Die illegale Pfarrerin

Wie Greti Caprez-Roffler Geschichte schrieb

Greti Caprez-Roffler wurde 1931 zur ersten Pfarrerin der Schweiz gewählt – in einem Bergdorf und zu einer Zeit, als das Amt auch in Deutschland noch Männern vorbehalten war. Der Skandal bewog sogar Karl Barth zu einer Intervention. Erst über dreißig Jahre später wurden Frauen zum Pfarramt zugelassen, in Deutschland wie in der Schweiz. Die Journalistin Christina Caprez hat sich in ihre Großmutter  hineinversetzt.

Das Foto zeigt mich an meinem 25. Geburtstag, dem 17. August 1931. Ich hatte ein abenteuerliches Jahr hinter mir. Dass es der Anfang einer aufregenden Karriere sein würde, ahnte ich damals nicht.

Den 24. Geburtstag hatte ich noch in São Paulo gefeiert. Gian, mein Mann, arbeitete dort als Ingenieur am Polytechnikum; ich lernte für mein Schlussexamen in Theologie. Und ich wünschte mir ein Kind. Ich wollte beides, Mutter sein und meiner Berufung nachgehen. Ich begann zu rechnen: Wenn ich im Mai 1930 schwanger würde, könnte ich im September noch nach Europa reisen und im Oktober das Examen an der Universität Zürich machen. Natürlich reizte mich die Provokation: Als Schwangere vor die Prüfer zu treten – welche Bedrohung der göttlichen Schöpfungsordnung! Aus Brasilien schrieb ich meiner Mutter. Die lachte mich nur aus: Ein Kind könne man doch nicht so planen! Doch ich behielt recht. Ich bestand mein Examen und brachte drei Monate später unser erstes Kind zur Welt, bei meinen Eltern im Pfarrhaus von Igis im Kanton Graubünden.

Mein Mann kam erst im März aus São Paulo zu uns. Es war wunderbar, ihn endlich wieder bei mir zu haben. Wir waren glücklich mit unserem Kind. Aber während Gian bei seinem Vater im Baugeschäft in Pontresina mitarbeitete, wusch ich Windeln und schwieg, wenn die Schwiegermutter sich in die Erziehung einmischte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ebenfalls in meinem Beruf zu arbeiten und auf der Kanzel zu stehen. Doch das schien aussichtslos: Noch hatte kein Kanton das Pfarramt für Frauen geöffnet. Die wenigen Theologinnen arbeiteten als Pfarrhelferinnen neben einem männlichen Pfarrer. Die Kolleginnen in Deutschland hatten es nicht besser. Auch sie wurden nur als Vikarinnen geduldet. Im Sommer 1931 lehnte der Kirchenrat Graubündens meine Bitte ab, wenigstens aushilfsweise predigen zu dürfen. Wieder einmal spürte ich deutlich, dass es als Schande galt, eine Frau zu sein.

Doch dann erfuhr ich, dass der Pfarrer von Furna gekündigt hatte. Furna ist das Dorf im Prättigau auf 1 400 Metern über dem Meer, in dem ich als Kind bei den Großeltern immer meine Ferien verbrachte. Es gab dort keinen Strom und keine Verkehrsverbindung ins Tal. Schon mehrere Pfarrer hatten das Dorf verlassen, weil es ihnen zu abgelegen war, und nun fand die Gemeinde keinen neuen Pfarrer. Da hatte meine Mutter eine dreiste Idee. Sie fragte den Kirchgemeindevorstand, wie sich Furna zur Wahl einer Pfarrerin stellen würde. Und tatsächlich: Am 13. September 1931 wählten mich die Furnerinnen und Furner – Frauen hatten in der Landeskirche Graubündens seit 1918 das Stimmrecht – einstimmig zu ihrer Pfarrerin, mit den gleichen Rechten und Pflichten wie ein Pfarrer.

Ich war überglücklich und schockiert zugleich. Ich wollte doch versuchen, dieses Amt zu übernehmen. Aber gleichzeitig hatte ich Angst, denn alle Augen waren auf mich gerichtet. Am 3. Oktober zog ich mit dem kleinen Kind ins Pfarrhaus. Mein Mann blieb bei seiner Arbeit in Pontresina, eine Haushälterin unterstützte mich. Das war ein Skandal, der bis nach Deutschland Schlagzeilen machte. Auch dort war noch keine Frau ins Gemeindepfarramt gewählt worden.

Mit der Annahme der Wahl brach ich gleich zwei Tabus: Ich trat als Frau auf die Kanzel und widmete mich als Mutter nicht ausschließlich der Familie. „Für ein solches Vorbild, eine solche Missgestalt einer Familie im Pfarrhaus, würden gesund denkende Gemeinden sich bedanken“, wetterte mein Erzfeind, Jakob Rudolf Truog, der Pfarrer von Jenaz, in der Zeitung. „Ein solcher Anfang des Pfarrerinnentums ist sicher am wenigsten geeignet, unser reformiertes Volk für die Zulassung der Frau zum Pfarramt zu begeistern.“ Tatsächlich lehnten die Reformierten im Kanton Graubünden das Frauenpfarramt am 24. April 1932 an der Urne wuchtig ab – sogar die Frauen stimmten mehrheitlich nein. Furna hielt trotz allem zu mir. Als die Landeskirche drohte, das Kirchgemeindevermögen zu konfiszieren, schickte der Schatzmeister seine Tochter mit einem Jahreslohn ins Pfarrhaus. Wenige Tage später machte die Landeskirche ihre Drohung wahr und sperrte die Konten der Kirchgemeinde Furna.

