Gegen den Mainstream der Hitlerzeit

Unbekannter Märtyrer: der Wuppertaler reformierte Theologe Helmut Hesse (1916–1943)
Foto: Privatbesitz
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Helmut Hesse, 1940.

Viele Menschen, die aufgrund ihres christlichen Glaubens Widerstand gegen das Hitlerregime geleistet haben, sind in der Nachkriegszeit vergessen oder wenig gewürdigt worden. So auch Helmut Hesse (1916–1943). Der Berliner Historiker Manfred Gailus erinnert an einen kaum bekannten Märtyrer.

Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller oder Sophie Scholl kennt heute jeder interessierte Zeitgenosse. Doch wer kennt Helmut Hesse, den reformierten Wuppertaler Theologen, der vor 76 Jahren (1943) wegen mutiger Predigtworte für die verfolgten Juden verhaftet wurde und bald darauf im KZ Dachau im Alter von 27 Jahren verstarb? Viele unter den „Stillen Helden“ des christlichen Widerstands gegen das Hitlerregime sind während der Nachkriegszeit vergessen oder wenig gewürdigt worden. Zu diesen lange Zeit vergessenen „protestierenden Protestanten“ gehört neben der Historikerin Elisabeth Schmitz und dem „nichtarischen“ Juristen Friedrich Weißler auch der junge Elberfelder Theologe, ungeachtet einiger Gedenkaktivitäten zu seinem 75. Todestag im vergangenen Jahr. Wer war Helmut Hesse und warum verstarb er so früh?

Geboren am 11. Mai 1916 in Bremen, wuchs der jüngste Sohn des reformierten Pfarrers Hermann Albert Hesse und seiner Ehefrau Martha im frommen Tal der Wupper auf. Die Atmosphäre des Pfarrhauses war gleichermaßen vom ostfriesischen Reformiertentum des Vaters wie vom schwäbischen Pietismus der aus Korntal bei Stuttgart stammenden Mutter geprägt. Wie seinen drei älteren Brüdern war ihm der Weg zur Theologie schon in die Wiege gelegt. Das ereignisreiche Umbruchjahr 1933 erlebte er als 17-jähriger Gymnasiast. Wie seine älteren Brüder engagierte sich Hesse mit Eifer im Elberfelder Schülerbibelkreis – das hieß neben Bibellektüre Geselligkeit im Sinne der bündischen Jugendbewegung: Kluft, Freizeiten und Fahrten, Zupfgeigenhansl und Zeltlager.

Von der politischen Dynamik des „nationalen Aufbruchs“ blieben die Hesse-Söhne im Alter zwischen 24 und 17 Jahren nicht unberührt. Das überlieferte Bild der politischen Einstellungen im Pfarrhaus Hesse um 1933 zeigt Widersprüchliches. Es gab nicht nur Distanz. Die Überführung der kirchlichen Jugendbünde in die Hitler-Jugend im Dezember 1933 setzte Hesses legaler kirchlicher Jugendarbeit ein Ende. Im September 1934 schloss sich der 18-jährige Gymnasiast der SA an und gehörte über ein Jahr lang der militanten NS-Organisation an. Seine Motive bleiben noch heute ein Stück weit rätselhaft. Zeitgleich mit der Aufnahme des Studiums im Oktober 1935 begründete er seinen Austritt aus der SA mit den sonntäglichen Verpflichtungen als angehender Pfarrer. Nach dem Vorbild des Vaters, der zu den führenden reformierten Bekenntnispfarrern gehörte und enge Beziehungen zu Karl Barth unterhielt, war der Weg des jungen Hesse zur Kirchenopposition vorgezeichnet: In Halle zeigte er sich im Sommersemester 1936 engagiert im Kampf gegen deutschchristliche Studenten, 1937 wechselte er für ein Jahr nach Basel zu Barth, um bei dem verehrten Spiritus Rector der Kirchenopposition zu studieren.

Wechsel nach Basel

Gemeinsam mit der ebenfalls bei Barth studierenden Berliner Pfarrerstochter Ruth Wendland unternahm Hesse im März 1938 eine Informationsreise nach Österreich und Ungarn. Sein Reisetagebuch liefert lebendige Schilderungen eines Augenzeugen des „Anschlusses“ Österreichs: Begeisterung für den „Führer“, bei Pfarrern und Kirchenführern wenig Kenntnis vom deutschen Kirchenkampf, vielfach opportunistische Anlehnung an Kirchenregierungen der Deutschen Christen (DC). Als die beiden Reisenden am Abend des 26. März in Wien Zuflucht im Josephstädtischen Theater suchten, mussten sie dort die Übertragung einer Rede Görings anhören: „Die andern wenigen Besucher, meist Juden, waren über diese unvorhergesehene Bereicherung des Programms wenig erbaut, vollends, wo sie hören mussten, es gehöre zum Vierjahresplan, dass in vier Jahren kein Jude mehr in Wien wohne: ‚Der Jude? Der muss raus!’ – Etwas merkwürdig wirkt dann anschließend der Prolog des ‚Apostelspieles’, wo von der Wiederkunft Christi die Rede ist.“

