Die besorgten Optimierer

Die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer betreiben Theologie im Modus der Ersten Person Singular
Theologiestudierende in Neuendettelsau.
Foto: Julia Horn
Theologiestudierende in Neuendettelsau.

Was zeichnet die neue Pfarrgeneration aus? Pastor Kay-Ulrich Bronk, der das Prediger- und Studienseminar der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Ratzeburg) leitet, arbeitet intensiv mit Vikarinnen und Vikaren zusammen – er nennt sie „VuV“. Bronk ist voller Respekt für eine Gruppe junger Menschen, die für ihre eigenen Interessen einsteht und keine Pfarrherrlichkeit mehr will.

Mir gegenüber sitzt ein junger Doktorand. Er möchte ins berufsbegleitende Ehrenamtsvikariat. Diese Möglichkeit hat die Nordkirche für Berufstätige geschaffen, die sich die Option „Pfarramt“ offenhalten wollen. Gegen Ende unseres Gespräches kommen wir auf mentalitätsgeschichtliche Wandlungen und die Unterschiede zwischen den Theologinnen- und Theologen-Generationen zu sprechen. Ich frage: „Wie würden Sie Ihre Generation charakterisieren? Was zeichnet sie aus?“ Die Antwort kommt prompt und ohne Zögern: „Wir sind die Generation der Optimierer!“ Das leuchtet mir sofort ein. Die Antwort deckt sich mit meinen Erfahrungen aufs Haar. Aber das ist meines Erachtens nur die „halbe Wahrheit“.

Ich treffe mich mit einer Gruppe Vikarinnen und Vikare (VuV) in Hamburg. Optimierer*innen. Gegenstand: Ausbildungskritik und neue Ideen fürs Vikariat. Die Abordnung ist gut vorbereitet. Auf der Pinwand im Raum sind die Punkte, über die die VuV mit mir reden wollen, akkurat aufgelistet.

Ich höre berechtigte Kritik und gute Ideen. Vieles kenne ich schon. Das Vikariat ist zu lang, zu viel Tradition, zu wenig 21. Jahrhundert, zu wenig Spiritualität, zu wenig Augenhöhe. „Unsere Kompetenzen kommen nicht ausreichend in den Blick! Wie nehmen Sie uns eigentlich wahr? Und da wir gerade dabei sind: Nach welchen Kriterien werden unsere Prüfungsleistungen bewertet, und nach welchen Kriterien werden die Prüferinnen und Prüfer ausgesucht?“ Gemeint wohl: „Können die das überhaupt?“ In einem Forderungskatalog des Vikarsrates ist überdies zu lesen, dass es an der Zeit sei, die Pfarrherrlichkeit des 19. Jahrhunderts mit allzuständigen, immer im Dienst befindlichen Amtspersonen zu überwinden. Diese Generation will was und sagt das auch. Sie steht für die eigenen Interessen ein. Respekt.

Dennoch komme ich über einen inneren Widerstand nicht hinweg: Was ist das für eine kirchliche Wirklichkeit, die die VuV vor Augen haben, wenn sie in ihr die Pfarrherrlichkeit des 19. Jahrhunderts zu erkennen meinen? Woher die Chuzpe, keck zu fordern und alle Hürden niedrig machen zu wollen? Warum so misstrauisch gegenüber Ausbildern und Prüferinnen, dem Amt, der Tradition und den Erwartungen, die nun einmal an sie gerichtet werden? Woher die übergroße Sorge gegenüber Bewertungen, die natürlich immer blöd sind, für den, der bewertet wird, aber: „Willkommen im Leben, so geht es eben!“ Woher diese – hinter einem selbstbewussten Auftritt kaum verborgene – Ängstlichkeit, obgleich dieser Generation die Türen zum Pfarramt so sperrangelweit offenstehen wie keiner zuvor? Stichwort Pastorinnen- und Pastoren-Mangel.

Der jungen Theologenschaft wird doch einiges geboten: Nachwuchsförderung und Studierendenbegleitung, Praktika und Orientierungswochen im Studium, Anpassung des Vikariatsbeginns an die Examina für einen kurzen Übergang, Aufstockung auf vier Gruppen und Erhöhung der Anzahl der Vikarsleute pro Gruppe, so dass jetzt in der Nordkirche jährlich zwei Gruppen mit zusammen 40 Personen beginnen können, damit niemand zu lange warten muss. Umzugskostenerstattung, 700 Euro Talargeld und monatlich bei Bedarf bis 200 Euro on top wegen hoher Mieten, Flexibilisierung der Residenzverpflichtung, kostenfreie Kinderbetreuung während der Kurswochen und vieles mehr.

Das ist große Willkommensoper. Hätten wir auch gerne gehabt (Vikariatsjahrgang 1988–1990, Nordelbische Kirche). Hatten wir aber partout nicht. Na gut, ökumenische Studienfahrt und Mentores hatten wir auch. Aber keine Blaskapellen an den kirchlichen Pforten, die zu unserem Einzug aufgespielt hätten. Und die Pforte ging nicht für alle sofort auf, für einige gar nicht. Keine Augenhöhe mit dem Landeskirchamt und keine roten Teppiche in die Kirchenkreise. Wir waren immer zu viele für zu wenige Stellen.