Hosen für Mädchen

Angesichts des massiven Drucks von außen war mir oft bang, wenn ich sonntags auf die Kanzel stieg. Und an manchen Abenden in der Pfarrhausstube befielen mich Zweifel. „Ich habe Angst. Werde ich mir eines Tages die Flügel an der Sonne verbrennen?“ Ich suchte Trost in den Briefen an meinen Ehekameraden, der nur jedes zweite Wochenende bei uns sein konnte. Oft wunderte ich mich, dass ausgerechnet ich von Gott auserwählt sein sollte, das Amt auszuüben. Dann wieder fühlte ich mich bestätigt von den vielen warmen Reaktionen aus der Gemeinde. Sogar die Männer kamen wieder häufiger zur Predigt! Mein Charisma half mir, auch unerhörte Ideen durchzusetzen. Als ich sah, wie die Mädchen aus entlegenen Höfen im Winter auf Ski in die Schule kamen und sich in den nasskalten Röcken mit weißen Klumpen am Saum in die Schulbank setzten, war ich schockiert. Ich bat die Dorffrauen, für ihre Töchter Skihosen zu nähen. Sie machten mit – und so waren unsere Mädchen die ersten im ganzen Tal, die Hosen trugen.

Rückendeckung bekam ich sogar aus dem fernen Bonn, aus der Feder des berühmten Theologieprofessors Karl Barth. Er verteidigte mich gegen Pastor Wilhelm Kolfhaus, der mein Verharren in Furna als Herausgeber der konservativen Reformierten Kirchenzeitung Deutschlands als „eine nur bei Frauen sich findende Hartnäckigkeit“ bezeichnet hatte. Für Kolfhaus handelte ich sowohl wider das Kirchengesetz als auch gegen das staatliche Gesetz, indem ich getrennt von meinem Mann lebte: „Ich verstehe nicht, dass eine sich christlich nennende Frau so unbekümmert um göttliche und menschliche Ordnungen sein kann.“ Karl Barth wiederum sah den Fall Furna als Gelegenheit, seine dialektische Theologie zu demonstrieren. „Sollte Renitenz gegen eine Kirchenbehörde nicht mindestens auch zu den Dingen gehören, die nach der Schrift gelegentlich höchst geboten sein können?“, schrieb er in seinem offenen Brief an Kolfhaus. „Welche Bibelstellen wollten Sie, wenn es darauf ankäme, als göttliches Verbot der Renitenz gegen eine Volksabstimmung anführen und welche als Verbot eines räumlichen Getrenntlebens von Mann und Frau? Und ist es Ihnen andererseits nicht erinnerlich, mit welcher strammen biblischen Begründung einst die Theologen der amerikanischen Südstaaten die Notwendigkeit und Rechtmässigkeit der Sklaverei zu verteidigen wussten?“

Drei Jahre nach der Wahl in Furna gab ich mein Amt auf. Ich war zermürbt von der Trennung von meinem Ehekameraden. Vor allem aber tat sich Ende 1933 eine neue Perspektive auf: Mein Mann Gian entschloss sich, den Ingenieursberuf an den Nagel zu hängen und, inspiriert durch mich, Theologie zu studieren. Erfüllt von der Aussicht, ihn auch als Gefährten im Beruf neben mir zu wissen, zog ich zu ihm nach Zürich. Im Sommer 1941, zehn Jahre nach dem Skandal in Furna, geschah das Unerwartete: Dieselbe Behörde, die das Kirchgemeindevermögen beschlagnahmt hatte, bot uns nun eine Stelle an. Wir wurden Seelsorger an der neu geschaffenen Stelle an den kantonalen Gefängnissen, Spitälern und psychiatrischen Anstalten des Kantons Graubünden. Jene Jahre gehörten zu den glücklichsten meines Lebens. Ich lebte mit meinem Mann und den mittlerweile fünf Kindern in einem Einfamilienhaus in Chur und arbeitete mit dem Segen der Landeskirche als Seelsorgerin.

Doch das Glück währte nicht lang. Es kam alles zusammen: Die Haushälterin kündigte, mein Vater starb, ein Kind brach sich das Bein, die andern erkrankten an Masern und Lungenentzündung. Schließlich entdeckte ich, dass ich wieder schwanger war, mit fast vierzig erwartete ich mein sechstes Kind. Ich nahm es als göttliches Zeichen und gab das Amt auf, um nun ganz bei den Kindern zu sein. Oft dünkte mich diese Arbeit schwerer als das Pfarramt: Den ganzen Tag Kinderlärm und immer wieder das Bewusstsein, zu wenig Geduld zu haben. Zwei Jahrzehnte lang war ich Hausfrau und Mutter.

Erst 1966, als alle sechs Kinder ausgeflogen waren, tat sich noch einmal ein Fenster auf: Wir erhielten das Angebot, die fünf Kirchgemeinden des Rheinwalds zwischen Splügen und Hinterrhein zu übernehmen. Zusammen mit meinem Mann im Gemeindepfarramt zu arbeiten – endlich wurde mein Traum wahr. Zuvor noch, am 17. November 1963, wurde ich zusammen mit elf weiteren Theologinnen im Zürcher Grossmünster ordiniert. Sie nannten uns die zwölf Apostelinnen.

Information

Christina Caprez schrieb den Text auf der Basis von Tagebüchern und Briefen ihrer Großmutter. Deren Geschichte beschreibt sie ausführlich in dem Buch „Die illegale Pfarrerin. Das Leben von Greti Caprez-Roffler (1906 – 1994)“, das im Limmat Verlag erschienen ist. Zudem gibt es einen Film und eine Hörausstellung zum Thema. www.dieillegalepfarrerin.ch

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