Rechtsstaat unter Beschuss

Warum der Protestantismus jetzt gefordert ist
Foto: dpa/ropi
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Argumentierte bei ihrer Einfahrt in den Hafen von Lampedusa stets streng mit dem Seerecht:
Carola Rackete, Kapitänin der „Sea Watch 3“.

Der Druck auf das Kirchenasyl könnte Vorbote zunehmender Konflikte zwischen Justiz und Kirche sein, meint der langjährige ARD-Hauptstadtkorrespondent Arnd Henze. Er warnt jedoch vor einer pauschalen Abwertung des Rechts im Namen einer höheren Gerechtigkeit. Denn nicht zuletzt die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete habe bewiesen, dass Vertrauen in
den Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen.

Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen, Strafbefehle: Gemeinden, die Geflüchteten Kirchenasyl gewähren, geraten zunehmend unter Druck. Eine im Jahr 2015 zwischen den Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge getroffene Vereinbarung besteht nur noch auf dem Papier, seit die darin verabredete Härtefallprüfung praktisch kaum noch zu Korrekturen bei ablehnenden Asylbescheiden führt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) folgt ganz offensichtlich der Selbstbeschreibung seines neuen Chefs Hans-Eckhard Sommer: „Ich bin ein Hardliner.“

Wo einvernehmliche Lösungen nicht mehr möglich sind, verlagert sich die Auseinandersetzung um Abschiebungen auch für die betroffenen Gemeinden zunehmend ins Juristische. Damit trifft der humanitäre Anspruch der Flüchtlingshilfe auf abstrakte Strafbarkeitsnormen wie die „Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt“. Im bayerischen Immenstadt führte das zu einem Strafbefehl über 4 000 Euro, im Hunsrück zur Durchsuchung von fünf Pfarrhäusern und Gemeindebüros und in vielen anderen Gemeinden zu Verunsicherung und Einschüchterung.

Was im Moment noch Einzelfälle sind, könnte bald Alltag werden – zumal auch das kirchliche Engagement für die Seenotrettung im Mittelmeer unter massivem Druck des italienischen Innenministers Salvini steht. Was also, wenn demnächst auch kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unter Anklage gestellt werden – so wie heute schon Carola Rackete, die Kapitänin der „Sea Watch 3“?

Die Frage richtet sich nicht nur an Kirchenleitungen und Hausjuristen. Für die ist klar: Betroffene Landeskirchen haben ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bisher durchweg Rechtsschutz zugesichert und setzen auf den Rechtsweg. Bisher mit Erfolg: Im Hunsrück wurden die Durchsuchungen vom zuständigen Landgericht für rechtswidrig erklärt. Auch in Bayern spricht einiges dafür, dass der Strafbefehl gegen den Pfarrer von Immenstadt keinen Bestand haben wird. Und Carola Rackete bekam unmittelbar nach der Landung in Lampedusa einen Freispruch erster Klasse.

Es lohnt also, genauer hinzuschauen und vor allem den Streit um das Recht nicht mit einer pauschalen Abwertung des Rechts im Namen einer höheren Gerechtigkeit zu schwächen. Denn es nützt niemandem, wenn Indifferenz und fehlendes Vertrauen gegenüber dem Rechtsstaat mit moralisierendem Pathos und dem Anspruch auf ein „höheres Recht“ ersetzt werden.

Das ist ein schmaler Grat: Fast fünfhundert Menschen beteiligten sich in Kempten an einer Demonstration gegen die Kriminalisierung des Kirchenasyls. Ein starkes und notwendiges Zeichen der Solidarität mit dem Pfarrer, dem das Amtsgericht Sonthofen den Strafbefehl zugestellt hatte. Doch welche Botschaft sollte der „Schwarze Block“ an der Spitze des Zuges setzen: fast fünfzig Pfarrerinnen und Pfarrer im Talar? Ganz abgesehen davon, dass Kirchenasyle nicht von Geistlichen, sondern von den überwiegend ehrenamtlichen Gemeindevorständen beschlossen werden – die geballte Amtstracht insinuierte, dass sich der Strafbefehl nicht gegen das zivilgesellschaftliche Engagement der Kirche, sondern unmittelbar gegen den Willen Gottes richte. Die Quittung findet man exemplarisch auf der Kommentarseite des Bayerischen Rundfunks: Nahezu ausnahmslos wird die Klerikalisierung des Protestes als anmaßend zurückgewiesen: „Das Recht gilt auch für Pfarrer.“

