind seine Sache eher. Damit könnte er wohl jeden und jede überzeugen. Ob diese aber auch ihr Handeln konsequent daran ausrichten, hängt davon ab, ob sie guten Willens sind.

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