Auf dem Weg zur Sekte

Wie sich die evangelische Kirche religionssoziologisch verändert

Die EKD und ihre Gliedkirchen werden immer mehr zur Sekte, meint der Wiener Systematische Theologe Ulrich Körtner. Sicher nicht im landläufigen dogmatisch-wertenden Sinne des Begriffes, aber in ihrem religionssoziologischen Mustern.

Ob Klimaschutz, Flüchtlings- und Migrationspolitik oder Friedensethik: Die evangelische Kirche entwickelt sich zur Sekte. Diese Feststellung ist nicht dogmatisch-wertend gemeint, sondern als religionssoziologische Beschreibung zu verstehen, die sich der kirchensoziologischen Typologie Ernst Troeltschs bedient.

In seinem 1912 erschienenen Standardwerk über „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ unterscheidet Troeltsch (1865–1923) drei Haupttypen christlicher Gemeinschaftsbildung oder, wie es sich ausdrückt, „der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee: die Kirche, die Sekte und die Mystik“. Während der Typus der Kirche als Heils- und Gnadenanstalt – wir können auch sagen: als Institution der Heilsvermittlung – in Erscheinung tritt, handelt es sich beim Sektentypus um „die freie Vereinigung strenger und bewusster Christen, die als wahrhaft Wiedergeborene zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringeren Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und in der Erwartung des kommenden Gottesreiches“. Die Mystik schließlich sucht die persönliche Gottunmittelbarkeit in der Innerlichkeit des Individuums.

Zwischen den drei Typen gibt es in Geschichte und Gegenwart Überschneidungen. Auch kommt es immer wieder zu Umformungen, aber als Idealtypen christlicher Gemeinschaftsbildung lassen sie auch heute unschwer erkennen. Alle drei Typen kommen als komplementäre Erscheinungen sowohl im Katholizismus als auch im Protestantismus vor. Die protestantische Sekte wie auch die protestantische Mystik sind aber nicht einfach als Fortsetzung ihrer katholische Vorgänger zu verstehen, sondern haben sich auf dem Boden des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen „und der persönlichen Ueberzeugungsreligion“ (Troeltsch) höchst eigenständig entwickelt.

Historisch findet Troeltsch den protestantischen Sektentypus in der Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts, Züge desselben aber auch im Calvinismus mit seiner strengen Kirchenzucht und seinem Streben nach Heiligung. Das eigentliche Wesen des Sektentypus in der Zeit der Reformation war, wie Troeltsch aufzeigt, „die Heiligkeitsgemeinde im Sinne der Bergpredigt und im Sinne der Freiwilligkeitsgemeinde gereifter Christen; die Zurückhaltung von Staat, Amt, Recht, Gewalt, Eid, Krieg, Blut und Todesstrafe“. Luther hingegen unterschied zwischen dem Ethos der Bergpredigt und dem Naturrecht, das als Erhaltungsordnung der sündigen Welt, sein relatives Recht behält, zwischen Person und Amt, zwischen dem Reich Gottes zur Rechten und zur Linken.

In Troeltschs Augen ist das Ethos, das im neutestamentlichen Evangelium gründet, ein Ideal, das ohne eine neue Welt nicht zu verwirklichen ist, das aber in der fortbestehenden „irdischen Welt ohne Kompromiß nicht durchführbar ist. Daher wird die Geschichte des christlichen Ethos zu einem immer neuen Suchen nach diesem Kompromiß und zu immer neuen Bekämpfungen der Kompromißgesinnung.“

Von solchem Ringen zeugt auch die evangelische Sozialethik im 20. Jahrhundert nicht minder wie synodale Stellungnahmen und Denkschriften zu den großen sozialethischen Themen. Doch in jüngerer Zeit lässt sich eine deutliche Verschiebung der Gewichte zwischen Kirchentypus, Sektentypus und Mystik hin zum Sektentypus mit mystischen Einschlägen beobachten, und zwar nicht nur auf der Ebene von Synoden und Kirchenleitungen, sondern auch in den Gemeinden.

