Mehr als Bach und Baukultur

Warum wir Protestanten in entscheidenden Momenten kulturlos sind
Foto: Jule Roehr

Kirchen und Kirchentag fremdeln mit Kultur im weiteren Sinne. Dabei ist sie die Schlüssel zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.

Spannende Diskussionen, hitzige Debatten zu allen möglichen wichtigen gesellschaftlichen Themen fanden beim diesjährigen Evangelischen Kirchentag rund um die Westfalenhalle statt. Doch die „Kulturkirche“ war im Norden Dortmunds, mehr als eine halbe Stunde Fahrzeit entfernt, untergebracht worden. Hier wurden die Diskussionen in einem sehr überschaubaren Kreis geführt. Als Mitglied des Projektleitungsteams Zentrum Kulturkirche des Kirchentages bin ich für diese missliche Situation mitverantwortlich und auch deshalb sage ich: So kann es nicht weitergehen!

Beim Kirchentag in Berlin waren vier Kirchen zu Kulturkirchen umgewandelt worden. Trotzdem wurden die wichtigen gesellschaftlichen Debatten auch damals ohne die Einbindung der Kulturschaffenden auf dem Berliner Messegelände geführt. In Dortmund verzichtete man gänzlich auf eine Kulturkirche im klassischen Sinn und brachte die Kultur in einem ehemaligen Straßenbahndepot unter, das schon vor Jahren in ein soziokulturelles Zentrum umgewandelt worden war.

Nicht nur der Evangelische Kirchentag, die Kirchen insgesamt, evangelisch wie katholisch, tun sich schwer mit den Künstlerinnen und Künstlern. Der Grund liegt möglicherweise in der Eigenheit des Künstlerseins. Hans Maier hat dies in seinem Büchlein Die Kirche und die Kunst treffend beschrieben: „Dem Künstler liegt nun einmal oft das Merkwürdige und Seltene mehr als das allen Gemeinsame. Viele Menschen wollen gerne gemeinsam etwas tun, der Künstler dagegen ist ein Einzelner, er will sich abheben, will exzellieren, sich auszeichnen.“ Das ist seine Stärke, das lässt ihn manchmal über scheinbar unüberwindliche Grenzen hinweg denken, dass macht ihn aber auch schwer einbindbar in klassische politische Diskurse. Doch würde dieses Alleinstellungsmerkmal der Künstler uns nicht auch die Chance geben, festgefahrene Debatten aufzubrechen?

Dieses Fehlen von echten Kulturdebatten, unter der Einbeziehung von Künstlerinnen und Künstlern, inmitten der Debattencamps auf den Kirchentagen ist nicht nur bedauerlich für den kulturellen Diskurs, es beeinträchtigt auch nachhaltig die Diskussionen in den anderen Bereichen. Wie kann man zum Beispiel heute über Maßnahmen gegen den Klimawandel sprechen, ohne die kulturelle Dimension mit zu denken?. Wir haben beim Klimawandel schon längst kein Erkenntnisproblem mehr, aber ein massives Umsetzungsproblem. Gesellschaftliche Änderungen hin zu mehr nachhaltigem Leben sind aber nur durch einen kulturellen Wandel möglich. Die Kultur ist der Schlüssel oder der nachhaltige Verhinderer von gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Wo wird der Widerstand in unserer Gesellschaft gegen Veränderung deutlicher als bei der Migrationsdebatte? Integration bedeutet, die Aufnahme von Immigranten in ein bestehendes Kultur- und Sozialgefüge. Doch was ist unser Kulturgefüge? Goethe, Schiller, Christentum, Aufklärung, das Nibelungenlied, Kunstfreiheit, Shermin Langhoff, Georg Baselitz, Andrea Berg …? Wir werden uns über unser Kulturgefüge, das weit mehr als ein Kanon ist, verständigen müssen, so schwer uns das auch fällt. Und diese Verständigung ist in erster Linie in einer (überfälligen) Kulturdebatte zu finden.

Die UNESCO-Weltkonferenz zur Kulturpolitik hat 1982 in Mexiko den erweiterten Kulturbegriff vorgestellt, der feststellt, dass „die Kultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“

Kultur ist eben nicht nur Musik, Literatur, Film und Baukultur, sondern es geht immer auch um Werte, Traditionen und natürlich auch Religion. Die Kirchen, wie auch die Kirchentage, fremdeln mit Kultur in diesem erweiterten Begriff und wohl auch mit der Eigenwilligkeit der Künstlerinnen und Künstler. Nur so ist für mich zu erklären, warum auf dem Kirchentag in Dortmund die Kultur nicht in einem Zelt neben den anderen Themenbereich angesiedelt war oder zumindest als eine deutliche Querschnittaufgabe der verschiedenen Themenräumen unter Beteiligung von Künstlerinnen und Künstler aufgenommen wurde.

Der ökumenische Kirchentag in Frankfurt 2021 könnte eine neue Verortung der Kulturdebatte und mit ihr der Künstlerinnen und Künstler in den Kirchentag ermöglichen und damit auch deutlich Wirkung auf die beiden Kirchen ausüben. Die Kultur braucht keine speziellen Kirchen, keine exklusiven Orte. Die Kultur und die Künstler brauchen die Einbindung ins Innere der Kirchentage und das Innere der Kirchen.

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