Wir brauchen Träume und Visionen

Mit neuer Musik und dem Respekt vor dieser Kunst kann die Kirche sich wieder erneuern
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Vor 50 Jahren habe ich als Schüler einer kirchlichen Schule neue Lieder im Gottesdienst entdeckt. Es waren die Lieder von Piet Janssens, Wilhelm Willms und auch Gospels. Der Gottesdienst wurde für mich zu einem bewegenden Erlebnis. Die Lieder waren das „Highlight“. Sie haben von dem gesungen, was mich bewegt und begeistert hat. „Die Sache Jesu braucht Begeisterte, er macht uns frei, damit wir einander befreien“; „Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme“, „Entdeck bei dir, entdeck bei mir den ersten Schritt, der weiterführt, den ersten Schritt zum Leben“. Es waren Lieder, die mit Leidenschaft das Leben suchten, die das Politische und das Therapeutische mit dem Glauben verwoben.

Die Faszination für die Rhythmen und Texte hat nie wieder wirklich nachgelassen. Beruflich habe ich mich dann mit christlicher Popularmusik beschäftigen können. Da merkte ich, dass diese Lieder nicht richtig Einzug gehalten haben in die Liturgie.

Ich nehme wahr, dass die Kirche(n) als Mütter der Künste aus der Gleichgültigkeit nicht herausgekommen sind. Lieder im Gottesdienst werden oft als „Unterbrechung“ gesehen und nicht als Verdichtung von Botschaften. Selten findet sich in den Kirchen jene Überzeugung, die in der Musik einen unverzichtbaren Partner der Verkündigung sieht. Auch die Kirchenräume haben bis heute keinen Platz für eine Band, sie sind immer „unplatziert“ im Gottesdienstraum. Das Neue Geistliche Lied (NGL) wird mancherorts immer noch als „Störfall“ in der Liturgie erlebt.

Es scheint mir auch das allgemeine religiöse Wissen zu versiegen, das in aller Kirchenmusik deren substanzielle Vielschichtigkeit und Bedeutung zu erkennen vermag. Die christliche Popularkirchenmusik ist vielerorts auf dem Niveau des Straßenfußballes. Die Liturgen billigen dieser Musik Amateurstatus zu. Es gibt wenig Förderung, Ausbildung, Weiterentwicklung und Geld.

Wir brauchen Kirchen, die Orte sind, in denen eine neugierige und offene Zuhörerschaft anzutreffen ist. Doch zu oft erlebe ich die Kirche als Ort der Bestätigung und der Festigung von Altbekanntem. Es ist sicher schwer, dass das Neue, das Experimentelle, das noch nicht Etablierte im Rahmen einer Intuition stattfindet, die auf das Bewahren, auf Tradition und auf Rituale ausgerichtet ist. Wir sollten meinen, das NGL, die Popularkirchenmusik, sei mit den Jahren erwachsen geworden. Dies sollte sich auch in den kirchlichen Strukturen abbilden, doch leider ist dem nicht so.

Wenn ich als Gemeindemitglied nichts mehr mit lateinischer Sprache, mit klassischer Musik zu tun habe, dann finde ich mich in einem Gottesdienst nicht mehr wieder. Viele suchen Musik mit einer Sprache, auch der Musiksprache, die eine heutige ist. Das NGL ist heute genauso vielfältig, wie es die Dichter*innen und Komponisten*innen, die Gläubigen und Kirchengemeinden sind.

Es braucht mehr Mut, sich überhaupt an Popularmusik heranzutrauen. Dazu müssen sich die Liturgen auch von „immer gleichen“ lösen. Angesicht des knappen Personals in den Kirchen braucht es Gemeinden, die auch ohne Priester und Pfarrer*innen Gottesdienste auf die Beine stellen. Ein Chor, eine Band und die musikalischen Kräfte einer Gemeinde können sich zusammenfinden, um eine moderne Vesper, einen Evensong oder eine Komplet zu gestalten, und das alles mit ihrem Repertoire, mit ihren Ressourcen und mit ihren Begabungen.

Auch nach 50 Jahren NGL brauchen wir Träume und Visionen. Wo immer Menschen aufhören zu träumen, kommt es zu Stillstand. Wir sind dann in unserem subjektiven Handeln so sehr gefangen, dass es nicht weitergeht. Mit neuer Musik und dem Respekt vor dieser Kunst kann die Kirche sich wieder erneuern. In der Fülle der neuen Lieder gibt es einen großen Schatz an schlichtem, aber kunstvollem NGL, das allen kirchlichen Ansprüchen genügt.

Im NGL finden sich Lieder mit einer stilistischen Vielfalt, die mit der gesamten Gemeinde in Gottesdiensten und anderen Gemeindeveranstaltungen gesungen werden können. Wir benötigen immerfort Texte und Lieder, die das Evangelium in eine neue kulturelle Wirklichkeit übersetzen. Um diesen Schatz zu heben, braucht es sachkundige Kirchenmusiker*innen und Liturg*innen mit einem geschulten Blick für niveauvolle Kompositionen mit geeigneten Texten.

Die Kirchen müssen die strukturelle Voraussetzung schaffen, dass diese Musik es vom Straßenfußball mindestens in die Regionalliga schafft. Dazu brauchen Bands einen Platz und Technik im Gottesdienstraum, Chöre zeitgemäße Noten, Musiker*innen Ausbildungsmöglichketen in Popularmusik sowie die Kirchengemeinden ein Mitspracherecht bei der Liedauswahl.

Dann haben wir Musik im Gottesdienst, die einen Bezug zu den Menschen hat, die begeistert, berührt, aktiviert und wach macht.


 

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Patrick Dehm

Patrick Dehm ist Theologe, Verleger, Vorsitzender des Ökumenischen Vereins inTAKT e. V. zur Förderung des Neuen Geistlichen Liedes (NGL), und  von Kunst sowie Vorstandsmitglied des Verbandes für Christliche Popularmusik in den Diözesen Deutschlands (VCPD).


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