Dem Recht Raum schaffen

Gegen die Wucht von Bildern demonstrierender Pfarrer im Talar findet die ebenso abgewogene wie besonnene Rechtsposition der Kirchen kaum Gehör. Denn die Grundlage des Kirchenasyls besteht ja gerade nicht in der Bestreitung des Rechtswegs, sondern im Bemühen, dem Rechtsstaat Raum zu schaffen, Irrtümer und Härten zu vermeiden oder zu korrigieren. Das Problem: Diese nüchterne Wertschätzung gegenüber dem Recht spricht zwar den Kopf, aber nicht das Bauchgefühl im Protestantismus an. Die Sprache der Predigt steht dem Pathos der Moral näher als der Prosa des Rechts. Umso mehr, als Indifferenz und mangelndes Vertrauen in den Rechtsstaat tief in der dna des Protestantismus verwurzelt sind. Über Jahrhunderte hat vor allem das Luthertum das Recht nur als Schwertamt der Obrigkeit begriffen – sowohl im zutiefst pessimistischen Menschenbild der Zwei-Reiche-Lehre, als auch im Triumphalismus einer Theologie, die den Staat als Schöpfungsordnung idealisierte. Das Recht war in der Verfügungsgewalt der Obrigkeit – statt ihr als kritisches Korrektiv und Machtbegrenzung gegenüber zu stehen.

Dieses autoritäre Staatsverständnis hat den Protestantismus auch nach 1945 noch lange geprägt. Erst in den Sechzigerjahren hat sich in den Kirchen das Bewusstsein durchgesetzt, dass der demokratische Rechtsstaat nicht durch die obrigkeitliche Macht des Staates, sondern durch den Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger – und vor allem der Schwächeren –
gegenüber dem Staat definiert ist. Es waren Einzelne, die für diese Versöhnung von Protestantismus und Rechtsstaat gestritten haben: Kaum einer war dabei so prägend wie Gustav Heinemann (1899 – 1976), der als Justizminister der Großen Koalition zwischen 1966 und 1969 den mündigen Bürger ins Zentrum einer umfassenden Reform von Straf- und Zivilrecht stellte und später als Bundespräsident dazu aufrief, mehr Demokratie zu wagen.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren waren es dann die Bundesverfassungsrichter Ernst Benda (1925 – 2009) und Helmut Simon (1922 – 2013), die auch in ihrer späteren Rolle als Kirchentagspräsidenten für die Menschenfreundlichkeit des Rechts warben. Von Simon stammt die bis heute pointierteste Definition der Rolle des Rechts im demokratischen Staat: „Wer wenig hat im Leben, soll viel Recht haben.“

Wer Helmut Simon auf Kirchentagen erleben durfte, bekam einen Eindruck von der Leidenschaft für das Recht – gerade dort, wo es die Poesie ethischer Bekenntnisse mit der Prosa juristischer Präzision verbindet. So wäre schon im ersten Artikel des Grundgesetzes das großartige Bekenntnis zur Unantastbarkeit der menschlichen Würde ohne die strenge Unbedingtheit des zweiten Satz kaum einklagbar: „Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe jeder staatlichen Gewalt.“

Tatsächlich verdanken wir viele liberale und soziale Errungenschaften unserer offenen Gesellschaft nicht der Politik, sondern dem Bundesverfassungsgericht, das den abstrakten Schatz der Grundrechte immer wieder in die konkrete Münze des alltäglichen Rechts eingelöst hat. Ob Demonstrationsrecht, Datenschutz, Gleichstellung von Schwulen und Lesben oder Sozialleistungen für Geflüchtete – wo Gesetzgeber und Behörden dem Druck politischer Stimmungen nachgeben wollten, haben die Karlsruher Richter die Schutzrechte gegenüber dem Staat stetig gestärkt.