Und? Wir haben – mit Verlaub – die Backen zusammengekniffen und uns prüfen lassen. Punkt. Sind mit 75 Prozent der Bezüge in den Probedienst gegangen. Pastorenehepaare mussten sich zwangsweise eine Stelle teilen. Das war schmerzhaft. Aber: Wird schon werden, haben viele von uns gedacht, und haben uns, Menschenskinder, keinen Kopf um Kriterien im Prüfungsgeschehen gemacht. Gemeckert hier, protestiert da. Studienleiter haben auch mal Haue bekommen. Ja. Gehört dazu. „Clash of Generations“. Ist normal.

Und die gefühlte Kirche war uns übrigens auch zu konservativ. „Pfarrherrlich“? Das hätte von uns sein können. Wir wollten auch alles besser und zeitgemäßer machen. Wir waren doch die jüngeren Geschwister der Achtundsechziger: Politische Theologie, feministische Theologie, Theologie der Befreiung … und Ernesto Cardenals „Evangelium der Bauern von Solentiname“ in allen Regalen. Wir wollten mehr Demokratie und weniger Hierarchie in der Kirche wagen, Türen aufmachen, Luft reinlassen, entrümpeln. Aber wir haben uns nicht lange mit den Quisquilien der Ausbildung aufgehalten. „Wo ist bitteschön, liebe Vikarsleute, Euer Problem?“

Texturen wie Rauchschwaden

Während ich höre, was mein Widerstand „sagt“, habe ich ein Déjà-vu. Diese Tonlage. Hat nicht in dieser unsere Mütter- und Vätergeneration geredet? Ein „1948-nach-der-Währungsreform“ klingelte immer ein bisschen mit, und die Achtundsechziger haben mit ihren „Heldengeschichten über den Nahkampf“ mit Oberkirchenräten und deren autoritärem Gebaren erst einmal klargestellt, was wir ihnen zu verdanken hätten. Das hat natürlich keiner so gesagt oder genauso gemeint. Aber das waren Texturen, die wie Rauchschwaden in der Luft lagen.

VuV bringen viele unterschiedliche Erfahrungen in die Ausbildung mit. Ich bin nach der Biographiearbeit im Eingangskurs des Vikariats jedes Mal tief bewegt von dem, was diese Generation an reflektiertem Leben im Gepäck hat. Was prägt sie? Das erste, das mir einfällt, ist die Polyphonie der Optionen von Lebensstilen, Kulturen und Berufswegen, die zu einem noch nie dagewesenen Maß angewachsen ist. Die Suggestion dieser Polyphonie ist ein knackiges „Mach-dein-Ding-draus“. Alles scheint möglich. Nichts steht fest. Damit wächst jedoch das Maß an Unberechenbarkeit. Man kann so leicht daneben liegen und das Richtige verpassen. Jede Entscheidung wird zu einem emotional und intellektuell aufwendigen Unterfangen. Mein Sohn nennt das die „Möglichkeitenparalyse“. Durch sie entsteht Angst. Denn die Kehrseite von Freiheit und Vielfalt ist eine überfordernde Verantwortlichkeit. Diese Generation soll sich selbst erfinden. Dem allen entspricht spiegelbildlich die erstaunliche Paarung von großem Autonomie- und ebenso
großem Sicherheitsbedürfnis. Autonomie für die Selbsterfindung, Sicherheit gegen den Druck der Verantwortlichkeit. Darum darf man bitteschön doch mal fragen, nach welchen Kriterien die „Großmeister“, die einen belehren und prüfen, ausgesucht werden. Für meine Generation (Jahrgang 1957) ging es immer irgendwie bergauf: mehr Wohlstand, mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie, mehr kirchliche Liberalität. Das Gute gewinnt. Allmählich. Nach der Wende 1989 schien die Geschichte fast am Ziel zu sein. Das wurde ja so diskutiert. Und nun erleben wir, dass wir möglicherweise den Peak des vermeintlich Guten überschritten haben.

Jetzt soll auf einmal alles anders werden. Neue Konzepte sollen her. Innovation und Transformation. Das überfordert, denn im Vikariat müssen die VuV die kirchlichen Traditionen kennen- und mit ihnen umgehen lernen, und gleichzeitig sollen sie Ideen für deren Überwindung beziehungsweise deren Überführung ins 21. Jahrhundert entwickeln. Was für eine Überschätzung der Möglichkeiten! Kein Wunder, dass die VuV nur das Beste wollen und Sorge haben, dass sie es nicht bekommen. Sie legen die Hürden hoch, weil die Herausforderungen tatsächlich groß sind. Und dabei waltet die ängstliche Sorge, Ziele zu verfehlen, Hürden zu reißen und nicht zu bekommen, was hülfe, sie zu überwinden.