Wie es heißt, seien der junge Hesse und Ruth Wendland befreundet gewesen. Mehrere Fotos zeigen sie bei gemeinsamen Unternehmungen: eine winterliche Schneewanderung in den Schweizer Bergen oder zur Teestunde im Hause eines Hochschullehrers. Aber die beiden Pfarrerskinder konnten zueinander nicht finden. Nach der gemeinsamen Reise gingen ihre Wege auseinander. Im Mai 1939 schrieb Hesse an Barth in Basel, dass ihm die wissenschaftliche Hausarbeit „Das Gebet bei den Propheten“ noch „einiges Kopfzerbrechen“ bereite. Wenige Monate später, im September 1939 – Hitlers Krieg hatte soeben begonnen – absolvierte der junge Hesse die Prüfungen bei der Prüfungskommission der rheinischen Bekennenden Kirche (BK). Das war ein Heimspiel für ihn, denn die prominente Wuppertaler Pfarrerfamilie Hesse war in der rheinischen Kirchenopposition bekannt. Nach Wiederholung der mündlichen Prüfung im Februar 1940 hatte Hesse im Alter von 23 Jahren die Erste Theologische Prüfung mit „Im Ganzen gut“ bestanden.

Aus gesundheitlichen Gründen blieb Helmut Hesse vom Kriegsdienst verschont. Alle drei Brüder wurden eingezogen, zwei fielen an der Ostfront. Sein Vikariat seit März 1940 in Oberkassel bei Bonn endete mit gesundheitlichem Zusammenbruch. Erst im Januar 1941 konnte er die Ausbildung „zu Hause“ in der reformierten Gemeinde Elberfeld fortsetzen. Neue Schwierigkeiten kündig-
ten sich an. Infolge starken staatlichen und kirchlichen Drucks auf die illegalen Prüfungsorgane der BK schloss der Rat der rheinischen BK im Juni 1941 das „Legalisierungsabkommen“ mit dem
Konsistorium in Düsseldorf. Demnach sollten Kandidaten der BK zukünftig von der Kommission des Konsistoriums unter Hinzuziehung von BK-Pfarrern geprüft werden. Vater und Sohn Hesse lehnten einen solchen Kompromiss entschieden ab. Die seit Jahren gewachsene Kluft zwischen dem Pfarrhaus Hesse und der rheinischen BK-Leitung vertiefte sich bis zum faktischen Bruch. Im Frühjahr 1943 kam es in reformiert Elberfeld zu einem „einmaligen Vorkommnis“ (Herwart Vorländer): Ein von der BK nicht autorisiertes Gremium prüfte den Kandidaten Hesse und im anschließenden Gottesdienst wurde er durch seinen Vater Hermann Albert Hesse „zum Diener am Wort in der nach Gottes Wort reformierten Kirche“ ordiniert.

Helmut Hesse amtierte nun als Prediger in einer Teilgemeinde von reformiert Elberfeld, man könnte von einer Personalgemeinde Hesse sprechen, deren Gottesdienste etwa 150 bis 200 Personen besuchten. Gemeinsam mit seinem Vater leitete der Sohn die Gottesdienste am 23. Mai und 6. Juni 1943 im Kirchsaal in der Kasinogartenstraße. Seine beiden Predigten wurden von der Gestapo protokolliert und führten am 8. Juni zur Verhaftung von Vater und Sohn. Seine theologische und kirchenpolitische Unbedingtheit hatte sich nach allen persönlichen Krisen und beruflichen Schwierigkeiten nicht gemäßigt, sondern noch einmal radikalisiert. Am 23. Mai gedachte er öffentlich der verfolgten Juden und verlas trotz Verbots Namen inhaftierter Mitstreiter, darunter Martin Niemöller, Heinrich Grüber und Katharina Staritz, die sich als Breslauer Stadtvikarin verfolgter Christen jüdischer Herkunft angenommen hatte. Die Versammlung am Sonntagabend des 6. Juni stand im Zeichen schwerer Verwüstungen Wuppertals durch nächtliche Fliegerangriffe. Hermann Albert Hesse sah darin ein Gottesgericht. Helmut Hesse zitierte in seiner Predigt aus dem „Münchener Laienbrief“ (Hermann Diem) und führte aus: „Als Christen können wir es nicht mehr länger ertragen, dass die Kirche in Deutschland zu den Judenverfolgungen schweigt. Was uns dazu treibt, ist das einfache Gebot der Nächstenliebe. Die Judenfrage ist eine evangelische und keine politische Frage. Die Kirche hat jedem Antisemitismus in der Gemeinde zu widerstehen. Dem Staat gegenüber hat die Kirche die heilsgeschichtliche Bedeutung Israels zu bezeugen und jedem Versuch, das Judentum zu vernichten, Widerstand zu leisten. Jeder Nichtarier, ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der unter die Mörder Gefallene.“ Das Gestapoprotokoll über diesen denkwürdigen Abend vermerkt, die etwa 150 Besucherinnen und Besucher seien von den Worten des Predigers sichtlich beeindruckt gewesen.

