Überleben in Chicago

Wie eine Gemeinde gegen die Verelendung eines Stadtteils kämpft
Chicago
Fotos: Jörg Böthling
Kriminalität, Armut und Arbeitslosigkeit prägen das Leben vieler Menschen in Chicagos Süden. Kirchliche Angebote versuchen die Not zu lindern, so etwa die Obdachlosenhilfe „Door of Hope“.

Jeden Tag werden in der drittgrößten Stadt der USA zwei Menschen ermordet. Meist sind sie schwarz. Hier arbeiten Steyler Missionare für eine bessere Zukunft ihrer Gemeindemitglieder.

Wer im Süden Chicagos sein Maklerbüro „Träume“ nennt, muss ein Optimist sein. Hier gibt es keine Traumvillen. Die einst eleganten Holzhäuser sind verfallen. Die Veranda brüchig, die Scheiben der großen Fenster sind mit Brettern geschützt. Müll türmt sich im Vorgarten, auch das Nachbarhaus steht leer. Genau wie das an der nächsten Ecke. Autowracks rosten in Baulücken: Leere Häuser werden nach Möglichkeit abgerissen, damit sich dort keine Drogendealer festsetzen können. Der Süden der Stadt Chicago ist keine Traumlage. Hier glänzt nur das Maklerschild.

 

Vor hundert Jahren war das anders. Ursprünglich war der Süden Chicagos die Heimat von irischen Einwanderern, die sich elegante Eigenheime und große Kirchen leisten konnten. Doch dann kamen die Nachkommen der Sklaven aus dem Süden der USA auf der Suche nach Arbeit in den Schlachthöfen und Stahlwerken. 44 000 Schwarze lebten 1910 in der Stadt am Michigan-See, dreißig Jahre später waren es schon 275 000. Sie mussten sich im Süden Chicagos ansiedeln, die Weißen zogen weg. Restaurants und Klubs machten Bronzeville zu einem lebendigen Viertel, hier spielten einst Louis Armstrong und auch Miles Davis.

Auch für St. Elizabeth waren das bewegte Zeiten. Schwarze Nicht-Katholiken strömten zuerst in die katholische Schule, dann in die Kirche der Iren. Allein im Jahr 1926 wurden 110 Schulkinder und 54 Erwachsene getauft. Chicagos einzige High-School für Schwarze blühte im Schatten von St. Elizabeth. „Wir sind die älteste afroamerikanische Gemeinde dieser Stadt, gegründet von Augustus Tolton, dem ersten schwarzen Priester, der hoffentlich bald seliggesprochen wird!“ William Higginbotham, der Vorsitzende des Gemeinderates, ist stolz auf sein Erbe. „Was können wir tun, um eine große Tradition zu bewahren?“

Sorgen um Finanzen

St. Elizabeth hat heute noch 106 registrierte Mitglieder. Die Schule ist geschlossen, die Gemeindemitglieder sind alt. Vor einigen Jahren wurden sie mit St. Anselm’s zusammengelegt, ebenfalls eine schwarze Gemeinde. Und ebenfalls arm. Für eine Gemeinde in einem Land, in dem es keine Kirchensteuer gibt, ist es schwer, ein riesiges Gotteshaus von 1925 instand zu halten – mögen die alten Buntglasfenster aus München auch noch so sehenswert sein.

Der Kampf um die Finanzen ist ein Dauerbrenner. Aber es geht nicht nur um Geld: „Wenn wir überleben wollen, müssen wir für die ganze Nachbarschaft relevant werden“, weiß William Higginbotham. Früher hat das die Schule geleistet. Für die schwarzen Kinder von Bronzeville waren die kirchlichen Schulen ein Ticket in eine bessere Zukunft. Doch weil der Staat sie nicht finanziert, wuchsen die Kosten der Gemeinde bald über den Kopf. Seit es keine katholische Schule mehr gibt, kommen die Familien auch nicht mehr zur Kirche. Und wer kann, verlässt das Viertel, das immer mehr zu verelenden droht.

 

Pater Robert Kelly, von allen nur Father Bob genannt, ist seit zwei Jahren Pfarrer von St. Anselm’s und St. Elizabeth. Schon seit 1915 wirken die Steyler Missionare, der siebtgrößte Männerorden in der katholischen Kirche, der 1875 in Steyl, heute ein Teil der niederländischen Stadt Venlo, gegründet wurde, hier im schwarzen Ghetto. Zusammen mit seinem Vorgänger Pater Mark Weber und Bruder Aloysius Aisi aus Papua-Neuguinea lebt der 63-Jährige in dem alten Pfarrhaus im Schatten von St. Anselm’s.

