Unsteter Drang nach Westen

Willibrord, Europa und Putins Krieg gegen die Ukraine
„Die Taufe Russlands“, Gemälde von Viktor M. Wasnezow, 1848 – 1926.
Foto: akg-images
„Die Taufe Russlands“, Gemälde von Viktor M. Wasnezow, 1848 – 1926.

Mit der Christianisierung der Kiewer Rus ab 988 begann jene Pendelbewegung in der Geschichte Russlands, die das Land mal näher an den Westen heranführte und dann wieder weiter von diesem entfernte. Dabei ist die Vision der angelsächsischen Mission, die Völker jenseits der Karpaten in den westlichen Kulturkreis einzubeziehen, nach wie vor aktuell, meint Rainer Neu, der Kirchengeschichte und Religionswissen­schaft unter anderem in Dumaguete City (Philippinen) und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal gelehrt hat.

In seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes überliefert der Mönchsgelehrte Beda Venerabilis eine Missionsvölkerliste, die von modernen Historikern dem angelsächsischen Missionar Willibrord (658 – 739), einem Zeitgenossen und Landsmann Bedas, zugeschrieben wird.

Diese Missionsvölkerliste, in der namentlich „Friesen, Rugier, Dänen, Hunnen, Altsachsen, Brukterer“ (V,9) als noch zu christianisierende Völker aufgezählt werden, passt zur Missionstätigkeit Willibrords, in dessen Wirken sich erstmalig so etwas wie ein europäisches Bewusstsein andeutete. Immerhin konnte Willibrord sein Missionsgebiet von Friesland aus bis nach Thüringen an die tschechische Grenze ausdehnen. Die aufgelisteten Volksnamen machen deutlich, dass seine Missionsabsichten außer nach Norden auch nach Osten ausgerichtet waren. Rätselhaft bleiben in dieser Aufzählung allerdings die Hunnen, da das Reich der Hunnen bereits im 5. Jahrhundert untergegangen war und die Hunnen in anderen Völkern aufgegangen waren.

Der historisch unangemessene Begriff Hunnen weist darauf hin, dass für die Völker jenseits der Karpaten im frühen Mittelalter im Westen noch keine Namen bekannt waren und die Länder im äußersten Osten Europas eine „terra incognita“ waren. Diese geografische Unkenntnis hielt Willibrord nicht davon ab, seine Vision einer Christianisierung Europas weit über die Grenzen des fränkischen Reiches hinaus auch auf die barbarischen Völker Osteuropas auszudehnen.

Willibrord blieb es allerdings nicht vergönnt, seine Missionstätigkeit über Thüringen hinaus nach Osten zu erweitern. Durch die politische Krise des Frankenreichs nach dem Tod Pippins II. im Jahr 714 und den Tod des Friesenherrschers Radbod im Jahr 719 veranlasst, kehrte Willibrord in sein Bistum Utrecht zurück und setzte seine Missionstätigkeit in Friesland fort. Die christliche Mission in Thüringen erlitt in diesen Jahren erhebliche Rückschläge.

Die Christianisierung Osteuropas ging stattdessen von Byzanz aus. Ein entscheidender Durchbruch war die Taufe des Großfürsten Wladimir, des Herrschers der Kiewer Rus, im Jahr 988, der die Taufe der Kiewer Bevölkerung folgte. 35 Jahre später war das gesamte bis dahin heidnische Russ­land, das von der Ostsee bis an die Grenzen des byzantinischen Reiches reichte, bekehrt. Und die Annahme des orthodoxen Christentums führte keineswegs dazu, dass Russ­land vom westlich-römischen Christentum getrennt war. Die Kiewer Rus entwickelte sich vielmehr politisch und wirtschaftlich im engen Austausch mit den romanisch-germanischen Völkern Europas.

Mit der Christianisierung der Kiewer Rus begann jene Pendelbewegung in der Geschichte Russlands, die das Land mal näher an den Westen heranführte und dann wieder weiter vom Westen entfernte.

