Gelebte Nächstenliebe

Geschichten aus der Nachbarschaft am Beispiel der Niederlande
Zeit für ein Gespräch oder praktische Hilfe: Im Meester Geertshuis in Deventer finden Menschen Unterstützung.
Foto: Kathrin Jütte
Zeit für ein Gespräch oder praktische Hilfe: Im Meester Geertshuis in Deventer finden Menschen Unterstützung.

Die Herausforderungen sind groß: zunehmende Vereinsamung, Ausgrenzung, eine alternde Gesell­schaft und bröckelnder Kitt im Gemein­wesen. Wie kann in Zukunft trotz allem ein solidarisches Miteinander gelingen? Was können Kirche und Diakonie beitragen? Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Studienreise der Diakonie Deutschland haben im Osten der Niederlande zwei Projekte besucht, die im Quartier die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern suchen.

Wer in diesem Spätsommer durch die Niederlande fährt, dem bleiben die auf den Kopf gestellten blau-weiß-roten Fahnen an den Autobahnen, Landstraßen, Brücken oder Laternen nicht verborgen. Was früher auf hoher See als ein Signal für Hilfe galt, soll den Protest der Landwirte gegen die niederländische Regierung anzeigen. Vor allem im Osten des Landes. Doch die alte Hansestadt Deventer mit ihren malerischen Gassen und der geschlossenen historischen Altstadt scheint noch immer an die Tradition der mächtigen und wohlhabenden Hanse anzuknüpfen. Von dieser Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs legen zahlreiche Sakralbauten, Handels- und Bürgerhäuser mit prachtvollen Eingangstüren und Fensterschmuck bis heute Zeugnis ab.

Im Meester Geertshuis in der Assen­straat 20, unweit der gotischen Lebuinuskirche, kennt man jedoch auch die Schattenseiten hinter den blank geputzen Fassaden. Das Haus in typisch braun-rötlicher Klinkermanier beherbergt das „oecumenisch diaconaal centrum deventer“, benannt nach Geert Grote (1340 bis 1384), einem niederländischen Theologen, religiösen Reformer und Bußprediger.

Trijnie Plattje empfängt die Besucherinnen und Besucher in einem großen behaglichen Raum. Auf den zwei Tischen schaffen Tee, Wasser, kleine Kuchen und Waffeln eine wohnliche Atmosphäre. Die 66-Jährige mit dem hellgrauen Kurzhaarschnitt arbeitet als Freiwillige in dem ökumenischen Gemeinschaftshaus. Vor eineinhalb Jahren ging die Pfarrerin der Protestantse Gemeente Colmschate-Schalkhaar in den Ruhestand, seitdem kommt sie für fünf Stunden in der Woche in das Haus, mal in die sogenannte Anlaufstelle, mal in die Sprechstunde.

Denn dreimal in der Woche öffnet sich das Haus als Anlaufstelle, in der sich Menschen aus der Nachbarschaft wohl und willkommen fühlen sollen. Im „Wohnzimmer“ können sie eine Tasse Kaffee oder Tee trinken, Zeitung lesen, sich mit anderen Menschen treffen. Trijnie Plattje nennt es schlicht „da sein“. Hier im Meester Geerts­huis haben sich die Freiwilligen und die zwei Hauptamtlichen der „präsentischen Herangehensweise“ verschrieben, wie sie erklärt. Das heißt: „Es geht um Sorge, um die Würde der anderen Person, um den grundlegenden Akt, den Anderen so anzuerkennen, dass er – so verrückt, beschädigt, verwirrt oder anders er auch sein mag – zählt“, heißt es in einem Aufsatz von Andries Baart, der als Begründer der Präsenztheorie gilt und als Wissenschaftler im Bereich der Seelsorge und Pflege geforscht hat. Niemanden abschreiben, den Willen des Anderen ausgraben, das Beste ans Tageslicht fördern, das haben sich die Mitarbeiterinnen auf die Fahnen geschrieben. „Es gibt Geduld, Zeit und kein Urteil“, sagt Plattje. Und da die Freiwilligen in dem örtlichen Netzwerk der kommunalen und staatlichen Fürsorge zuhause sind, bilden sie oft einen guten Brückenkopf. Darauf baut die diakonische Arbeit im Meester Geertshuis auf. Der Erfolg der Arbeit liegt im großen Netzwerk: von Nahrungsmitteltafeln über das House of Hope, das bei Umzügen oder Gefängnisaufenthalten hilft, bis hin zur offiziellen Kinderhilfe, zum Roten Kreuz und zur Heilsarmee. Wichtig ist nur der lokale Bezug, denn es geht um die Lebensqualität in der Stadt und in der Nachbarschaft. In den sogenannten Sprechstunden, die zweimal in der Woche stattfinden, wird es konkreter. Trijnie Plattje zählt auf: Da geht es um finanzielle Unterstützung bei Obdachlosigkeit, um ein kostenloses Frühstück oder Abendbrot, um Rat für Frauen und ihre Kinder, die zuhause Gewalt erfahren haben, um Schuldnerberatung und um „Bett und Brot“ für Flüchtlinge.

