Gewaltlos in einer Zuckerwattewelt

Die Fehler in der Kundgebung der EKD-Synode zu Frieden und Gerechtigkeit
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Die Kundgebung der EKD-Synode in Dresden zum Thema Frieden setzt konsequent auf Gewaltlosigkeit. Doch in welcher Welt leben diejenigen, die das beschlossen haben? Das fragt Johannes Fischer, Professor emeritus für Theologische Ethik an der Universität Zürich. 

Bei ihrer Tagung im November 2019 in Dresden hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland eine „Kundgebung“ zum Thema „Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens“ beschlossen. Die Synodalen knüpften an die EKD-Denkschrift zum Thema Frieden aus dem Jahr 2007 an, in dem das Leitbild des „Gerechten Friedens“ den friedensethischen Fokus bildete. Die aktuelle Kundgebung legt sich allerdings im Unterschied zur Denkschrift auf einen konsequenten „Weg der Gewaltfreiheit“ fest. Die damit verbundende Vorstellung eines christlichen Pazifismus, so wie er in der Kundgebung beschrieben wird, muss sich aber nicht nur den Vorwurf gefallen lassen, die Welt schön zu reden. Er ist zudem die Folge einer fundamentalen theologischen Verirrung.

Die Denkschrift aus dem Jahr 2007 reagierte auf die veränderte Situation nach dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West, mit der sich auch der Auftrag der Bundeswehr gewandelt hatte. An die Stelle der militärischen Abschreckung eines potenziellen Gegners waren Einsätze wie im Kosovo und in Afghanistan getreten, die in der deutschen Öffentlichkeit umstritten waren und neue friedensethische Fragen aufwarfen. Die Denkschrift lehnte derartige Einsätze nicht generell ab, zog ihnen aber enge Grenzen. Sie trat für einen unbedingten Vorrang gewaltfreier, ziviler Formen der Konfliktbearbeitung ein, schloss aber den Einsatz militärischer Mittel im Sinne „rechtserhaltender Gewalt“ als ultima ratio nicht aus.

Die Kundgebung der EKD-Synode begründet ihre eigene Veranlassung damit, dass sich die Situation seit der Friedensdenkschrift von 2007 erneut verändert habe, und sie verweist dazu auf eine Reihe von globalen, regionalen und gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen. In ihrer Reflexion darauf knüpft sie einerseits an die Friedensdenkschrift an, rückt aber andererseits auch von ihr ab. Sie knüpft an sie an, indem sie das Leitbild des Gerechten Friedens aufnimmt, dabei aber den Akzent auf diese Entwicklungen legt, durch die Gerechtigkeit und Frieden gefährdet sind. Dazu gehören der Klimawandel mit der Folge von Migrationsdruck und zwischenstaatlichen Konflikten, aber auch die wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit im globalen und nationalen Maßstab. Auch das Ringen um gesellschaftlichen Frieden, die Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit werden von der Kundgebung in den weiteren Zusammenhang des Bemühens um Gerechtigkeit und Frieden eingeordnet.

Verpflichtung auf Gewaltfreiheit

In einem entscheidenden Punkt allerdings rückt die Kundgebung von der Friedensdenkschrift von 2007 ab, ohne dass dies ausdrücklich gesagt wird, eben in ihrer Festlegung auf einen konsequenten „Weg der Gewaltfreiheit“. Vom Einsatz militärischer Mittel im Sinne rechtserhaltender Gewalt ist jedenfalls nirgendwo die Rede. Vielmehr wird das Leitbild des Gerechten Friedens im Sinne der Verpflichtung auf Gewaltfreiheit interpretiert: „Das Leitbild des Gerechten Friedens setzt die Gewaltfreiheit an die erste Stelle.“ Am Klarsten kommt die friedensethische Position der Kundgebung wohl in folgendem Zitat zum Ausdruck:

„Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, Gemeinschaften und Staaten in der Lage sind, Probleme und Konflikte in allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens auf konstruktive und gewaltfreie Weise zu bearbeiten. Es gibt erprobte Konzepte und Instrumente dafür, Wege aus Gewalt und Schuld zu finden, einander vor Gewalt zu schützen und Versöhnungsprozesse zu gestalten – in Friedenszeiten wie in Krisen- und Kriegssituationen. Auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens hören wir Gottes Ruf in die Gewaltfreiheit. Wir folgen Jesus, der Gewalt weder mit passiver Gleichgültigkeit noch mit gewaltsamer Aggression begegnet, sondern mit aktivem Gewaltverzicht. Dieser Weg transformiert Feindschaft und überwindet Gewalt, und er achtet die Würde aller Menschen, auch die von Gegnerinnen und Gegnern.“

Der erste Satz dieses Zitats besteht in einer empirischen Behauptung, mit der die Weichen gestellt werden in Richtung auf die Selbstverpflichtung auf den Weg der Gewaltlosigkeit. Daher hängt viel davon ab, ob diese Behauptung wahr ist. Gewiss gibt es Beispiele dafür, dass Menschen, Gemeinschaften und Staaten in der Lage waren, Konflikte auf konstruktive und gewaltfreie Weise zu bearbeiten. Doch lässt sich das für alle Konflikte „in allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens“ verallgemeinern? Zeigt die Erfahrung nicht mindestens ebenso, dass Menschen, Gemeinschaften und Staaten dazu nicht in der Lage waren und sind? Welche „erprobten Konzepte und Instrumente“ hätte es gegeben, um mit dem menschenverachtenden Terrorregime des Islamischen Staats (IS) im Irak und in Syrien „Wege aus Gewalt und Schuld zu finden“ und „Versöhnungsprozesse zu gestalten“? Und was wären die „Konzepte und Instrumente“ am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im Blick auf Hitler-Deutschland gewesen?

Dem Dilemma nicht ausweichen 

Es ist diese empirische Behauptung über die Beschaffenheit der Welt, an die sich die Selbstbekundung der in Dresden Versammelten anschließt, dass sie „Gottes Ruf in die Gewaltfreiheit“ hören und Jesus folgen wollen, der Gewalt mit aktivem Gewaltverzicht begegnet sei. Das verbindet sich mit dem Appell an die „politisch Verantwortlichen …, militärische Gewalt und kriegerische Mittel zu überwinden“.

Wenn die Welt so beschaffen ist, wie es hier behauptet wird, dann ist das alles vollkommen konsequent. Aber was ist, wenn die Welt nicht so beschaffen ist, sondern vielmehr so, wie Dietrich Bonhoeffer dies in seiner Ethik im Kapitel über die „Struktur verantwortlichen Lebens“ reflektiert, nämlich dass Menschen in Situationen verstrickt werden können, in denen jede Entscheidung Schuld bedeutet, sowohl die Anwendung von Gewalt mit all ihren Folgen als auch der Verzicht darauf, einem Aggressor mit Gewalt zu widerstehen, um Menschen vor Misshandlung, Vergewaltigung, Folter, Gewissensterror oder Mord bis hin zum Genozid zu retten? Bonhoeffer insistierte darauf, dass eine christliche Ethik sich vor einem solchen Dilemma nicht drücken dürfe, sondern dass sie dem Kriterium der „Wirklichkeitsgemäßheit“ genügen müsse. „Kein Mensch hat den Auftrag, die Welt zu überspringen und aus ihr das Reich Gottes zu machen.“ Für Bonhoeffer gehört daher zur Struktur verantwortlichen Lebens „die Bereitschaft zur Schuldübernahme“, und er schreibt dies gerade mit Blick auf das Problem der Gewalt.