Jüngstes Beispiel ist dafür die friedensethische Kundgebung der EKD-Synode vom 10.-13. November in Dresden, wie Johannes Fischer in seinem zeitzeichen-Kommentar  scharfsichtig analysiert hat. Während die Friedensdenkschrift von 2007 noch von militärischer Gewalt als ultima ratio spricht und nach dem Vorbild der klassischen Lehre vom gerechten Krieg Kriterien für den ethisch zu rechtfertigenden Einsatz militärischer Mittel als rechtserhaltender oder -wiederherstellender Gewalt aufstellt, nimmt die Kundgebung „Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens“ eine radikalpazifistische Position ein. Fischer hat dazu in seiner Kritik alles Erforderliche gesagt.

Die in der EKD und ihren Gliedkirchen sich breitmachende Sektenmentalität im Sinne Troeltschs trat schon 2013 in der Badischen Landeskirche in Erscheinung, als diese sich zur „Kirche des gerechten Friedens“ erklärte. In der Dresdner Kundgebung heißt es nun: „Auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens hören wir Gottes Ruf in die Gewaltfreiheit. Wir folgen Jesus, der Gewalt weder mit passiver Gleichgültigkeit noch mit gewaltsamer Aggression begegnet, sondern mit aktivem Gewaltverzicht.“

Demgegenüber heißt es in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, die heute doch in allen Landeskirchen in Geltung steht: „Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“

In der Dresdner Kundgebung werden die Themen Klimaschutz und Migrationspolitik mit dem Friedensthema verknüpft und ebenfalls im Sinne eines radikalen Sektenethos behandelt, das sich von der klassischen reformatorischen Zwei-Regimenten-Lehre distanziert. Die evangelische Kirche agiert in einer Weise, die zwar beansprucht, die politische Dimension des Evangeliums ernst zu nehmen, im Ergebnis aber auf eine antipolitische, tendenziell anarchische Haltung hinausläuft, die ein gebrochenes Verhältnis zum Staat und zur staatlichen Gewalt einschließlich militärischer Mittel verrät, ohne die auch der demokratische Rechtsstaat nicht bestehen kann. „In ihrer vermeintlich strukturell notwendigen und theologisch legitimierten Kompromisslosigkeit ist“ diese Form von politischer Theologie „bereit, den gegenüber der Kirche notwendig antagonistisch strukturierten Raum des genuin Politischen faktisch aufzulösen“, wie der evangelische Theologe Günter Thomas richtig feststellt.

Die Spannungen zwischen dem Kirchentypus und dem Sektentypus sind soziologisch offenkundig. Einerseits sind die evangelischen Kirchen weiterhin als Körperschaften öffentlichen Rechts mit dem Staat interagierende Institutionen und Organisationen. Nur deshalb gibt es weiter konfessioneller Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und Militärseelsorge, Krankenhausseelsorge, kirchliche Vertreter in staatlichen Ethikkommissionen und die Präsenz der Kirchen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Andererseits versteht sich die Kirche zunehmend als eine zivilgesellschaftliche Bewegung, für die der Kirchentag exemplarisch ist. Zwischen diesem und den verfassten Landeskirchen sowie der EKD bestehen enge Verflechtungen. Wie die Grenzen zwischen Institution und Bewegung verschwimmen, lässt sich derzeit gut an der Initiative für ein Rettungsschiff im Mittelmeer studieren.

Interessanterweise ist die Dominanz des Sektentypus keine Frage politischer Präferenzen. Es geht auch nicht um den Gegensatz zwischen liberal-volkskirchlichem und evangelikalem oder pietistisch-konservativem Protestantismus. Schließlich gehört der Sektentypus auch zum Erbe des Pietismus.

Welche Konsequenzen die Dominanz des Sektentypus nicht nur für die Ethik, sondern auch für das Kirchenverständnis und die künftige Gestalt der evangelischen Kirchen hat, scheint mir noch längst nicht ausreichend bedacht. In seinen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ schreibt Troeltsch: „Das Problem der Organisation religiöser Gemeinschaften ist heute dunkler als jemals. Die Lage am Anfang der Reformation ist mit der Erstarkung von Sekte und Spiritualismus und mit der Fraglichkeit des Verhältnisses von Kirche und Staat wiedergekehrt.“ Das sind Sätze aus dem Jahr 1912. Auch wenn die heutige politische und gesellschaftliche Lage eine andere ist, besteht das von Troeltsch benannte Kernproblem fort.

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