Marktwirtschaft meistbietend verkauft

Der Preis spricht nicht mehr die Wahrheit. Das bringt Probleme für Ökonomie und Ökologie
Black Friday
Foto: dpa/Daniel Bockwoldt

„Strom muss bezahlbar sein“. Als Ökonomin kann Ursula Sommer über diesen Satz nur den Kopf schütteln. Denn nicht nur der Strompreis müsse den Kosten entsprechen. Doch dieses Grundprinzip der Marktwirtschaft werde mehr und mehr aufgegeben.  Sie fordert eine Rückkehr zum  Kostenpreis, der auch die ökologischen Folgen eines Produkts und seines Transports berücksichtigt.

Unseren Studenten bringen wir Wirtschaftswissenschaftler bei: Knappheit ist elementar. Über den Preis kann sie bestmöglichst bewältigt werden, er ist zentrales Element in der Marktwirtschaft. Ohne ihn kann sie nicht funktionieren. Was knapp wird, wird teurer und löst vielfältige Anpassungsprozesse aus. Die Zusammenhänge werden in der sogenannten Mikroökonomie ausführlich behandelt.

Natürlich entspricht die Realität nie genau dem theoretischen Modell. Und da wir steigende Preise sowieso nicht mögen, haben wir vieles dafür getan, die Knappheit zu „überwinden“ und für günstige Preise zu sorgen. Wohnraum und Strom sollen „bezahlbar“ sein, ÖPNV kostenlos. Alles soll immer billiger werden. Wir haben es geschafft, die Preisakzeptanz auszuhebeln, wonach für ein Gut ein Preis entsprechend seiner eigentlichen Kosten zu zahlen ist. Wenn aber die Preise nicht mehr stimmen, ist es auch mit der Marktwirtschaft nicht mehr weit her und die „Soziale Marktwirtschaft“ auch nur noch eine Sprachhülse.

Dass es gelungen ist, alles immer güns-tiger zu produzieren, ist dem Wettbewerbs-prinzip zu verdanken. Konkurrenz ist die treibende Kraft in der Marktwirtschaft, sich anzustrengen, besser zu sein als andere und dafür belohnt zu werden mit mehr Umsatz und Gewinn. Es sollte ein fairer Wettbewerb sein, doch die Vermutung liegt nahe, dass er heute zu intensiv ist. Er hat extrem aggressive Züge angenommen. Allenthalben schreit einem ein Angebot entgegen, auf Straßenbahnen, an Haltestellen, auf Stellwänden, massenweise Werbeflyer und trotz aller Verbote am Telefon; im Internet drängen sich die Werbeangebote über die gesuchten Informationen, erschweren die Suche nach dem Eigentlichen. Man lässt es zu, weil man mehr Wachstum möchte und Grenzen nicht akzeptieren will.

Die Kollateralschäden sind hoch. Denn mit soliden seriösen Methoden ist nur schwer mitzuhalten, die Stressbelastung steigt und unternehmerische Selbstständigkeit wird immer schwieriger. Es ist kein Wunder, dass auf Kinderarbeit, Niedrigverdienste und niedrige Sozial- oder Umweltstandards im Ausland zurückgegriffen wird – kann man doch so wettbewerbsfähig bleiben, heißt: günstigere Preise bieten. Man hat in Kauf genommen, dass Unternehmen über Konzernbildung und Übernahmen enorme Marktmacht entwickeln, weil sich nur dann dieses Prinzip umsetzen lässt. Wir haben quasi sukzessive die Marktwirtschaft meistbietend verkauft. Und weil der Wettbewerb in angestammten Bereichen wegen der Großkonzerne – Stichwort Automobil-industrie – nicht mehr gut funktionierte, setzte man auf Privatisierung, auch in Bereichen, in denen der Staat die Hand hätte drauf haben müssen aufgrund der Leitungsgebundenheit, etwa bei Strom und Telefon, sowie auf fortgesetzte Globalisierung, damit niedrigere Preise und Löhne und Standards im Ausland genutzt werden können.

