Am Ende des Meeres

Für die Deutsche Seemannsmission zählt der Einzelne
Foto: Talisa Frenschkowski
Foto: Talisa Frenschkowski
Große Containerschiffe fassen bis zu 15 000 Container.

Im gigantischen Getriebe der internationalen Containerschifffahrt droht der einzelne Mensch verloren zu gehen. Die Deutsche Seemannsmission kümmert sich weltweit um die Seeleute, deren Liegezeiten im Hafen immer kürzer werden. Ein Besuch in der Station Rotterdam bei Seemannspastor Jan Janssen und seinem Team.

Ohne App wäre es mühsam: „Mal gucken, wo die Valparaiso gerade ist…“ Pastor Jan Janssen gibt den Namen des Schiffes in sein Smartphone ein. Sekunden später ist er schlauer: „Oh, sie sind weit weg, in Cartagena.“ Cartagena ist eine Hafenstadt an der Karibikküste in Kolumbien. „Und dann müssen sie noch nach Chile …“ Das alles zeigt ihm die App vesselfinder, mit der er in Sekundenschnelle alle registrierten Schiffe und ihre aktuellen Routen abrufen kann. Den Kapitän des Containerschiffes Valparaiso kennt Janssen, er freut sich auf ein Wiedersehen. Laut vesselfinder wird es eine Weile dauern, bis der Tanker Valparaiso wieder in Rotterdam vor Anker geht, doch die App zeigt, welche Schiffe gerade im Hafen sind oder in nächster Zeit vor Anker gehen. Ein weites Feld …

Janssen hat seinen VW Touran mitten in der Maasvlakte geparkt, zu Deutsch „Maasfläche“, jener gigantischen Hafenanlage, die von 2004 bis 2012 in die Nordsee gebaut wurde. Wir befinden uns rund vierzig Kilometer von der Rotterdamer Innenstadt entfernt und blicken auf Terminals und Krananlagen soweit das Auge reicht. In diesem allerneuesten Teil des Rotterdamer Hafens können die ganz großen Pötte vor Anker gehen, die bis zu 400 Meter lang sind und bis zu 15 000 Container laden können. Gigantisch!

Seit einem Jahr ist Jan Janssen Seemannspastor in Rotterdam. Zuvor war der 56-Jährige Gemeindepastor in Wilhelmshaven, danach sechs Jahre Kirchentagspastor und dann fast ein Jahrzehnt Bischof in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Oldenburg. Alle waren überrascht und sehr traurig, als Janssen Ende 2017 aus freien Stücken verkündete, dass er nicht länger Bischof sein wollte – ein Amt, in das er eigentlich auf Lebenszeit gewählt war. Doch die Vorstellung, noch gut zwölf Jahre bis zur Pensionierung einfach weiterzumachen, behagte ihm nicht, zumal er findet, dass regelmäßiger Wechsel gerade auch in kirchlichen Leitungsämtern nötig ist, und außerdem wollte er wieder an der Basis arbeiten (vergleiche zz 1/2018).

Seine Basis muss Jan Janssen nun Tag für Tag neu suchen: Dann zieht er sich Schuhe mit Stahlkappen an und setzt den Helm auf. Auch muss er einen Rucksack tragen, wenn er in den unendlichen Weiten der Maasvlakte unterwegs ist, um die Seeleute zu besuchen, denn Sicherheit wird großgeschrieben, das heißt, beide Hände müssen frei sein. Wenn Janssen das Schiff und den Kapitän noch nicht persönlich kennt, fragt er zunächst bei der Agentur an, ob er die Crew besuchen darf. In der Regel ist das kein Problem, denn „Seamen’s Mission“ jedweder Couleur hat bei Reedern einen guten Ruf. Penibel wird er dann am Eingang zum Terminal kon-trolliert, bevor er den tagesaktuellen Plan des Hafens unter die Lupe nimmt, um zu sehen, wo es überhaupt hingeht. Ständig ändern sich spontan Liegeplätze, so dass ihm die Mitarbeiter am Eingang auf den Plan malen, wo denn das avisierte Schiff wirklich zu finden ist. Am Ziel angekommen gilt es, das Auto so vor dem Schiff zu parken, dass die Löscharbeiten nicht behindert werden. Aber bloß nicht zu nah an den Vertäuungen, denn wenn sich da was löst, wird es wirklich gefährlich. „Was da an Druck drauf ist, kann man sich kaum vorstellen.“

Seemannspastor zu sein ist für Janssen durchaus eine Umstellung: Auf einmal ist er Einzelkämpfer, hat keine Mitarbeitenden, mit denen er alles bedenken und denen er Aufträge erteilen kann, ja, er hat noch nicht einmal Diensträume. Sein Büro befindet sich zurzeit unter dem Dach des kleinen Reihenhauses, das er im Süden Rotterdams bewohnt. Janssen hofft, dass dies auf Sicht anders wird. Er strebt eine stärkere Zusammenarbeit mit der deutschsprachigen Gemeinde in Rotterdam an, aber das ist Zukunftsmusik.

