Kein Kommentar!

Der Trend zur andauernden Bewertung nervt
Foto: Harald Oppitz

Mein Mann hat eine App entdeckt, die eine zielsichere Orientierung ermöglicht. Die Karte zeigt, wo man sich befindet und weist zugleich den Weg zum Ziel. Einziger Punkt der Irritation für mich: Das Teil fragt nach Abschluss jeder Aktion, ob man das Ziel bewerten möchte. „Tippen Sie, um diesen Ort zu bewerten und einen Kommentar zu hinterlassen.“ Die App fragt das nach dem Besuch eines Supermarkts ebenso wie nach dem des Kölner Doms. Dabei hat man die Auswahl zwischen Schrecklich, Schlecht, Normal, Gut oder Ausgezeichnet, jeweils mit passenden Emojis. Jetzt ist es so, dass ich in Sachen Bewertung eine Allergie entwickelt habe. Mag sein, dass es an Formaten wie „Germanys next Topmodel“, „Lets Dance“ oder Portalen wie Booking.com oder Tripadvisor liegt: Ich stelle einen verhängnisvollen Trend bei meinen Mitmenschen fest, der mich zunehmend nervt. Ob es um Restaurantbesuche oder Predigtbesprechungen geht – immer gibt es anschließend einen Kommentar. Höchst problematisch finde ich bei der Bewertungswut, dass der differenzierte Blick zugunsten einer einfachen Wertung verlorengeht. Inzwischen bitte ich meine Studierenden schon ausdrücklich darum, mit mir zuerst ihre genaue Wahrnehmung einer Predigt zu teilen. Trotzdem beginnen die meisten mit „Ich finde deine Predigt gut“ oder „Mir gefällt sie nicht.“ Es scheint extrem schwer zu sein, auf eine Bewertung zu verzichten.

Jetzt könnte man auch die Vorteile betonen. Schließlich profitiere selbst ich. Bevor ich ein Hotel buche, schaue ich mir die Bewertungen an. Wenn diese beim Thema Sauberkeit nur wenige Punkte geben, verzichte ich auf einen Aufenthalt in dieser Unterkunft. Allerdings: Dreckige Laken und schmierige Toilettensitze lassen sich auch von Laien erkennen. Schon bei Restaurants wird es schwieriger. Welche Kriterien werden angelegt? Ich kenne einen älteren Herrn, der die Qualität von Restaurants stets an der Größe des Schnitzels bemisst. Auf Platz 1 der besten Restaurants Deutschlands landet bei ihm eine Autobahnraststätte in der Nähe von Siegen. In Mainz nimmt eine Dönerbude Platz 151 von 600 Restaurants in Mainz bei Tripadvisor ein. Bei mir bekäme sie – ohne dass ich je da gewesen bin – null Punkte. Ich hasse Döner. Auch wenn ich mangels Erfahrung überhaupt nicht geeignet bin, die Qualität des Wickelfleischs zu beurteilen.

Und wie steht es mit dem Kölner Dom? Die Karten-App hat keine Zweifel daran, dass ich in der Lage bin, sie auf der Skala von schrecklich bis ausgezeichnet einzuordnen. Das könnte man als Sieg der Subjektivität einordnen, möglicherweise sogar als Demokratisierung des Geschmacks. Ich finde es einfach nur überheblich. Und irgendwie sündig. Die Schlange App bietet mir Entscheidungskompetenz als Frucht vom Baum der Erkenntnis an. Ich bin aber, ehrlich gesagt, nicht fähig, den Kölner Dom kompetent zu bewerten. Ich kann beschreiben, ob ich mich in dem Gotteshaus wohl oder unwohl fühle und möglicherweise sogar erklären, warum das so ist. Aber ich kann den Kölner Dom nicht bewerten, ich will es auch gar nicht. Ich habe weder Kunstgeschichte studiert noch mich in ausreichendem Maße mit Kirchenbau beschäftigt. Ich sage es mal ganz deutlich: Ich bin nicht der Maßstab aller Dinge! Gott sei Dank!

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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