Der 3. Oktober sollte ein Bußtag werden

Wir brauchen einen Tag, an dem wir die Geschichte unserer Beziehung entdecken

Bundesrepublik Deutschland“, schwarzrotgold unterstrichen. Darunter: „Großes Staatsjubiläum‚ 30 Jahre Mauerfall‘“. Darunter: sechs 2-Euro- Münzen. Vorderseite: 2 Euro und Europa mit Sternchen. Auf der Kehrseite der Medaillen: rechts und links zwei Mauerstücke, eins angepickt und grafitti-übersät, eins glatt mit Schrift „30 Jahre Mauerfall“. Zwischen den beiden Mauern quillt es hervor: ganz oben das Brandenburger Tor, darunter eine Gestalt mit hocherhobenen Armen, darunter zwei Friedenstauben und ein Huhn, darunter viele hochgereckte Hände. Und rechts unten auf einer Art Teppich: ein goldenes D. Das alles zum Tauschpreis von zehn Euro. Und ganz oben rechts steht: „Brandaktuell“.

Diese Werbung für Gedenkmünzen fand ich in meiner Fernsehzeitung. Nationalkitsch in Reinkultur. Aber irgendwie passt er zu der Tonart, die uns in den nächsten Monaten erwartet. Tenor: Alles ist gut. Und was noch nicht gut ist, wird gut. Wir arbeiten daran.

Ich möchte etwas anderes. Ich möchte eine Art Bußtag. Am liebsten den 3. Oktober, Pi mal Daumen für die nächsten zehn Jahre. Wenn schon die Moscheen an diesem Tag ihre Tore öffnen: warum nicht auch die immer noch vorhandenen mentalen und emotionalen Vernagelungen mal öffnen?! Sich etwas richtig Gutes ausdenken und dann machen. Zum Beispiel: „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg und lauter Leuten aus dem Osten findet am 3.10. in Görlitz statt. Jugendliche von Fridays for Future treffen sich mit Anwohnern und Arbeitern im Lausitzer Braunkohlerevier. Nicht zur Demo, sondern zum Zuhören, Zuhören, Zuhören – und dann erst selber Reden. Es bildet sich ein anfangs eckiger „Tisch der Versöhnung“; eine Art Wahrheitskommission über die Jahre 1990 bis 1994. Birgit Breuel müsste dabei sein. Thema: „Privatisieren – sanieren – stilllegen: Was ist daraus geworden?“ Vielleicht kann man mit der Zeit einige Ecken an diesem Tisch abschmirgeln. Eine Kirchenecke sollte auch dabei sein, besetzt mit leitenden Kirchenleuten aus der DDR und der BRD.

Und dann: die eigenen emotionalen Schmuddel-ecken aufspüren und eine Art gesamtdeutsches Raritäten- und Gruselkabinett in einer VV, einer virtuellen Vitrine, ausstellen, mit viel Raum für eigene Stücke. Da wären zum Beispiel die Myriaden von Weihnachtspaketen, die jahrzehntelang verschickt wurden. Sie machten ein gutes Gewissen, weil man etwas für den Zusammenhalt von Familie und Vaterland tat. Aber sie zementierten auch ein Oben und Unten: Geber oben, Empfänger unten. Und dann die Gegengaben! Ich steuere bei: eine Altflöte, schön im Ton, aber unbrauchbar, weil die Intervalle nicht stimmten. Ein großes Stück Stoff, Seidenrips. Von einem so giftigen Rosa, dass ich mich geschämt habe, als ich das daraus genähte Ballkleid anziehen musste. Musste, ja, weil es doch aus der „Zone“ kam. Oder die vielen Gläser aus Weißwasser, dort geschliffen. Heute halte ich sie als kostbare Erinnerungsstücke in meinem Glasschrank in Ehren. Und wie war das mit der friedlichen Revolution? Wir im Westen waren doch neidisch bis auf die Socken, weil uns eine solche Bewährungsprobe der Haltung und des Mutes nie abverlangt wurde. Wir haben es ‚nur’ zu einer Studentenbewegung und den heute verunglimpften „Alt-Achtundsechzigern“ gebracht.

Ich will kein ddr-Nostalgie-Museum. Die gibt es schon, und sie haben Zulauf. Ich möchte einen Bußtag, an dem wir die Geschichte unserer Beziehung entdecken, anschauen, ausstellen. Und wenn das geschafft ist, dann kann das meinetwegen als „Bares für Rares“ zu Horst Lichter. Nur keinen neuen Kult daraus machen!

Zu einem Bußtag gehören Gottesdienste, denn der Bußtag war nicht für die individuelle Bilanz gedacht. Er sollte die Qualität des Gemeinwesens vor Gott bringen. Aber muss es ein großer Gottesdienst sein? Lieber statt des einen – oder zusätzlich – viele dezentrale mit Raum für Gespräche! Mit Einladungen an die ehemaligen Partnergemeinden in Ost und West zur gemeinsamen Bilanz, aber natürlich auch zum Singen und Posaunieren. Die Partnerschaften der Gemeinden waren Kitt in der getrennten deutschen Gesellschaft. Vielleicht weniger Bußgebete. Die kommen uns zu flüssig über die Lippen.

Buße heißt: Metanoia. Umkehr des Geistes. Heute müsste ein Bußtag noch mehr die Metabasis pflegen: Die Umkehr mit den Füßen. Hingehen. Von Ost nach West und West nach Ost. Gemeinsames finden und Fremdes fremd sein lassen. Nichts mehr begradigen wollen. Uns gegenseitig so leben lassen, wie wir geworden sind. Und: bloß kein großes Staatsjubiläum mit kitschigen Gedenkmünzen!

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Oda-Gebbine Holze-Stäblein

Oda-Gebbine Holze-Stäblein, geboren 1942 in Magdeburg, ist Theologin. Von 2001 bis 2007 war sie Landessuperintendentin für den Sprengel Ostfriesland-Ems der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Außerdem war sie mehrere Jahre Sprecherin beim „Wort zum Sonntag“ in der ARD.


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