Ganz allein ist Janssen aber nicht, denn ebenfalls genau vor einem Jahr begannen zwei junge Leute ein Freiwilliges Soziales Jahr (FJS) bei der Deutschen Seemannsmission in Rotterdam. Malte Vergin kommt aus Dresden, aber sein Vater stammt aus Leer in Ostfriesland. Nach dem Abitur wollte er woanders hin und am liebsten „irgendetwas an der Küste machen“. Wenn er seinen Großvater in Leer besuchte, sah er die großen Schiffe von der Meyer Werft in Papenburg die Ems hoch Richtung Dollart fahren, schon damals packte ihn die Sehnsucht nach dem Meer und er will Nautik studieren mit dem Berufsziel Kapitän. Deswegen schien ihm ein Jahr bei der Seemannsmission in Rotterdam sinnvoll, um seinem künftigen Arbeitsfeld nahezukommen.

Mit ihm zusammen leistet Talisa Frenschkowski ihr FJS in Rotterdam. Sie stammt aus der hessischen Wetterau, sie möchte Theaterwissenschaften studieren und später auch auf jeden Fall beim Theater arbeiten. In ihrem FSJaber wollte Talisa ganz bewusst etwas ganz anderes machen und fand unter der Rubrik „Internationale Freiwilligendienste“ auch die Seemannsmission. Zuerst konnte sie sich gar nichts darunter vorstellen, aber: „Es war das Außergewöhnlichste, das mir da ins Auge gesprungen ist.“

Außergewöhnlich scheint Talisas und Maltes Arbeit auf den ersten Blick nicht: Die beiden 19-Jährigen gehen regelmäßig auf die Schiffe im Cityhafen, der näher an der Stadt gelegen ist. Dort liegen die etwas kleineren Schiffe vor Anker, die, die also „nur“ etwa 150 Meter lang sind und die im Linienverkehr tätig sind, vornehmlich mit Großbritannien. Das heißt, die Schiffe kehren häufig wieder, und Malte und Talisa können nachhaltigen Kontakt zur Crew aufbauen. Am besten zur Mittagszeit „entern“ sie das Schiff, sprechen in der Kantine des Schiffes, die so genannte Messe, die Seeleute an: „Wie lange seid Ihr schon unterwegs?“ oder „Was ist Eurer nächster Hafen“. Und die beiden bieten Telefonkarten zum Verkauf an – die sind sehr gefragt, denn das ist die einzige Möglichkeit, dass die Seeleute auf den Weiten der Ozeane Kontakt zur Familie halten.

Nach und nach merken die Seeleute dann, dass diese jungen Leute nicht irgendwelche fliegenden Händler sind, sondern wirklich ein Interesse an ihnen haben, das sonst niemand hat und das nicht kommerzieller Natur ist. So bieten Talisa und Malte ihre Hilfe an, wenn Crewmitglieder etwas aus der Stadt brauchen. Sie machen Besorgungen und bieten auch Fahrten in die Stadt an, auch zu extremen Zeiten, notfalls kurz vor Mitternacht. Es geht nicht anders, denn die Liegezeiten der Tanker sind heutzutage sehr kurz, teilweise nur zwölf Stunden. Manche Einkaufswünsche sind skurril: Einmal wollte ein philippinischer Seemann ein bestimmtes Sauerstoffspray für Kampfhähne haben. Er habe daheim eine Kampfhahnzucht und verschicke seine Tiere teilweise weit durchs ganze Land, und damit die das überstehen, brauche er das Spray. Die beiden scheuten keine Mühe, bestellten es im Internet und konnten es ihm bringen. Als er dann noch ein spezielles Kreissägeblatt haben wollte, mussten sie leider passen …

„Die Mannschaften auf den Containerschiffen bilden perfekt die Dreiklassengesellschaft ab, die auch sonst auf der Welt festzustellen ist“, sagt Jan Janssen. Der Kapitän und die Offiziere seien häufig Nordamerikaner, im Maschinenraum werkeln meist Osteuropäer und die einfachen Mannschaften sind in erster Linie Filipinos, Indonesier oder Inder. Das ist unabhängig davon, unter welcher Flagge das Schiff fährt. Dass es nur deutsche Schiffe sind, die Janssen und sein Team besuchen, liegt schlicht daran, dass für andere Nationalitäten andere Organisationen der Seemannsmission gibt, zum Beispiel aus Skandinavien.