Die immer wieder offensichtliche Spannung zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit dokumentiert dabei nicht das Versagen des Rechtsstaats, sondern nimmt Politik, Zivilgesellschaft und Justiz gemeinsam in die Pflicht. Denn auch das gehört zum Recht: Es weiß um die Fehlerhaftigkeit und Vorläufigkeit menschlichen Handelns und zeigt gerade darin eine große Nähe zum christlichen Menschenbild. Freilich nicht mehr im Sinne des pessimistischen Menschenbildes der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, sondern als Gestaltungsrahmen im säkularen Raum der „vorletzten Dinge“. Der unter Heinemann eingeleitete Paradigmenwechsel im Strafrecht – Resozialisierung statt Rache – folgt diesem Anspruch ebenso wie das aufwendige System der Selbstkorrektur durch Revisions- und Berufungsinstanzen.

Seit 1970 hat das Bundesverfassungsgericht die angelsächsische Tradition übernommen, auch Minderheitenvoten zu veröffentlichen. Ganz in dieser Tradition begegnet das Verfassungsgericht auch dem zivilen Ungehorsam mit großer Wertschätzung und schafft damit einen Raum, in dem auch das Kirchenasyl nicht als rechtsfreier Raum, sondern als Ringen um das Recht seinen Platz findet.

Denn auch das gehört zum Recht: das Wissen, dass das juristisch Geregelte nicht immer dem einzelnen Menschen gerecht werden kann. Das jahrhundertealte Kirchenasyl hat nach diesem Verständnis einen ähnlichen Bedeutungswandel erfahren wie das Gnadenrecht. So wie sich die Begnadigung vom Privileg obrigkeitlicher Souveränität („Gnade vor Recht“) zum transparent geregelten Korrektiv im Strafrecht („Gnade im Recht“) gewandelt hat, so begründet auch das Kirchenasyl keine extralegale Souveränität der Kirche mehr, sondern bietet ein Instrument zur Vermeidung irreversibler Härten im Asylrecht.

Das Drängen auf verkürzte Abschiebeverfahren und die faktische Aufkündigung der Vereinbarungen über das Kirchenasyl sind deshalb auch ein Indiz dafür, dass das Bewusstsein für die Fehleranfälligkeit rechtlicher Entscheidungen auf staatlicher Seite insgesamt schwindet. Umso schmerzlicher fehlen heute Stimmen, die dem Druck der Exekutive die menschenfreundliche Autonomie des Rechts mit der gleichen Leidenschaft entgegenstellen, wie das Heinemann, Simon und andere zwischen 1960 und 1990 getan haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Erbe dieser bedeutenden Rechtsreformer im Raum der Kirche kaum gepflegt wurde und im Bewusstsein der Gemeinden deshalb weithin verblasst ist. Wenn in Predigten oder auf einschlägigen Facebookseiten über „den Staat“ geredet wird, erscheint das Recht fast immer nur als Anhängsel der Exekutive. Jede juristische Fehlentscheidung eines Amtsrichters wird gleich als „Scheitern des Rechtsstaats“ skandalisiert.

Diese Indifferenz – und nicht selten Verachtung – gegenüber dem Recht können wir uns in diesen Zeiten nicht mehr leisten. Denn der liberale Rechtsstaat steht weltweit unter dem Beschuss autoritärer und demokratiefeindlicher Kräfte, die genau das wollen: die Justiz wieder zum verlängerten Arm der Exekutive oder zum Instrument eines populistischen „Willen des Volkes“ zu machen. Dabei erweist sich die Resilienz der Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen Ländern als sehr unterschiedlich.

In den usa ist es zum Beispiel nicht der Kongress, sondern eine selbstbewusste Justiz, die der harten Linie des Präsidenten gegenüber Migranten aus Lateinamerika immer wieder verfassungsmäßige Grenzen setzt. Kein Wunder, dass die Neubesetzung von Richtern an Bundesgerichten und am Supreme Court für Donald Trump und seine Anhänger höchste Priorität hat. Je länger der Präsident im Weißen Haus bleibt, umso weniger Widerstand wird er von den Gerichten bekommen. Am Ende dieser Entwicklung steht für den Historiker und Holocaustforscher Timothy Snyder die Tyrannei. Auch deshalb ist seine Mahnung so dringlich: „Wir haben nur wenig Zeit, die Demokratie zu verteidigen!“

Mitten im Rechtsraum der Europäischen Union ist es den Regierungen in Polen und Ungarn dagegen schon jetzt gelungen, die Unabhängigkeit der Justiz drastisch zu beschränken – in beiden Fällen übrigens mit offener Unterstützung der katholischen Kirche.