Die rund 80 Freiwilligen erreichen so Menschen in Deventer, die oftmals psychiatrisch behandelt worden oder obdachlos sind. „7 000 Leute kommen jedes Jahr durch diese Tür, es sind 700, die Hilfe brauchen und denen geholfen wird“, rechnet sie vor. Auch aus diesem Grund durfte das Haus während der Corona-Pandemie in den vergangenen zwei Jahren geöffnet bleiben.

Eric de Ridder ist der Penningmeester der Stiftung, die das kirchlich initiierte Projekt trägt. Schatzmeister will er nicht genannt werden, obwohl es das im Deutschen sehr genau trifft. Er kümmert sich ehrenamtlich um die Finanzen. Für die Miete kommt die örtliche Kirchengemeinde auf, insgesamt zahlen vier Kirchen Geld ein, katholisch, evangelisch und freikirchlich. Die umliegenden Dörfer gewähren mit Geld aus den Kollekten Unterstützung.

Das Meester Geertshuis sei das Gesicht, mit dem sich die Kirchen in der Gesellschaft präsentieren, deshalb geben manche viel, manche eher weniger. „Die Kirchen haben unterschiedliche Ziele, aber die diakonische Arbeit ist der einfachste Weg, miteinander zu arbeiten“, sagt der Stiftungsvorstand. Aber auch die Kommune fördert die Arbeit; ihr Anteil liegt immerhin bei 40 Prozent.

Feste feiern

Eineinhalb Autostunden von Deventer entfernt Richtung Norden liegt die Ortschaft Vries in der niederländischen Provinz Drenthe, eine der am dünnsten besiedelten Provinzen des Landes. Tatsächlich, weitläufige Heidelandschaften, Wälder und Naturschutzgebiete prägen die Landschaft jenseits der Autobahn 28. Vries hat 4 000 Einwohnerinnen und Einwohner, mit den umliegenden Weilern. Die Bonifatiuskirche, die älteste in der Region, ist wahrscheinlich dem Heiligen Bonifatius gewidmet, aber ganz genau wissen sie das hier in Vries nicht. Sie hat an ihrem Standort viele Wandlungen erlebt, in der Reformationszeit wurde sie evangelisch.

Bert Altena, Pfarrer der Protestantse Gemeente te Vries, macht sich keine Illusionen. Er weiß, zwölf Jahrhunderte sind keine Garantie, Kirchen werden geschlossen und umgewidmet. Mittlerweile ist jede fünfte Kirche in den Niederlanden zweckentfremdet. Die Bonifatiuskirche steht mitten im Dorf und trutzt der zunehmenden Säkularisierung. Wie wappnet man sich dort, wo noch 700 Menschen zur evangelischen Kirche gehören, für die Zukunft?

Da sind zunächst die Feiern. Jeden Sonntag natürlich, aber auch ein paar Mal im Jahr. Pfarrer Altena erzählt vom Bonifatiusfest an Pfingsten, wenn im ganzen Dorf eine große Feierlichkeit mit Theater, mittelalterlichem Markt, mit Bogenschießen und einer kleinen Konferenz über Bonifatius begangen wird. Oder, wie in diesen Tagen am Ewigkeitssonntag im November, wenn das ganze Dorf eingeladen ist, die Toten zu ehren. Diese Feste seien sehr wichtig für die Gemeinschaft im Dorf. Ein anderes Beispiel: Die Kirche ist täglich von montags bis samstags geöffnet, und alle sind eingeladen, die Stille zu genießen. Selbst in Corona-Zeiten blieb sie auf.

Wie engagiert sich die evangelische Kirche für das Dorf? Darüber gibt Herma van Goor Auskunft. Die 61-Jährige ist Vorsitzende der diakonischen Arbeit der Protestantse Gemeente te Vries. Aber anders als in Deutschland, wo Diakone in Voll- oder Teilzeit von der Gemeinde bezahlt werden, ist die diakonische Arbeit der Kirchengemeinde wie überall in den Niederlanden ehrenamtlich organisiert, in Vries mit fünf Freiwilligen. Aber: „Viele Gemeindemitglieder helfen, wenn es nötig ist“, sagt Herma van Goor, die sich nun zum zweiten Mal für weitere vier Jahre für das Ehrenamt verpflichtet hat. Mit Geld aus den Kollekten werden Projekte unterstützt, weltweit und in der Gemeinde, aber auch ukrainische Flüchtlinge und solche aus Syrien, Afrika und Afghanistan. Die Freiwilligen helfen auch bei der Essenausgabe der kommunalen Gemeinde, sammeln Geld für den Einkauf frischer Produkte. Wie überall steht die Energiekrise mit ihren dramatischen Auswirkungen auf der Tagesordnung, die Inflation liegt in den Niederlanden bei über zwölf Prozent. Tendenz steigend.

