Konstruiert

Konstruiert

Kassandra, Ende dreißig, hat Torschlusspanik. Wohl verfügt sie über alles, was eine hippe Berlinerin so ausmacht: Sie arbeitet als Dozentin, kennt sich aus mit Sexappeal, Lifestyle und Skills zur persönlichen Lebensbewältigung, hat jede Menge lang- und kurzlebige Beziehungserfahrungen, aber schwanger geworden ist sie noch nicht. Um ihre mütterlichen Instinkte zu erforschen, schließt sie sich dem Freiwilligenteam des (Malteser-)Ordens an, das Kinder mit schweren Beeinträchtigungen auf einer Wallfahrtsreise nach Lourdes begleitet – ein Engagement, das vor allem von jungen Adeligen wahrgenommen wird.

Mit kritischem Blick sondiert sie ihre Teamkolleginnen in akzeptable und weniger akzeptable Mitreisende, mokiert sich über die Kleiderordnung des Ordens und blickt bang auf die Kinder in „vollkommen dysfunktionalen Körpern“, die ihr nun den Umgang mit Rollstühlen, Windeln und Orthesen abverlangen. Zunächst befremdet, erlebt sie den gigantischen Wallfahrtstourismus in Lourdes, einen permanenten Prozessionsrummel. Aber dann wird sie vom besonderen Spirit des Orts doch ergriffen.

Das Lourdeswasser bleibt nicht ohne Wirkung: Mal hat sie eine Vision der heiligen Bernadette, mal eine Lichterscheinung, auch entdeckt sie sich eines morgens nach dem Duschen vor dem Spiegel als Maria lactans. Und es gelingt ihr, genau im richtigen Augenblick bei einem Kind zu sein, das zu ersticken droht. Irgendwie ist Gott nun doch überall und Maria auch. Es wird ihr ein bisschen zu viel an „mystic overload“. Sie fühlt sich wie einem allzu langen Drogentrip, aus dem sie zum Glück ein vernünftiger Priester befreit.

Und dann ist da ja auch Oki, der gute Geist im Team, auch er ein Sohn aus hochadligem Haus, aber ein Alternativer. Erstaunlicherweise sind Oki, der stille Holzschnitzer, und die hier doch etwas fehl am Platz wirkende Kassandra mit dem leuchtend roten Lippenstift füreinander geschaffen, und so geht die Geschichte erwartungsgemäß mit einem positiven Schwangerschaftstest aus.

Sophie von Maltzahn, die sich das ausgedacht hat, ist selbst 35 Jahre alt, Journalistin in Berlin und hat sieben Mal als Freiwillige eine Lourdes-Wallfahrt mit behinderten Kindern begleitet. Man darf in Kassandra ihr Alter Ego vermuten. Sehr authentisch wirkt ihr Bericht über die Gefühle und Erfahrungen einer jungen Teamerin auf Wallfahrtsreise, zumal er sich oft liest wie ein tagebuchartiger Blog – in kurzen Kapiteln, die sie mit assoziativen Fußnoten versieht, literarisch unbekümmert, mal um hippen Jargon bemüht, dann auch wieder hölzern, wenn es darum geht, soziale Ansichten kundzutun.

Nur hätte die Autorin gut daran getan, ihre Kassandra Anfang zwanzig sein zu lassen, ihr keinen Kinderwunsch anzudichten und auch ihre religiösen Erfahrungen nicht derart zu übertreiben. Man glaubt sie ihr nicht, nimmt nur verblüfft zur Kenntnis, mit welch unverfrorener Naivität sich die coole junge Frau der katholischen Mystik bemächtigt. Sie will eben alles haben, nicht nur Karriere, Sex und angesagten Lifestyle, auch Gotteserfahrung und soziales Engagement.

Auch wenn die behinderten Kinder am Ende etwas an Kontur gewinnen, treten sie vor allem als Erfahrungszuwachs der schönen Kassandra in Erscheinung. Vermutlich hat es die Autorin besser gemeint, aber so, wie sie den Roman konstruiert, entsteht der Eindruck, als seien sowohl diese Kinder als auch die Transzendenzerlebnisse in Lourdes nur dazu da, um Kassandra die Schwangerschaft zu ermöglichen – eine Instrumentalisierung, die peinlich wirkt.

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Angelika Obert

Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).


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