Weiterdenken

Ethik der Digitalisierung

Dass sich die Theologie auf profunde Weise mit den Dynamiken digitaler Kultur befasst, ist an der Zeit. In den – nicht zuletzt durch die kirchlich-digitale Praxis seit Corona – intensiver werdenden Diskurs fügt sich Wolfgang Hubers Band auf orientierende Weise ein. Seine sorgsam abwägende Selbstpositionierung jenseits von „Euphorie und Apokalypse“ ist angesichts der komplexen Sachlage sowie vor dem Hintergrund einer lange gepflegten protestantisch-kirchlichen Technikskepsis überzeugend.

In acht wohltemperierten Abschnitten wird das weite Feld abgeschritten. In den Blick kommen gesellschaftliche und alltägliche Phänomene des digitalen Zeitalters, damit einhergehende Chancen sowie insbesondere die Risiken eines umfassenden Realitäts-, Wahrheits- und Leiblichkeitsverlusts. Thematisiert werden An- und Zumutungen künstlicher Intelligenz und eines sich überhebenden, unmenschlichen Geltungsanspruchs trans- und posthumanistischer Zukunftsvisionen. Eindrücklich werden dafür die wesentlichen Stimmen zum gegenwärtigen Wohl und Wehe einer Kultur der Digitalität aufgerufen. In der Perspektive eines „kritischen Humanismus“ mit Bezug auf das „Prinzip vorausschauender Vorsicht“ sowie auf den „Vorrang des Nichtschädigens“ benennt Huber wesentliche Kriterien ethischer Urteilsbildung. Indem er die Verantwortungsebenen des Einzelnen, der Plattformanbieter sowie der staatlichen Rechtsordnung unterscheidet, wird die Beweislast für eine menschengemäße Praxis zurecht nicht einseitig einer Instanz allein zugeschoben: „[P]ersönliche Vergebungsbereitschaft reicht nicht aus.“ Und ja, eine Ethik der Digitalisierung hat zuallererst mit dem Bild zu tun, das wir uns vom Menschen machen. Bis hierin entspricht sein Plädoyer dem, was man im aktuellen Diskurs an Problemanzeigen, Warnhinweisen und ethischen Einsichten formuliert findet.

Davon ausgehend bringt Huber aber dann diese verantwortungsethische Perspektive in dezidiert theologischer Weise zum Klingen. Die Betonung der Würde des Menschen und menschlicher Beziehungsfähigkeit wird von der Gott-Mensch-Beziehung her und im Licht der „Ehrfurcht vor dem Heiligen“ durchsichtig gemacht: „Gott steht für eine Beziehung zur Realität“, die eine digital befeuerte instrumentelle Beziehungskultur transzendiert. Dieser Argumentationskern konkretisiert sich besonders deutlich an der Auseinandersetzung mit Yuval Hararis Homo-deus-Verheißung. Dieser stellt Huber die versöhnungs- und barmherzigkeitsorientierte Vorstellung des „deus homo, des Gottes, der Mensch wird“ gegenüber, beziehungsweise entgegen. Die Orientierungsfunktion theologischer Ethik wird so plausibel vor Augen geführt.

Es zeigen sich aber auch Spuren eines etwas überfliegenden Deutungsgestus. Möglicherweise werden der menschlichen Urteilskraft und Mündigkeit der „Prosumenten“ im Blick auf die Gefahren digitaler Selbstüberschätzung allzu wenig zugetraut. Die Unterscheidung von analoger und digitaler Realität dürfte feiner ausfallen: Inwiefern erfahren die für die analogen Lebenswelten in Anschlag gebrachten Begriffe von Leiblichkeit und Bewusstsein bereits hybride Formierungen, die durchaus Freiheitsspielraum eröffnen? Was wird sein, wenn die analoge Wesenhaftigkeit des Menschen in der keineswegs ganz fernen Metaversum-Möglichkeit digitale Wesensbegehrlichkeiten imaginiert – und dies womöglich in bester empathischer und lebensdienlicher Absicht?

Dass Huber – abgesehen von eingestreuten Hinweisen auf die Notwendigkeit religiöser Bildung – kaum auf die gegenwärtig intensiv erprobten digitalen kirchlichen Praktiken eingeht, erstaunt angesichts der von ihm betonten „Stärkung der Urteilskraft“. Konkrete Verantwortungsübernahme angesichts der sich abzeichnenden „Gefahr der Selbstaufgabe des Menschen“ ist für den kirchlichen Kontext viel genauer durchzubuchstabieren. Zudem ist zu bedenken, wie sich der theologische Deutungsanspruch digitaler Dynamiken zur immer begründungsbedürftiger werdenden öffentlichen Bedeutung von Kirche und Theologie überhaupt ins Verhältnis setzt. Die rasanten digitalen Entwicklungen stellen die Theologie – in ihrem gesamten akademischen Fächerkanon – überhaupt vor die Relevanzfrage. Hubers theologische Reflexion der komplexen Digitalisierungsdynamiken und der damit verbundenen Verantwortungsaufgaben regt hier unbedingt zum Weiterdenken an.

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