Die Großfürsten von Kiew standen in engem Kontakt zum skandinavischen Norden. Der Nachfolger Wladimirs, Jaroslaw I. (Großfürst von 1019–1054), entwickelte diplomatische Beziehungen zu europäischen Staaten auf der Grundlage weitverzweigter Eheverbindungen. Im 11. Jahrhundert waren die Fürsten von Kiew verwandt mit den Herrscherhäusern in Norwegen, Schweden, Frankreich, England, Polen und Ungarn. Russland war Westeuropa nicht weniger zugewandt als seinem südlichen Nachbarn Byzanz. Diese Periode, eine Blütezeit und der Höhepunkt der Macht der Kiewer Rus, war zugleich ein erster Höhepunkt der Annäherung zwischen Europa und Russland.

Zerfall der Einheit

Im 12. Jahrhundert zerfiel die Einheit der Kiewer Rus in sich befehdende Teilreiche, und als im 13. Jahrhundert die Mongolen ins Land einfielen, konnte sie keine Macht aufhalten. Mit der Errichtung der Mongolenherrschaft im Jahr 1240 trat Osteuropa in eine Übergangsphase seiner Geschichte ein (das „dunkle Zeitalter“). Die mongolische Fremdherrschaft führte für zwei Jahrhunderte zu einem Abbruch der Beziehungen zum Westen und förderte die Abkapselung des orthodoxen Russlands.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zerfiel das mongolische Reich in internen Auseinandersetzungen. Der Moskauer Großfürst Iwan der Große (1462 – 1505) beendete schließlich die Mongolenherrschaft und wurde zum Begründer eines zentralisierten russischen Staates, indem er Schritt für Schritt die umliegenden russischen Länder „einsammelte“. Dem Moskauer Reich fehlte es jedoch noch an internationaler Anerkennung. Inzwischen war Konstantinopel von den Türken erobert worden (1453), so dass die Option einer Anlehnung an Byzanz auch nicht mehr bestand. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert empfand man im Westen Russland als eine fremde und nahezu exotische Macht, die nicht in das europäische Staatensystem zu passen schien.

Erst mit dem Regierungsantritt von Zar Michail I. im Jahr 1613 trat das russische Reich wieder Schritt für Schritt in die europäische Staatenwelt ein. Zwischen den Oberschichten Westeuropas und denen des Moskauer Reiches fand wieder ein kultureller Austausch statt. Schließlich trat Russland in den Gesichtskreis des Abendlandes in den Jahren der akuten „Türkengefahr“ und der von ihr ausgelös­ten europäischen Einigungsbestrebung. Im Jahr 1687 trat Russland auf Seiten des Westens in den Krieg gegen das Osmanische Reich ein. Russland galt nun als gleichberechtigter Partner der europäischen Großmächte.

Besonders Zar Peter der Große (1689 – 1725) gab dem technologisch wenig entwickelten russischen Staat eine neue Prägung. Im Jahr 1703 gründete er die Stadt Sankt Petersburg, die – seit 1712 Hauptstadt – das Symbol für den russischen Fortschritt werden sollte. Der junge Herrscher hatte sich durch Aufenthalte in den Niederlanden und England ein eigenes Bild von Westeuropa, seinem Wissen und seiner Technik gemacht und begann den Umbau des alten Russlands und seiner Institutionen nach modernen europäischen Vorbildern. Die Zarin Katharina die Große, eine gebürtige preußische Prinzessin, führte Peters Reformpolitik weiter. Ihr politisches Bestreben war die Einbeziehung Russlands in das gesamteuropäische Kultursystem.

Nach dem Sieg über Napoleon zog Zar Alexander I. als „Befreier Europas“ in Paris ein und erlangte nach dem Wiener Kongress 1814/15 sogar eine dominierende Rolle auf dem europäischen Festland. Doch schon durch den Krimkrieg (1853 – 1856) verspielte Russland seine Position wieder, da nun Frankreich und Großbritannien auf Seiten des Osmanischen Reiches standen, um eine erneute Gebietserweiterung Russ­lands zu verhindern.

Das agrarisch geprägte russische Reich konnte mit den sich rasant entwickelnden Industriestaaten immer weniger Schritt halten, und in Russland wurde man sich zunehmend uneins, ob eine Übernahme westeuropäischer Lebensformen tatsächlich wünschenswert sei. Den „Westlern“, die eine Übernahme europäischer Kultur und politischer Institutionen propagierten, standen die nationalromantisch geprägten „Russophilen“ oder „Slawophilen“ gegenüber, die einen eigenen, spezifisch russischen Weg in die Moderne forderten und die pauschale Übernahme westlicher Werte ablehnten.