Zudem hat diese Generation nicht mehr das Privileg jener Selbstverständlichkeit, das wir (im Westen), in zwar schon geminderten Graden, immer noch hatten: Kirche und Pfarramt waren akzeptierte Größen, und dem Pastor oder der Pastorin wurde immer noch ein irgendwie geschuldeter Respekt entgegengebracht. Pfarramt war an und für sich etwas Gutes. Heute ist es gut, wenn die, die es innehaben, gut sind. Der Rechtfertigungsdruck ist größer geworden.

Nicht so progressiv

Was folgt aus alledem für das Miteinander? Ich denke vor allem, dass die Generationen sich ihre Geschichten erzählen, damit das (relative) Recht beider Perspektiven auf Kirche und Gesellschaft durchschaubar wird. Und – das ist mein letzter Punkt und Herzensangelegenheit – wir müssen an jenen Themen und Fragestellungen gemeinsam arbeiten, die nicht alt werden und die jede Theologen*innen-Generation immer wieder, mehr als einmal, von vorne anfangen lässt: nämlich die basale(n) Grundfrage(n) der Theologie: Wie kann in einer weltlich geworden Welt überhaupt noch von Gott geredet werden? Weniger steht nicht auf dem Spiel.

Nun mache ich allerdings die Erfahrung, dass die VuV theologisch nicht immer so progressiv sind, wie man meinen möchte. Sie klagen ein kirchliches Outfit für das 21. Jahrhunderts ein, aber ihre Theologie bleibt bisweilen dahinter zurück. In einem Abschlussgespräch äußere ich einem Vikar gegenüber die Vermutung, dass das hohe Maß an innovativem Potenzial, das er für eine zeitgemäße Verkündigung zweifelsohne mitbrächte, nicht dem Innovationspotenzial seiner Theologie entspräche. „Stimmt“, antwortet er. „Meine Theologie ist ganz traditionell.“ Bei manchen, nicht bei allen, spielen beispielsweise traditionelle theistische Gottesbilder, ein exklusives Abendmahlsverständnis, die tradierte Sühneopfertheologie und eine stark individualisierte Frömmigkeit eine bedeutende Rolle. Das ist auch gar nicht zu kritisieren. Sie haben ihr (relatives) Recht. Interessant ist hierbei nur, dass der Ruf der VuV nach einer Kirche für das 21. Jahrhundert weniger die Theologie herauszufordern scheint, sondern vielmehr die Strukturen und die Gesamtperformance von Kirche.

Es gibt allerdings auch eine gegenläufige Erfahrung. Wenn wir im Theologischen Abschlusskurs Thesen zu einem Thema diskutieren, das die jeweilige Vikarsgruppe selbst gewählt hat, findet das meistens auf einem Flur des Ratzeburger Dom-
klosters statt. Wer seine theologischen Thesen einbringt, steht vor einer Pinwand, auf der er oder sie seine oder ihre Thesen vorher geschrieben hat. Einige VuV sitzen auf einem Billardtisch, der dort steht, andere hocken auf einer Holztreppe, von der aus man den Flur gut überblicken kann, wieder andere haben sich Stühle mitgebracht und ein paar sitzen auf dem Fußboden. Einer nach der anderen präsentiert theologische Leitsätze, die dann diskutiert werden. Mitunter ganz basal:

„Was bedeutet es, wenn Du sagst, dass die Liebe das einigende Prinzip des Göttlichen sei? Ist sie ein Affekt? Oder ist sie eine Kraft unter anderen Kräften, eine Dimension allen Lebens? Bleibt sie auch aus? Denkst Du Dir Gott als eine Person? Müssten wir Gott nicht non-theistisch denken?“

So ähnlich wird geredet, gestottert, getastet. Sätze werden ausprobiert, hingeworfen und wieder zurückgenommen. So geht Theologie! Und bisweilen lassen wir uns dabei – fiktiv – von Menschen über die Schulter schauen, die allen Glaubensfragen fernstehen. Was würden die Menschen vor der Kirchentür zu unserer Diskussion sagen? Himmelsgedöns? Oder könnten wir deutlich machen, dass unsere theologischen Diskussionen auf dem Flur des Domklosters an die Grundfragen menschlichen Lebens reichen, die alle Menschen betreffen, und dass darin auch die Frage nach dem guten und richtigen Leben steckt?

Die VuV mühen sich darum. Sie stellen sich der Herausforderung, Theologie im Modus der Ersten Person Singular zu treiben, eigene Antworten auf theologische Fragen zu finden, und nicht nur aufzusagen, was die Granden der Theologie einmal gedacht haben. Sie setzen die noch wenig erprobte eigene Theologie der Kritik der Kolleginnen und Kollegen aus. Manchmal tut dabei auch weh, erkennen zu müssen, wie sprachlos man eigentlich ist. Und dann sind wir froh, wenn wir uns ein paar Worte aus dem Gesangbuch leihen können, die der eigenen Klugheit voraus sind.

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