Besonderer Container

Zu Weihnachten hatte sich Jan Janssen etwas Besonderes einfallen lassen. Anstatt einfach einen großen Präsentkorb für alle an Bord der Schiffe abzugeben, entwarf er kleine Container als Pappschachteln im Format 5 x 5 x 15 Zentimeter, auf deren Seitenflächen in Deutsch und Englisch der Bibelvers „Glory to God in the highest and peace on earth“ gedruckt war, und auf deren Boden die Kontaktdaten der Deutschen Seemannsmission Rotterdam, und drinnen lagen ein Liedblatt und Süßigkeiten! Dieser besondere Container, den Janssen und seine Freiwilligen in fleißiger Faltarbeit zusammenbauten, stellte sicher, dass auch wirklich jeder etwas bekam. Andere Stationen der Seemannsmission haben schon Interesse an dieser besonderen Weihnachtsgabe angemeldet. Da wird Janssen in diesem Jahr deutlich mehr Faltvorlagen drucken müssen …

Auf einem ihrer Schiffe wurden Talisa und Malte kürzlich sogar zu einer Tour nach England eingeladen, zweieinhalb Tage, einmal Rotterdam – Tilbury und zurück. Da merkten die beiden, dass die Crew auch auf See ständig zu tun hatte. Zwar hatten sie nichts mit der Ladung zu tun, wie im Hafen, aber immer gab es etwas zu machen, ob es Reinigung war oder Reparaturen. Romantisches Stehen an der Reling? Fehlanzeige. Malte hat aber auch diese Tour nicht vom geplanten Nautikstudium abgebracht.

Die beiden jungen Leute blicken sehr zufrieden auf ihr zu Ende gehendes Jahr zurück, sie bereuen nichts. Talisa kann zwar schlecht ihren Studienwunsch Literaturwissenschaft in den Niederlanden realisieren, aber ein Semester in Rotterdam möchte sie gerne machen. Malte kann sich heute vorstellen, nach einigen Jahren auf den Weltmeeren vielleicht einmal als Lotse im Rotterdamer Hafen zu arbeiten. Mal sehen.

Auf die ganz großen Pötte, den 400 Meter langen, die draußen in der Maasvlakte festmachen, kann nur der Seemanns-pastor selbst – schon aufgrund der Sicherheitsauflagen. „Manchmal ist es frustrierend“, sagt Jan Janssen. Dann kommt man nach dem langen Anfahrts-, Sicherheits- und Parkprozedere und dem teilweise steilen Anmarsch über die Gangway auf dem Schiff an, ist gerade in der Messe begrüßt worden, die ersten Seeleute kommen, und dann ist plötzlich Alarm! „Auch wenn es gar nichts Schlimmes ist: Alle Crewmitglieder müssen weg auf ihre Plätze, die Messe ist im Nu verwaist, und es kann sehr lange dauern, ein, zwei Stunden – dann war der Besuch umsonst.“

Ohne eine gewisse Frustrationstoleranz, so Janssen, könne man die Arbeit eben nicht machen. Aber das sei in einer „normalen“ Gemeinde letztlich auch nicht anders. Und das Risiko eines verlorenen Tages kann Janssen nicht davon abhalten auf die Schiffe zu gehen, auch wenn das besonders im Winter „nicht immer lustig“ sei. Aber diese „exemplarische Seelsorge an den Rändern“ sei wichtig. „Es ist ein bisschen wie Knastseelsorge: Es geht um ganz isolierte Menschen, wo du dich manchmal nur um einen pro Tag kümmern kannst, weil es hochkomplex ist, mit ihm überhaupt in ein Gespräch zu kommen.“

Noch eins ist Janssen wichtig: Die Seeleute, die sein Team und er aufsuchen, arbeiten unter schwierigsten Bedingungen. Unter ihnen sind zwar kaum Deutsche, aber der Wohlstand Deutschlands als Exportnation wäre ohne die Seefahrt undenkbar. Kaum jemand, schon gar nicht im Binnenland, mache sich doch bewusst, dass neunzig Prozent des Welthandels über die Ozeane abgewickelt werden. Allein schon deshalb, so Janssen, sollte die Fürsorge der Deutschen Seemannsmission für Menschen, die mit ihrer harten und gefährlichen Arbeit fernab ihrer Familien unseren Lebensstandard mit ermöglichen, selbstverständlich sein. Wer könnte da widersprechen?

Zur Deutschen Seemannsmission gehören 13 Stationen in Deutschland und 18 in Europa und Übersee. Weitere Informationen unter www.seemannsmission.org.


 

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