Nachhaltigkeit und bunte Welt

Wie kann die Kirchengemeinde auch Teil der Dorfgemeinschaft sein? Wie kann es gelingen, den Kirchbau für die Gemeinschaft zu bewahren? „Es sind offene Fragen, auf die wir die Antworten suchen“, sagt Pfarrer Altena. Er weiß um die gesellschaftlichen Herausforderungen, die durch die zunehmende Individualisierung verstärkt werden. Dem will er eine Kirche als Treffpunkt entgegensetzen. Für die wirtschaftlich Schwachen. Für die Älteren. Für die Einsamen. Die Kirche als Haus der Gemeinschaft, offen für jedermann? „Der Heilige Geist gibt uns jeden Tag neue Einsichten, weist uns vielleicht auch neue Wege“, bemerkt er trocken.

Ein schmaler Weg führt vom Gemeindehaus an der Bonifatiuskirche vorbei an der Gaststätte Onder de Linden zu Plaats de Wereld, einem Nachbarschaftsprojekt, mit dem die Kirchengemeinde zusammenarbeitet. Die Glocken der Bonifatiuskirche läuten, während im Vortragsraum Johan Westerhof sein Projekt Plaats de Wereld vorstellt. Dort spürt man den Wandel der Zeit. Westerhof ist das, was man neudeutsch einen social entrepreneur nennt. Gemeinsam mit seiner Frau Yvonne startete er vor zehn Jahren mit einem ehrgeizigen Projekt: „Wir wollten einen Platz schaffen, wo Menschen in Kontakt zueinander treten, wo sie sich treffen, voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren können, wir wollten Kulturen und Menschen zusammenbringen“, sagt er. Nachhaltigkeit und eine bunte Welt, waren die Voraussetzungen. Egal, ob krank oder gesund, weiß oder schwarz, arm oder reich, alle können teilnehmen.

Überall am Haus finden sich Hochbeete und Töpfe mit Pflanzen, Kräutern und Blumen. Die Woche über werden sie von den Freiwilligen, wie die Besucher im Haus genannt werden, gepflegt. Diese arbeiten entweder im Garten oder in der Küche mit, fertigen in Tagesworkshops Naturstempel an, drucken Kräuter auf Textilien oder nehmen an einem Holzworkshop teil. Zwischen zehn und zwanzig Menschen kommen am Tag, um gemeinsam Zeit zu verbringen und aktiv zu sein. Meist sind es Frauen, zwischen 45 und 60 Jahren.

Das Credo von Plaats de Wereld, so erklärt es JohanWesterhof: Jeder hat etwas einzubringen, kann andere inspirieren und ist wichtig für die Gemeinschaft. Viele, die tagsüber in diesen kleinen Weltentreff kommen, leben allein. Einsamkeit ist ein Grund, sie ist aber nichts, worüber man offen spricht.

Ein Freundeskreis mit über 120 Leuten, die jährlich pro Person 100 Euro zahlen, bildet neben staatlicher Projektförderung und einem Zuschuss der protestantischen Kirche die finanzielle Grundlage. Einen Teil ihrer Einnahmen erzielen die Westerhofs auch über Beiträge für Workshops, Erlöse aus dem Verkauf von Gebasteltem und Kunsthandwerk; ein Unternehmer stellt das Gebäude zur Verfügung. 150 000 Euro standen ihnen im vergangenen Jahr zur Verfügung.

Draußen im Garten drucken zwei Frauen Gräser und Kräuter auf Textilien, Ecoprinting nennen sie das, in der Küche duftet es nach frisch gebackenem Brot. „Die meisten Menschen kommen von allein zu uns, werden durch die diakonische Arbeit der Kirchengemeinde aufmerksam oder sind direkte Nachbarn“, berichtet Westerhof. Früher habe man sich in Vries über die Kirche kennengelernt, heute übernehme Plaats de Wereld diese Aufgabe. „Es ist ein neuer Club, aber auch Teil der Gemeinschaft im Dorf.“ Er benennt den Wandel: „Noch vor zehn Jahren hat die Kirche gedacht, die Menschen müssten zu ihr kommen, doch inzwischen muss sie sich dem Dorf öffnen.“ Unterstützung bekommt er von Herma van Goor. Die kleine Bildungswerkstatt veranstalte viel, was die Kirchengemeinde auch tun sollte. Und für Pfarrer Altena ist Johan Westerhof ein Vorbild: „Sie tun, was wir predigen.“ Beide arbeiten zusammen und versuchen, die Gemeinschaft im Ort zu stimulieren. Doch die Säkularisierung schreitet voran. Altena und seine Gemeinde erproben neue Formen der Kooperation. Denn die Frage nach dem Ort der Kirche in einer zunehmend entkirchlichten Gesellschaft erwartet dringend eine Antwort. In Vries ist man gemeinsam auf der Suche.

Auch Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, ist beeindruckt von den Nachbarschaftsprojekten in den Niederlanden: Sie wirken gegen Einsamkeit und für ein solidarisches Miteinander. Dass die Kirche sich dabei aktiv betei­ligt, ist für die leitende Diakonikerin ein Muss. Sie ist überzeugt, dass die Kooperation im Sozialraum ein Zukunfts- und Erfolgsfaktor von Kirche und Diakonie sein wird. Dabei stehen Beziehungen, sei es im Meester Geerthuis in Deventer oder in Vries, im Mittelpunkt, so dass diakonisches Handeln erfahrbar werde. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"