Preisspirale abwärts

Zum Teil sind es die Unternehmen selbst, die die Preisakzeptanz durch den Bürger vernichten. Durch ihre ständigen Werbeangebote, Schnäppchen und aggressive Wettbewerbe zur Preisunterbietung fördern sie die Auffassung, dass alles doch viel billiger zu haben ist. Rabatte und Payback sollen die Kunden binden – und kos-ten Ressourcen, wenn jedes Unternehmen inzwischen seine Kundenkarte verteilt. Die Unternehmen tragen in eigener Regie dazu bei, dass sich die Erwartung auf eine Preisspirale nach unten einstellt, und graben sich längerfristig dabei selbst das Wasser ab sowie Lieferanten für Vorprodukte und Rohstoffe, beispielsweise den Bauern, die für ihre Produkte keinen angemessenen Preis mehr erhalten. Sie hebeln ihren eigenen Markt aus, denn die Konkurrenz schläft nicht. Die auf kurze Sicht ausgerichteten Maßnahmen schädigen den Markt als Ganzes.

Auch erhebliche Preisunterschiede tragen dazu bei, dass die Preisakzeptanz schwindet. Natürlich gibt es keine „Preiseinheitlichkeit“ wie in der Theorie; die Unterschiedslosigkeit der Preise war schon immer eine theoretische Fiktion. Es gibt viele Einflussfaktoren – verschiedene Hersteller, Produktqualität und -aufmachung, Inhaltsstoffe et cetera –, die Preisunterschiede begründen und den harten Preiswettbewerb weicher machen. In der Theorie gelten sie als Garant dafür, dass viele Anbieter sich am Markt halten können. Mitunter sind die Preisdifferenzen jedoch so stark, dass sich tatsächlich die Frage auftut, wieviel dieses Produkt eigentlich wirklich kostet. Ist dieser extrem niedrige Preis Zeichen für einen Ladenhüter? Ist es ein Saisonartikel? Oder doch Ausdruck von Niedriglöhnen in Schwellenländern, Kinderarbeit, Ausbeutung irgendeiner Art? Oder einfach quersubventioniert? Der Verbraucher muss jedenfalls den Eindruck haben, dass Preisbildung ziemlich willkürlich ist.

Ein Grund für Preisunterschiede war früher die Entfernung. Transportkosten führten dazu, dass das Produkt am Lieferort teurer ist als am Ort der Herstellung. Sie sind ein verursachungsgerechter Preisaufschlag, die die Lieferkosten beinhalten. Ein Pauschalpreis für den Versand, gleich, woher die Lieferung kommt und wo sie hingeht, ist als Durchschnittspreis kalkuliert. Kurze Strecken kosten so viel wie lange. Was als praktische Lösung für alle gilt, egal wo der Kunde sitzt, trägt dazu bei, dass ein wichtiges Steuerungselement ausfällt. Es wird ein Punktmarkt fingiert, den es eigentlich nur in der Theorie gibt. Die Folge sind überlastete Verkehrssysteme und eine Schwächung regionaler Anbieter, eine Förderung des Online-Handels zu Lasten von Infrastruktur und Ökologie. Der chilenische oder australische Rotwein darf durchaus teurer sein als der württembergische Trollinger oder der Pfälzer Dornfelder. Ist die Anreizfunktion des Preises geschädigt, so leidet auch die optimale Allokation, ein abstrakter Begriff, mit dem wir Ökonomen in Kurzform beschreiben, dass Ressourcen, Güter, Arbeitskräfte et cetera an der richtigen Stelle verwendet werden.