Auch in anderen EU-Ländern nimmt der Druck auf die Judikative massiv zu – in Italien wird dieser Konflikt exemplarisch am Thema der Seenotrettung ausgetragen. Deshalb wird man der Dimension der Auseinandersetzung auch nicht gerecht, wenn sie nur als Duell zwischen Innenminister Salvini und Kapitänin Carola Rackete dargestellt wird. Die Diffamierung und Kriminalisierung von Rackete ist in Wirklichkeit nur Teil eines strategischen Angriffs von Salvini und seiner rechtsradikalen Lega auf den liberalen Rechtsstaat. Denn wie Trump handelt auch Salvini fast nur über Dekrete, die sich der demokratischen Kontrolle durch das Parlament entziehen. Zugleich bestreitet er populistisch die Geltung verbindlicher Normen des Völkerrechts. Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright spricht in diesem Zusammenhang sehr bewusst von der Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Rechtsstaat.

Carola Rackete hat sich in diesem Konflikt in vorbildlicher Weise auf der Seite des Rechtsstaats positioniert. In jedem ihrer Funksprüche hat sie streng in der Begrifflichkeit des internationalen Seerechts argumentiert – auch dann noch, als sie sich über das Verbot der Küstenwache hinweggesetzt und den Hafen von Lampedusa angelaufen hat. Zugleich hat sie nie einen Zweifel an ihrer Bereitschaft gelassen, die volle juristische Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen. Rackete beweist damit, dass Vertrauen in den Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam keine Gegensätze sind, sondern einander sogar bedingen.

Die Solidaritätswelle in Deutschland hat diese Sorgfalt leider nicht immer gezeigt. Als Außenminister Maas statt der sofortigen Freilassung Racketes nur ein „zügiges rechtliches Verfahren“ forderte, wurde er auch auf kirchlichen Facebookseiten heftig kritisiert. Dabei kann man die Unabhängigkeit der Richterin in Palermo gegenüber dem massiven Druck aus Rom nur verteidigen, wenn man diese Unabhängigkeit konsequent respektiert.

Kommende Bewährungsprobe

Salvinis Hasstiraden gegen die Richterin nach dem fulminant begründeten Freispruch zeigen, dass der „Lega“-Chef das Urteil als das begriffen hat, was es ist: ein weit über den Einzelfall hinausweisender Ausdruck der Resilienz des Rechtsstaats gegenüber der Übergriffigkeit der Exekutive. Diese Bedeutung wurde in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen. Es ist gut, dass die evangelische Kirche bereit ist, sich noch stärker an der Seenotrettung im Mittelmeer zu beteiligen. Dabei ist es richtig, für ein weiteres Schiff eine breite zivilgesellschaftliche Trägerschaft zu suchen. Denn der Satz „Wir lassen niemanden ertrinken. Punkt!“ gewinnt seine Kraft eben nicht nur aus dem Pathos des christlichen Glaubens, sondern auch aus den hart erkämpften Normen der Menschenrechte und des Völkerrechts. Bei all dem steht die Bewährungsprobe für den Rechtsstaat in Deutschland noch bevor. Vor allem in den Hochburgen der AfD wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Vertreter eines ausschließlich repressiven Staatsverständnisses auch in Verwaltungen und Gerichten Raum greifen werden. Im Kampf ums Recht werden dann weder moralische Empörung noch die Berufung auf ein „höheres Recht“ helfen – sondern ein selbstbewusstes Verständnis von der Widerständigkeit des Rechts gegenüber seinen Verächtern. Will die Kirche dem Rechtsstaat in dieser Auseinandersetzung zur Seite stehen, sollte sie das Erbe von Gustav Heinemann und Helmut Simon neu entdecken, es mit Kenntnis und Leidenschaft für unsere heutigen Herausforderungen fruchtbar machen – und sich bei allem an den Psalm 94 erinnern: „Im Hause dieses Königs liebt man das Recht!“

Literatur

Arnd Henze: Kann Kirche Demokratie ? – Demokratie im Stresstest. Herder Verlag, Freiburg 2019, 176 Seiten, Euro 18,–.


 

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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