Die Reformen blieben auf halbem Weg stecken, und vor allem die Lage der Landbevölkerung blieb katastrophal. Bedingt durch den Ersten Weltkrieg mit den Folgen der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg und der Machtübernahme durch die Bolschewisten schlug Russland seit 1917 einen eigenen Weg ein. An den Bemühungen um eine Wiederherstellung des kriegszerstörten Europas durch den Versailler Vertrag und die Suche nach einer neuen Weltpolitik im neu gegründeten Völkerbund nahmen Russland beziehungsweise die Sowjetunion nicht teil. (Im Völkerbund war die Sowjetunion nur von 1934 – 1939 vertreten.) Für Jahrzehnte begab sich das kommunistische Russland in die Isolation und verschanzte sich hinter dem „Eisernen Vorhang“.

Blockübergreifende Konferenzen der europäischen Staaten fanden erst seit 1975 im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) statt. Daraus ging nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Einstellung der Ost-West-Konfrontation das KSZE-Gipfeltreffen vom November 1990 in Paris hervor, auf dem die Charta von Paris für ein neues Europa beschlossen wurde, die die Hoffnung auf ein Ende des Kalten Krieges und auf die Zukunft eines demokratischen, solidarischen und friedlichen Europas ausdrückte.

Mehrere Vertrauensbrüche

Putin unterstrich diesen Wunsch nach Annäherung an Europa in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag im November 2001: „Ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“

Der Westen verstand diese Entwicklung vermutlich zu sehr als einen Sieg westlicher Ideen und ging nicht mehr auf die Interessen Russlands ein. Im Laufe der Jahre kamen Vertrauensbrüche hinzu: Im Juni 2002 traten die USA einseitig vom 1972 abgeschlossenen Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) zurück und begannen – gemeinsam mit der NATO – mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsys­tems. Zudem wurden die Beitritte osteuropäischer Staaten in die NATO von der russischen Regierung zunehmend kritisch betrachtet und führten zu einem erstarkenden antiwestlichen Ressentiment und großrussischen Nationalismus.

Deutsche Wunschvorstellung

Mit der Annexion der Krim und der russischen Intervention in der Ostukraine im Jahr 2014 und mit dem brutalen russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist die Charta von Paris praktisch aufgekündigt und die deutsche Wunschvorstellung von einem „Wandel durch Dialog und Handel“ wiederum in weite Ferne gerückt. Wie kann es weitergehen in Europa?

„Gewinnen“ kann Putin diesen Krieg schon jetzt nicht mehr. Ein militärischer Sieg über die Ukraine würde Russland für weitere Jahrzehnte weltpolitisch isolieren und hinter einen erneuten „eisernen Vorhang“ zurückdrängen. Einen Wirtschaftskrieg und ein neues Wettrüsten würde Russ­land nicht lange durchhalten.

Es kann jedoch auch nicht darum gehen, Russland militärisch zu besiegen oder dauerhaft wirtschaftlich ins Abseits zu stellen. Putin, dessen „gelenkte Demokratie“ sich zunehmend zu einem autoritären Despotismus entwickelt hat, muss vielmehr neutralisiert werden und Russland wieder in die Lage versetzt werden, einen Weg der Annäherung an das europäische Wertesys­tem zu beschreiten.

Die Vision der angelsächsischen Mission, die Völker jenseits der Karpaten in den westlichen Kulturkreis einzubeziehen, ist nach wie vor aktuell. Kulturell gehört Russland zu Europa, das belegt seine Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart – trotz seiner Phasen der Isolation.

Politisch sollte den Russen unter Anerkennung ihrer historischen und kulturellen Eigenheiten der Weg nach Europa weiterhin offenstehen, auch wenn es noch Jahre der Annäherung bedarf. Der Westen sollte dafür offenbleiben, dass Russland seinen Platz in der Geschichte Europas selbstbewusst und aus innerer Überzeugung einnehmen kann. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: privat

Rainer Neu

Rainer Neu, Jg. 1950, lehrte Kirchengeschichte und Religionswissen­schaft an der Silliman University in Dumaguete City (Philippinen), an der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"