Die Hamburger Reformerin Amalie Sieveking (1794–1859) war eine frühe Verfechterin für eine bessere Schul- und Berufsbildung für Mädchen und Frauen. Sie trat zudem für eine „christliche Emanzipation“ der (bürgerlichen) Frauen ein, die sie aus der Beschränkung auf ein Leben als Ehefrau und auf das Haus und den Haushalt herausholen wollte.

Amalie Sieveking wurde im Jahr 1794 als Tochter eines Hamburgischen Kaufmanns geboren. Schon früh verlor sie ihre beiden Eltern, wurde 1809 zur Waise. Der Vater hatte vorher sein gesamtes Vermögen verloren. Sie lebte danach zur Untermiete bei einer älteren Frau, ab 1811 bei einer Cousine der Mutter. Erschüttert hatte sie 1817 der Tod ihres 1795 geborenen Bruders Gustav, der seit 1816 in Leipzig, seit 1817 in Berlin Theologie studiert hatte. Ihr anderer Bruder lebte seit 1809 in London. Sie erhielt zwar eine kleine Pension aus einem öffentlichen Fonds für Senatorentöchter, musste aber zusätzlich durch Stickereien etwas dazuverdienen. Für sie bedeutete Sticken Zeitvergeudung. Das Abholen und Abliefern dieser Handarbeiten in den Läden empfand sie als Demütigung.

Schon früh begann sie mit eigener Unterrichtstätigkeit: Ab 1813 unterrichtete sie sechs Mädchen aus ihrem Bekanntenkreis und gründete 1816 eine kleine Freischule für arme Mädchen, die bis 1858 bestand. Rationalistisch geprägt wandte sie sich mehr und mehr der Erweckungsbewegung zu. Das schlug sich auch in Veröffentlichungen nieder: 1823 erschienen anonym ihre „Betrachtungen über einzelne Abschnitte der Hl. Schrift“, 1827 ihre „Beschäftigungen mit der Hl. Schrift“. Sie selbst verstand sich als eine „rationalistische Mystikerin“, was bedeutete, dass sie von einer göttlichen Offenbarung ausgehend – die „mystisch“, das heißt transrational erfasst werden musste – diese als mit Klarheit und logischer Ordnung der Begriffe überein bringen konnte. Die Idee der Gründung einer barmherzigen Schwesternschaft nach katholischem Vorbild beschäftigte sie; sie kam aber nicht zur Verwirklichung.

Christliche Seelen

Während der Choleraepidemie in Hamburg im Jahr 1831 veröffentlichte sie einen „Aufruf an christliche Seelen“, in dem sie zur Mitarbeit im Krankenhaus aufforderte. Niemand meldete sich, sie selber ging ab Oktober 1831 alleine ans St. Ericus-Hospital und widmete sich unentgeltlich acht Wochen der Krankenpflege. Sie erwarb sich schnell die Anerkennung der Ärzte und erhielt die Oberaufsicht über die männlichen Kranken und Pfleger. Am 23. Mai 1831 konstituierte sich ihr Verein für Weibliche Armen- und Krankenpflege, der aus dreizehn Mitarbeiterinnen bestand. Als Zweck des Vereins wurde angegeben: „Besuch der armen Kranken in ihren Wohnungen, eine genauere Beaufsichtigung derselben, als solche der allgemeinen Armenordnung möglich ist, Sorge für Ordnung und Reinlichkeit und alles Uebrige, wodurch ihnen geistig und leiblich aufgeholfen werden kann.“

Die Mitarbeiterinnen waren vornehmlich in der Hauskrankenpflege tätig. Sie vermittelten aber auch Wohnungen oder halfen durch Naturalspenden. Amalie Sieveking sah die bürgerlichen Frauen durch ihre eigene Privilegierung als moralisch verpflichtet an, Frauen in schlechter gestellten Verhältnissen zu unterstützen. Sie war die erste bürgerliche Frau, die sich der sozialen Probleme in dieser Weise planmäßig annahm. Ihr Anliegen war es, sinnvolle Tätigkeitsmöglichkeiten für unverheiratete Frauen und verheiratete Frauen aus bürgerlichen Schichten zu schaffen, um damit Frauen aus unteren sozialen Schichten beistehen zu können. Sie hielt hingegen nichts von den emanzipatorischen Zielen der liberalen Frauenbewegung, von der sie sich abgrenzte.