Solidaritätsaktionen

„Mit 6 Mann“, so notierte Pfarrerkollege Hermann Klugkist Hesse im Tagebuch, „haben sie gestern morgen Hesse und Sohn abgeholt und das ganze Büro mitgenommen. Ich war heute Morgen da. Frau Pastor sehr erregt, fanatisch, leidenschaftlich, bitter.“ Während der Hausdurchsuchung fand die Gestapo bei Helmut Hesse Privatbriefe, die auf ein Liebesverhältnis mit einer verheirateten Frau schließen lassen. Schon bald war dieser Sachverhalt in Elberfeld kein Geheimnis mehr, sondern ging als Gerücht von Mund zu Mund. Für die Gestapo war diese Privatangelegenheit weniger gravierend als Hesses brisante theologische und kirchenpolitische Äußerungen. Aber für die reformierte Gemeinde Elberfeld, in der „Kirchenzucht“ groß geschrieben wurde, war die „Sache mit Helmut“ äußerst belastend. Schon bald stand das enthüllte Geheimnis im Zentrum der örtlichen kirchlichen Aufmerksamkeit. An Solidaritätsaktionen für die beiden Verhafteten war unter diesen Umständen kaum zu denken: zunächst wegen der langwierigen Streitereien um den Kurs der reformierten Gemeinde, durch die sich beide Hesses isoliert hatten, und dann kam noch diese fatale „Sache mit Helmut“ hinzu.

Nach monatelangen Vernehmungen im Polizeigefängnis Wuppertal-Barmen erhielt die Staatspolizeileitstelle Düsseldorf im Oktober aus Berlin den Auftrag, Helmut Hesse bis auf Weiteres in „Schutzhaft“ zu nehmen. Zur Begründung hieß es, er habe sein Amt als Geistlicher missbraucht, um „in versteckter Form von der Kanzel herab Angriffe gegen die nat. soz. Staatsführung zu richten, Unruhe in die Bevölkerung (zu tragen) und erwarten laesst, er werde in Freiheit sich erneut staatsabtraeglich verhalten.“ Vater und Sohn Hesse seien in das KZ Dachau zu überführen. Die Einlieferung erfolgte am 14. November. Am 25. November 1943 ging bei der Gestapo Düsseldorf aus dem KZ Dachau folgendes Telegram ein: „Betr.: Ableben des Sch.-Gefg. hesse, Helmut, geb. 11.5.16 zu Duesseldorf. (...) Am 24.11.43/12.00 Uhr im hiesigen Lager an den Folgen von Sepsis post anginam verstorben. – Es wird gebeten, die Angehoerigen (als solche sind hier bekannt) Mutter: Martha Hesse. Wuppertal. Adolf Hitlerstr. 34 entspr. dem Erlass des rfss vom 21.5.42 (...) zu verstaendigen.“

Helmut Hesse war nach langer Haft bereits stark geschwächt in Dachau angekommen. Der Entzug lebenswichtiger Medikamente, so heißt es, habe bei ihm innerhalb von zehn Tagen zum Tode geführt. Die Erschütterung in Elberfeld war groß. Aber die schlimme Nachricht ebnete nicht alle Meinungsverschiedenheiten in reformiert Elberfeld ein. Helmut Hesse wurde schließlich nicht in Elberfeld beigesetzt, sondern am 8. Januar 1944 in Weener (Ostfriesland). Sein Vater Hermann Albert Hesse wurde am 18. April 1944 aus dem Lager entlassen. Auch er ging zunächst nicht nach Elberfeld, sondern kehrte in seine alte Heimat Ostfriesland zurück. Er verstarb 1957 im Alter von 80 Jahren und wurde auf dem Friedhof der Niederländisch-reformierten Gemeinde Elberfeld bestattet.

Helmut Hesses Leben war ein Leben gegen den vorherrschenden deutschen Mainstream der Hitlerzeit. Er erkannte früh, dass für das Christentum viel auf dem Spiel stand, dass es um seine Existenz ging. Konsequent wie nur wenige hielt er bis zuletzt an den Beschlüssen der Bekenntnissynoden von Barmen und Berlin-Dahlem fest. Kein anderer evangelischer Theologe predigte so offen und so entschieden gegen die Judenverfolgung. Der Preis für diese Unbedingtheit war hoch. Gegen Ende der Kirchenkampfzeit waren Vater und Sohn Hesse auch unter ihren „Glaubensbrüdern“ in der BK isoliert. Selbst von dort hatten sie keine größere Solidarität mehr zu erwarten, als sie 1943 inhaftiert und damit buchstäblich „unter die Räuber“ fielen. Der junge Hesse war gewiss ein unbequemer Kritiker. Aber auch schwierigen Märtyrern gebührt angemessene Erinnerung und Würdigung.

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