Es geht um Schuld

Psychogramm eines Suizidalen

Man muss das Ende verraten. Anders ist die Botschaft des Romans nicht zu verstehen: Der Erzähler ist vom Balkon seines Freundes gesprungen. Sybille Lewitscharoff lässt ihn fallen mit dem „Campari Soda“ in der Hand, „merkwürdig korrekt gehalten“, wenngleich „das rote Zeugs schon über den Glasrand schwappt“.

Die Autorin, deren Vater sein Leben vorsätzlich beendete, als sie elf Jahre alt war, hat ein Buch über Suizid geschrieben. Der verstorbene Protagonist schwebt als „Schwankgebild“ zwischen Erde und Mond. Er ist schmerzhaft einsam, tritt zwischen den Kapiteln geistig weg und kommt sequentiell scharf zu Gegenwarts- und Erinnerungsbewusstsein. Lewitscharoff zeichnet das Psychogramm eines Suizidalen, der in der Rückschau an Orte geführt wird, die ihm die Umstände seines Lebensendes nahe bringen sollen. Denn an dieses Ende kann er sich so wenig erinnern wie an seinen Namen.

Er verweilt im Ungefähren, bis Gott und die Autorin Klarheit schaffen, indem sie ihr Urteil sprechen. Denn es „muß eine Instanz geben, die urteilt“. Urteilt worüber? Über Schuld! Lewitscharoff begreift Suizid als besonders schwere Schuld. An anderer Stelle hat sie geäußert, man müsse die Bestrafung des Bösen mitdenken und dürfe nicht zu leicht von Erlösung reden. In Bezug auf Suizid ist dieser Konnex ethisch unhaltbar und ignoriert psychologische Erkenntnisse.

Das ist die bittere Quintessenz eines Buches, das klug aufgebaut, originell und in einer unverwechselbar-kreativen Sprache geschrieben ist. Eines Buches, das sich zu lesen lohnt, auch wenn man dessen Botschaft nicht teilt. Denn die Seelenzustände des einstigen Professors für Philosophie an der FU Berlin sind sensibel bis lakonisch geschildert, sein wissenschaftlich und literarisch geschulter Blick ist präzise.

Die Autorin schaut mit ihm kultur- und gegenwartskritisch von oben herab. Er sieht die „Fettleibigen“ und die „Verwahrlosung“ in Berlin, erblickt in der Tagesschau „ein absurdes Theater, in dem abwechselnd stoisch herumsülzende Krankenwärter und Tobsüchtige zu Wort kommen“ und bemerkt „den flauen Unernst der christlichen Religion“. Dazu gehören die „blöde Jesussuada“ eines Predigers, vielleicht auch ein Kongress in der Katholischen Akademie, in dem es um den „Tod großer Männer“ geht: „Schierlingsbecher, Dornenkrone, Seitenwunde, wichtig, wichtig, alles sehr, sehr wichtig.“ Zum Ausgleich kommt dem evangelisch getauften Professor ein Gedicht von „protestantischer Seite“ – „Mitternacht“ von Christian Lehnert in den Sinn. In ihm steckt für Lewitscharoff ein Ernst, den sie auch bei Paul Gerhardt und – in Hinführung auf das Ziel des Buches – in Bachs Arie „Buß und Reu knirscht das Sündenherz entzwei“ findet.

Womit sie wieder beim Thema wäre. Denn die Indifferenz der Gegenwart, die klare Formen vermissen lässt und eindeutige Urteile erschwert, macht der Autorin zu schaffen. Der „Sündensumpf“ des Philosophieprofessors, „gefüllt mit einer schwammigen Sättigung aus Selbstsucht, Überdruß und Weinerlichkeit“, impliziert ihr Unbehagen am Heute.

Was kann dagegen helfen? Der kabbalistische „Absprung“ aus der Logik „in die erfüllte Schau“? Doch wenn es um Schuld geht, braucht es Erlösung. Für den Professor war „Jesus längst keine erstrangige Andachtsfigur mehr“. Dennoch fasziniert ihn postmortal der „segnende Jesus“ über dem Bett seiner einstigen Nachbarin. Er malt sich aus, seinen „kindlich vertrauten Jesus“ als Erlöser wiederzufinden: Den Jesus, der friedlich und ruhig auf dem Esel reitet, in Harmonie von Mensch und Tier.

Gegen Öde und Verlassenheit, Schmerz und Verzweiflung steht so der kindlich-fromme Wunsch, es möge am allerletzten Ende doch alles gut werden.


 

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