Die Mitglieder des Vereins trafen sich wöchentlich zu Beratungen. Waren es 1835 erst 35 Mitglieder, so waren es 1857 schon achtzig, so dass auch die Zahl der Krankenbesuche erhöht werden konnte. Jedes Mitglied betreute zwei bis drei Familien. Ein zentrales Anliegen des Vereins war es, Arbeitslosen wieder Arbeit zu verschaffen. Der Verein wurde Vorbild für zahlreiche Gründungen auch in anderen Städten wie Lübeck, Bremen, Celle, Hannover, Bonn. Auf Vortragsreisen erläuterte Amalie Sieveking die Ziele ihres Vereins und machte Werbung.

1837 fragte Theodor Fliedner (1800–1864) nach ihr als Vorsteherin seiner Kaiserswerther Diakonissenanstalt. Sie lehnte ab. Im selben Jahr konnte der Verein mit dem Bau von Armenwohnungen beginnen. Der Hamburger Rat stellte dafür Baugelände zur Verfügung und im Jahr 1840 konnte das „Amalienstift“ eingeweiht werden. 1845 wurden weitere Gebäude errichtet. 1839 lernte sie während eines Englandaufenthaltes Elisabeth Fry (1780–1845) kennen, und damit die Quäkerin, die sich innerhalb Europas entscheidend für zumutbare Verhältnisse in (Frauen-)Gefängnissen und eine geistliche Gefangenenbetreuung sowie Weiterbildung der Gefangenen einsetzte.

1841 schrieb Amalie Sieveking eine Instruktion für Armenpflegerinnen, in der man sehen kann, dass die basale Motivation ihres Handelns christlich gespeist war – diese Haltung erwartete sie auch von ihren Vereinsmitgliedern:

„Es sei in ihr eine lebendige Überzeugung des Glaubens, des christlichen Glaubens, der sich stützt auf das geoffenbarte Wort Gottes, der sich hält an den, den er nicht sieht (...) der die Nachfolge Jesu für seine höchste Bestimmung hält, und die daran geknüpfte tägliche Selbstverleugnung mit Freuden übt, der in der Liebe tätig ist, nicht um durch sogenannte gute Werke seine Seligkeit sich zu verdienen, wie der Taglöhner seinen Taglohn durch die saure Arbeit des Tages, sondern weil ihn die Liebe Christi also dringet, daß er nimmer anders kann.“

Zur christlichen Gesinnung kam die entsprechende schlichte Kleidung, die die Armenpflegerin anziehen sollte. Statt Schmuck zu kaufen, sollte sie das Ersparte eines bescheidenen Lebensstils in die Armenkasse fließen lassen. Ordnung und Pünktlichkeit sowie die Führung eines Berichtsheftes gehörten zur Ausübung selbstverständlich dazu. Als man Amalie Sieveking im Jahr 1843 antrug, den Verein unter männliche Oberaufsicht zu stellen, schrieb sie kühl zurück: „Das Bedürfnis, einen Mann an die Spitze des Ganzen zu stellen, wird, das glaube ich sagen zu müssen, von uns nicht empfunden.“ 1843 fragte Fliedner erneut an, ob sie die Oberaufsicht eines in Berlin zu errichtenden Mutterhauses übernehmen wollte – sie verwies ihn an ihre Schülerin Caroline Bertheau, der Fliedner mit dem Angebot der Stelle parallel einen Heiratsantrag machte, den Caroline annahm.

1846 wurde ihr die Leitung des neuerbauten Krankenhauses Bethanien angeboten. Sie lehnte wiederum ab. Sie unterrichtete nun auch noch Religion an einem neu gegründeten Institut für Erzieherinnen. 1850 erschien ihr „Aufruf an die christlichen Frauen und Jungfrauen Deutschlands“, in dem sie bürgerliche verheiratete und unverheiratete Frauen moralisch verpflichten wollte, eine Fürsorgetätigkeit aufzunehmen. Obwohl sie selbstverständlich keine „antichristliche“ (gemeint ist kommunistische) Emanzipation der Frau befürwortete, kam sie nicht umhin, die Rolle der Gattin, Hausfrau und Mutter einer kräftigen Revision zu unterwerfen. Sie kritisierte den Mangel an „geregelter Tätigkeit“ und das Vergeuden kostbarer Zeit mit der Beschäftigung mit Kleidung, Handarbeiten und Romanlektüre. Sie trat für eine vernünftige Organisation der Hausarbeit ein, die dann auch Zeit für karitative Tätigkeiten ließ. Statt Handarbeit wünschte Amalie Sieveking, dass die Frauen sich „höheren, geistigen Interessen“ zuwenden:

„Die Hauptsachen wären etwa folgende: Beschäftigung mit göttlichen Dingen, verständige Leitung des Hauswesens, ins Detail eingehend, wenn die beschränkten Verhältnisse des Mannes es erfordern, bei höherer Stellung desselben wird es nur eine Oberaufsicht sein müssen (...), Ausbildung des Geistes, damit die Frau dem gebildeten Manne mehr sein könne, als bloße Haushälterin oder gar nur seine Spielpuppe, damit sie fähig sei, die Interessen seines Berufes zu teilen, und um ihm eine Gehilfin zu sein im schönsten Sinne des Wortes, damit ihre Unterhaltung ihm eine Erholung gewähre von seinen ernsten Geschäften und Sorgen, Auferziehung der Kinder in der Zucht und Vermahnung zum Herrn, und endlich Beteiligung an irgend einer gemeinnützigen Wirksamkeit.“

Geschickt verband sie so die Forderung nach mehr religiöser Bildung für die Frauen mit den Vorteilen, die eine solche Ausbildung für jeden verständigen Ehemann haben würde. Sie entkräftete damit zugleich den Vorwurf, dass sie die Frau „dem häuslichen Wirkungskreise entfremden“ wolle.

1855 veröffentlichte sie weitere Bibel-auslegungen, nämlich die „Unterhaltungen über einzelne Abschnitte der Heiligen Schrift“ – ihr theologisches Engagement und Interesse waren ungebrochen geblieben, obwohl ihre ersten (laien-)theologischen Veröffentlichungen von dem Lutheraner Ernst Wilhelm Hengstenberg in der konservativen evangelischen Kirchenzeitung heftig angegriffen worden waren. In ihrer neuen Auslegung äußerte sie deutliche Skepsis gegenüber dem Theologiestudium und forderte stattdessen im Gefolge von Philipp Spener und August Francke die Übung in „praktischer Gottseligkeit“. Über die Bibelauslegungen hinaus lässt der Text erkennen, wie belesen und intellektuell interessiert Amalie Sieveking war: Sie nannte Theodor Gottfried Hippel (der für „die bürgerliche Verbesserung des Weibes“ plädiert hatte) und Rousseaus Emile. Als „Vermächtnis“ an ihre jungen Freundinnen fügte sie im Schlussteil ihres Buches nochmals Ermahnungen an, die Frauen möchten ihre Zeit sinnvoll, mit tüchtiger Berufstätigkeit ausfüllen und kritisierte die bisherige Mädchenschulbildung:

„Aber da meine ich nun, daß für die Entwickelung der Intelligenz bei unserem Geschlechte oft zu wenig geschieht. Woher sonst bei den Frauen oft so viel Mangel an Logik, so viel Unklarheit und Verwirrung der Begriffe?“

Veredelung der Frauen

Diese durch ihre unterrichtliche Erfahrung gesättigte Wahrnehmung paarte sich mit einer weiteren Beobachtung, die das Sendungsbewusstsein Amalie Sievekings deutlich werden lässet:

„Ich war noch jung, als mich schon manchmal der Anblick der bei so Vielen unsers Geschlechts vorherrschenden Frivolität, des Mangels an höheren Interessen tief betrübte, und ich wagte es zu glauben, daß der Herr mich bestimmt, für die Veredlung meines Geschlechts zu wirken.“

Nach einem Englandaufenthalt im Jahr 1855 zog sie sich ein Lungenleiden zu, an dessen Folgen sie am 1. April 1859 starb. Sie erhielt auf eigenen Wunsch ein Armenbegräbnis und wurde unter großer Beteiligung der Bevölkerung auf dem Hammer Friedhof bestattet. Sie hinterließ einen konsolidierten Verein. Es war ihr erfolgreich gelungen, die Handlungsfelder bürgerlicher Frauen zu erweitern, die sich für ihre weniger privilegierten Schwestern des Arbeiterstandes engagierten. Ein „Spielpuppendasein“, das der Zerstreuung und dem Vergnügen gewidmet war, wenn andere der Hilfe bedurften, ließ sich mit Amalie Sievekings hohen ethischen Ansprüchen an das Christentum nicht rechtfertigen. Sie unterminierte damit erfolgreich Weiblichkeitsvorstellungen des Bürgertums.

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