Dass wir so viele Produkte von überall her beziehen und uns leisten können, hängt auch an der Subventionierung der Verkehrswege. Die Regierungen haben daran Interesse – Handel bringt Wachstum und Arbeitsplätze. Dieser von der Theorie des internationalen Handels seit David Ricardo begründete Zusammenhang scheint sich in Wirtschaft und Politik gewandelt zu haben zur Maxime: Handel um jeden Preis, Hauptsache Absatz. Und damit wird ein wichtiges ökonomisches Element ausgemerzt. Die Kosten werden in Richtung der Steuerzahler verschoben. Mehr Straßenbau, Flussvertiefungen, Vermüllung der Meere, Flächenverbrauch für Trassen und Flugplätze sind die Folge.

Eine Maut auf Straßen ist nicht verkehrt. Aber eine Tages- oder Monatsflat löst das Problem nicht. Die Kosten des Straßenbaus und das durch den Verkehr verursachte CO2-Problem werden nur verursachungsgerecht erfasst, wenn die Maut für LKW und PKW dezidiert strecken – und gewichtsabhängig sowie vom CO2-Ausstoß her gestaltet würde. Alles andere ist nicht zielführend. Die Kosten richtig zurechnen, ob durch Arbeit oder Vergnügen verursacht, ist der erste Schritt zur optimalen Allokation. Einen Kostenpreis für das in Anspruch genommene Produkt zu zahlen, gehört zur Marktwirtschaft. Alles andere ruiniert sie.

Das gilt auch für Energie. „Strom muss bezahlbar sein.“ Als Ökonomin kann ich über diesen Satz nur den Kopf schütteln. Jahrelang haben wir Strom aus Kohle und Atomkraftwerken bezogen. Heute weiß man, dass es enorme Folgekosten gibt. Die Risiken der Kernkraftwerke und die immer noch ungelöste Frage der sicheren Entsorgung von Brennelementen waren und sind nicht eingepreist. Kohlekraftwerke tragen zu erheblicher CO2-Belastung bei und haben enorme Nachsorgekosten, um eindringendes Wasser abzupumpen. Das heißt, wir haben für Strom viel zu wenig bezahlt. Nun steht die Technik für erneuerbare Energien zur Verfügung. „Sonne und Wind schicken keine Rechnung“, lautet der Slogan. Aber natürlich kostet die Technik selbst, Solar- und Windkraftanlagen, ihre Installation und Wartung sowie neue Stromtrassen und weiterer Flächenverbrauch zu Lasten der Natur, weil CO2-Senken verschwinden, sowie intelligentes Strommanagement, da Sonne und Wind nicht gleichmäßig liefern. Das alles muss bezahlt werden. Und der Strompreis muss den Kosten entsprechen, alles andere lenkt in eine falsche Richtung.

Natürlich ist Strom ein neuralgischer Punkt. Dann kommt das soziale Argument: Auch Bürger mit niedrigem Einkommen müssen sich noch Strom leisten können. Doch das Soziale kann kein Argument für eine falsche Ökonomie sein, sondern ist über die Einkommensseite zu regeln. Es ist die Sorge der Industrie, belastet zu werden, wird doch die Digitalisierung mit aller Macht vorangetrieben, die Speicherung der massenweisen Daten und Informationen brauchen enorm viel Strom; die Digitalisierung führt zu Entwicklung und Vertrieb von einer Vielzahl elektronischer Geräte, die alle Strom brauchen. Und ein niedriger Strompreis fördert deren Absatz. Es sind politische Preise, auf die sich Wirtschaft und Politik verständigen wollen und sich in den Ohren der Bürger gut anhören. Volkswirtschaftlich sinnvoll ist das nicht.

Zu Beginn des Internets rätselten Wirtschaftswissenschaftler über die Preisbildung im Netz. Jede Information, die einmal im Netz steht, kann ohne zusätzliche Kosten abgerufen werden: Die Grenzkosten sind aufgrund dieses Netzeffektes bei null. Eine Bepreisung nach Grenzkosten, nach der ein Gut so viel kostet wie die letzte produzierte Einheit, ist zentrales Element der Produktions- und Preistheorie. Sind die Grenzkosten null, wird ein Gut jedoch nicht produziert, schließlich müssen die Kosten für Entwicklung und Produktion gezahlt werden. Betriebswirtschaftlich würde man hier auf Stückkosten plus Gewinnaufschlag zurückgreifen. Downloads und E-Mail-Versand sind tatsächlich kostenlos. Wie kann das sein? Müssen doch Rechner, Informationen, Wartung und Pflege bezahlt werden. Heute wissen wir: Die Finanzierung läuft über Werbung, die den User massiv bedrängt, ablenkt. Und die Nutzer bezahlen mit ihren Daten.