In der Kundgebung der EKD-Synode trifft man nirgendwo auch nur im Ansatz auf eine derartige Reflexion. Der Eindruck drängt sich auf, dass man sich hier die Welt so zurechtlegt, wie es das Ethos konsequenter Gewaltfreiheit erfordert: Alle Probleme und Konflikte lassen sich konstruktiv und gewaltfrei lösen. Man fragt sich, in welcher Welt diejenigen leben, die das beschlossen haben.

Theologische Verirrung

Letztlich beruht all das auf einer fundamentalen theologischen Verirrung. Es fehlt in der Kundgebung der EKD-Synode an einer theologisch-sachgemäßen Unterscheidung zwischen dem Frieden Gottes und dem Frieden in der Welt. Letzterer besteht in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Zuständen, die im menschlichen Handeln angestrebt und bewirkt werden. Als solche Zustände kann man zum Beispiel auflisten: „ein Leben in Würde, den Schutz vor Gewalt, die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen, den Abbau von Ungerechtigkeit und Not, die Stärkung von Recht, Freiheit und kultureller Vielfalt.“ In der Kundgebung freilich dient genau diese Auflistung dazu, den Frieden Gottes zu charakterisieren, nämlich im Hinblick darauf, was er alles umfasst. Dazu heißt es: „Der Friede Gottes ist umfassend, unsere Umsetzungen sind partikular.“ Die leitende Vorstellung ist offensichtlich, dass Christen mit ihrem Handeln den Frieden Gottes in die Welt hinein „umsetzen“, indem sie diejenigen weltlichen Zustände schaffen, die der Friede Gottes umfasst. In dieser Weise haben sie an der „Friedensbewegung Gottes in diese Welt hinein“ teil. Da aber der Friede Gottes auch die Gewaltfreiheit umfasst, muss die Schaffung dieser weltlichen Zustände gewaltfrei geschehen. Das freilich setzt voraus, dass diese Zustände – z.B. der „Schutz vor Gewalt“ – gewaltfrei geschaffen werden können. Also muss die Welt so beschaffen sein, dass dies gewährleistet ist. So kommt es zu jener erstaunlichen Behauptung über die Beschaffenheit der Welt.

Christlicher Pazifismus, der diesen Namen verdient, ist immer etwas anderes gewesen. Er ist nicht darauf gerichtet, durch menschliches Handeln bestimmte innweltliche Zustände zu bewirken, sondern vielmehr darauf, den Geist des Friedens in die Welt hinein zu tragen, und zwar durch ein Handeln, das diesen Geist an sich selbst bezeugt und so in die Welt hinein vermittelt. Denn für den christlichen Pazifisten ist der Gegensatz zwischen Frieden und Unfrieden von geistlicher Art. Der Geist des Friedens (Gal 5,22) steht hier gegen den Ungeist des Hasses, des Fanatismus, der Menschenverachtung, der Gier und der Gewalt. Und so ist auch der Friede Gottes von geistlicher Art, nämlich Präsenz des Ewigen in den zeitlichen Verhältnissen der Welt: Wo immer Gewaltverzicht geübt und dem Gebot der Feindesliebe entsprechend gehandelt wird, da ist Gottes Schalom inmitten einer friedlosen Welt gegenwärtig. In diesem Sinne zielt das christlich-pazifistische Handeln statt auf die Herstellung bestimmter innerweltlicher Zustände auf das Gegenwärtigwerden des Ewigen im Zeitlichen, des Geistes des Friedens in einer von Unfrieden und Gewalt zerrissenen Welt. Darin liegt der Sinn des Gewaltverzichts.