Fatale Signale

Von dieser Kostenloskultur geht eine fatale Signalwirkung aus. Sie fördert die
Illusion, dass etwas kostenlos zu bekommen ist, und das in einer Zeit, in der wir fürchten müssen, dass unsere Wirtschaftsweise unseren Enkeln und Urenkeln das Leben kosten wird. In einer Zeit, in der Ressourcen immer knapper werden, wird die Akzeptanz des Preises als Entgelt dafür, dass eine Leistung erbracht worden ist, weiter geschwächt. Was nichts kostet, wird bis zum Anschlag genutzt und führt dazu, dass Forderungen nach immer weiterem Ausbau von Datenautobahnen nicht abreißen, mit entsprechendem Finanz- und Ressourcenverbrauch. Die Einführung eines Preises für Mails und Datentransfer hätte eine positive Steuerungswirkung. Wie würde es sich etwa auf Spam-Mails, Hasspredigten und Shitstorms im Netz auswirken, wenn eine Mail, ein bestimmtes Datenvolumen nur ein Cent kosten würde?

Welches Problem die Kostenloskultur mit sich bringt, zeigt ein anderer Bereich. Wir haben der Erde Rohstoffe aller Art entnommen, Erze, Mineralien, Nahrungsmittel, Flächen für Wohn- und Gewerbeflächen, Infrastruktur. Wenn man es genau nimmt: Alles, was wir in den vergangenen dreihundert Jahren produziert, verkauft oder gekauft haben, war zu billig, weil wir es der Umwelt nicht entgolten haben. Deshalb wird es nicht funktionieren, „nur“ erneuerbare Energien zu fördern, auf E-Auto, CO2-Handel und Vorschriften für Wärmedämmung zu setzen, so wichtig diese sind. Und ich halte es für populistisch, an anderer Stelle eine Entlastung zu versprechen. Natürlich „will“ niemand eine Verteuerung. Wer „möchte“ schon höhere Preise zahlen? Aber ich dachte, uns ist Marktwirtschaft mit ihrer Effizienz so wichtig? Jetzt erweist sich, dass wir sie nur dort wollen und unterstützen, wo sie uns nützt, aber ihre Wirkung hemmen, wo sie für uns schwierig ist. Marktwirtschaft ist das nicht mehr. Was das Klima betrifft, reparieren wir jedenfalls bisher nur an den Rändern.

Strom, Transport, Digitales soll billig sein, es wird als Voraussetzung dafür gesehen, dass die Wirtschaft „flutscht“. Aber es sind selbst Märkte. Es ist bekannt, dass falsche Preise auf einem Markt zu Verzerrungseffekten auf vielen anderen Märkten führen. Wir haben die Märkte manipuliert, um ein für uns günstiges Ergebnis zu erzielen, dort wo es unseren Interessen diente. Es sieht so aus, dass unsere wirtschaftliche Entwicklung und unser heutiger Wohlstand in erheblichem Maße durch falsche Weichenstellung bei diesen „Vorprodukten“ subventioniert wurden. Die Umweltprobleme und der Klimawandel stellen sich so als Ausdruck eklatanter Fehlallokation durch fehlgesteuerte Märkte dar. Es ist Zeit, dass der Kostenpreis an zentralen Märkten wieder an Bedeutung gewinnt. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir über eine Alternative zur Marktwirtschaft nachdenken. Auf ihrem Boden stehen wir jedenfalls nicht mehr.

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