Gewiss greift auch das christlich-pazifistische Handeln in den innerweltlichen Zusammenhang ein. Der Verzicht auf Gewalt hat Folgen. Aber christlicher Pazifismus beruht nicht auf einem konsequentialistischen Kalkül, wonach Gewaltlosigkeit unterm Strich gerechnet letztlich gute Folgen hat und sich somit auszahlt. Schon gar nicht beruht er auf empirischen Annahmen über die Beschaffenheit der Welt, wonach alle Konflikte, welcher Art auch immer sie seien, gewaltlos gelöst werden können. Ganz im Gegenteil gibt sich der christliche Pazifist keinerlei Illusionen hin über das abgrundtief Böse in der Welt. Für ihn resultiert aus ihm die Frage, aus welchem Geist Menschen letztlich leben können und leben wollen. Es ist die Antwort auf diese Frage, in welcher sein Pazifismus begründet ist. Dabei ist er sich dessen bewusst, dass angesichts des Zustands der Welt der Weg der Gewaltlosigkeit auch ins Martyrium führen kann. So wurden im Deutschland des Zweiten Weltkriegs Menschen hingerichtet, wenn sie den Dienst mit der Waffe verweigerten.

 Fehlende geistliche Dimension

Es dürfte mit dem Gesagten deutlich geworden sein, dass die Unterscheidung zwischen dem Frieden Gottes und dem Frieden in der Welt die Unterscheidung zwischen zwei Arten des Handelns nach sich zieht. Bei der ersten zielt das Handeln darauf, den Geist des Friedens in die Welt hinein zu vermitteln, indem es diesen an sich selbst vergegenwärtigt und bezeugt. Bei der zweiten zielt das Handeln darauf, bestimmte Zustände in der Welt zu bewirken, mit denen Frieden und Gerechtigkeit verwirklicht werden. Der Weg der Gewaltlosigkeit gehört der ersten Art des Handelns zu. In Anbetracht des Bösen in der Welt stößt dieser Weg im Blick auf die zweite Art des Handelns an seine definitiven Grenzen. Oder wäre der islamische Staat (IS) mit Gewaltlosigkeit aufzuhalten gewesen?

Hier liegt die theologische Verirrung der Kundgebung der EKD-Synode. Für sie besteht die Teilhabe „an der Friedensbewegung Gottes in diese Welt hinein“ nicht darin, Gottes Geist als einen Geist des Friedens in die Welt hinein zu vermitteln, sondern darin, bestimmte innerweltliche Zustände anzustreben und zu verwirklichen, die Frieden bedeuten oder friedensfördernd sind, wie „ein Leben in Würde“, der „Schutz vor Gewalt“ oder der „Abbau von Ungerechtigkeit und Not“. Das alles fällt unter die zweite Art des Handelns. Gleichwohl legt sich die Kundgebung auf den Weg der Gewaltlosigkeit fest. Dazu muss sie sich, wie gesagt, zu der Behauptung versteigen, dass „Probleme und Konflikte in allen Bereichen gesellschaftlichen und politischen Lebens auf konstruktive und gewaltfreie Weise“ bearbeitet werden können.

In einer Welt, in der es das Böse gibt, ist konsequenter Pazifismus wohl nur in seiner religiösen, geistlichen Gestalt eine mögliche und ehrliche Option. Alle anderen Begründungen des Pazifismus tragen die Tendenz in sich, die Welt schönzureden, damit sie halbwegs plausibel erscheinen. Dafür ist die Kundgebung der EKD-Synode ein Beispiel. Und sie ist ein Dokument einer Theologie, der es am Sinn für die geistliche Dimension christlichen Lebens fehlt und die sich stattdessen in gesellschaftlichem und politischem Aktionismus zu verlieren droht. Gewiss, zum christlichen Handeln gehören essenziell auch Diakonie und politisches Engagement. Aber als christliches Handeln zielen auch Diakonie und politisches Engagement nicht einfach darauf ab, die Zustände in der Welt zum Guten zu verändern, sondern darauf, Gottes Geist in die Welt zu tragen. Selbst noch in einem Handeln, das als ultima ratio zum Mittel der Gewalt greift, kann sich dieser Geist bezeugen, wie Bonhoeffer in seiner Ethik reflektiert hat, nämlich wenn es im Wissen um die eigene Angewiesenheit auf Gottes Vergebung und Barmherzigkeit geschieht.

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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