Die Gemeinde hat ihr ehemaliges Schulgebäude umgebaut, um für die Kinder eine Nachmittagsbetreuung einzurichten. Spielen, toben, Hausaufgaben machen – alles ist ein Segen, was die Jugendlichen von den Straßengangs fernhält. „Um zu überleben, müssen die Familien mehrere Jobs annehmen“, weiß Father Bob. „Nach der Schule hängen die Kinder auf der Straße rum und landen dann in der Kriminalität. Die Gangs sind Vaterersatz, und mit Waffen- und Drogengeschäften kann man viel Geld verdienen. Legale Jobs sind dann unattraktiv.“ Wenn man sie überhaupt bekommt: Die Arbeitslosigkeit in Chicago ist höher als in allen anderen amerikanischen Städten, viele Einwohner sind schlecht ernährt und krank. Father Bob wundert das nicht: „Hier gibt es keine Geschäfte mehr, wo man frisches Gemüse und gesunde Lebensmittel kaufen kann. Nur noch Fast Food und Tankstellen.“

 

Father Bob träumt von einer medizinischen Betreuung durch eine Pfarrkrankenschwester und eine Armenküche, die es in St. Elizabeth sogar schon einmal gab. Aber er will mit seinen Ideen nicht vorpreschen, die Gemeinde müsse selbst ihre Mission finden. „Es sind schwierige Diskussionen“, gibt er zu. „Ich höre zu, rede mit allen und suche die Zusammenarbeit. Das ist mir wichtig. Ich sehe mich als Ermöglicher.“ Ist es ein Problem, dass er ein Weißer ist? „Sie haben mich akzeptiert. Wir Steyler Missionare kommen in allen Formen und Farben“, lacht er. Und wird dann ernst: „Ich bin ehrlich und verkünde die Wahrheit des Evangeliums, und das zählt bei ihnen.“ Aber die Steyler wissen auch, dass schwarze Katholiken eher in Gemeinden bleiben, die afroamerikanisch geprägt sind. Deshalb laden sie gern ihren schwarzen Mitbruder Chester Smith zur Sonntagsmesse ein. Wenn der 60-Jährige predigt, klatschen und lachen die Zuhörer; in die müden, alten Gesichter kommt Glanz.

Noch immer fühlen sich die Afroamerikaner auch in der eigenen Kirche diskriminiert. Eine mitreißende Predigt, Gospel-Musik und Tanz macht für schwarze Christen die Messe zum Fest. Die offiziellen liturgischen Gesänge sind ihnen fremd. „Rassismus und Sexismus sind die schlimmsten Übel der Kirche“, meint Pater Chester. Diesen Rassismus hat er als junger Ordensmann selbst erlebt: „Selbst in einem internationalen Orden wie den Steylern hat man mir gesagt: Wenn du die schwarze Kultur feiern willst, werd doch Diözesanpriester!“ Und weiter: „Nach so vielen Jahren sind wir immer noch nicht gleich“, seufzt Pater Chester. „Und was tut meine Kirche? Sie demonstriert gegen Abtreibung, aber marschiert sie auch gegen die Gewalt in den Straßen Chicagos?“

Programm für Jungen

Wie nötig das ist, wissen die Steyler hier nur zu gut. Alle drei Stunden wird ein Mensch angeschossen, alle 15 Stunden kommt jemand durch Kugeln um. Nirgendwo in den USA werden mehr Leute ermordet. Die Tochter der Köchin starb mit 15 Jahren bei einer Schießerei an der Straßenecke, sie war auf dem Weg zur Schule. Auch Silvia Alston, die im Gemeindevorstand von St. Elizabeth sitzt, sorgt sich um ihren Enkel, der mit seinen 33 Jahren schon zweimal angeschossen wurde und selbst auch schon im Knast saß. „Ich habe immer gebetet, wenn meine Kinder aus dem Haus gegangen sind. Diese Gegend ist gefährlich, das weiß jeder. Alles, was man tun kann, ist beten!“

 

Pater Chester will mehr tun als beten. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Charles bietet er das zweijährige Programm „Rites of Passage: From boyhood to manhood“ (Riten des Übergangs: vom Kind zum Mann) an. Mithilfe von Erwachsenen ihrer Hautfarbe können junge Schwarze bis 14 Jahre „lernen, ein Mann zu sein“. Dazu gehört die religiöse Bildung genauso wie praktische Lebenshilfe: Wie eröffne ich ein Konto? Wie sieht ein gesundes Frühstück aus? Warum lohnt sich Zähneputzen? Einen Monat lang geht es nur um Beziehungen: zur Mutter, zur Polizei, zu jungen Frauen: Wenn sie Nein sagt, heißt das Nein. „Viele imitieren den Freund der Mutter – vor allem seine Gewalttätigkeit“, sagt Pater Chester. „Sie haben keinen Vater, die Mutter ist auf Drogen, vor den Lehrern haben sie keinen Respekt. Und vor der Polizei schon gar nicht. Viele dieser Jungs leben seit Jahren praktisch auf der Straße. Wir bringen ihnen bei zu überleben.“  

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Foto: Redaktion stadtgottes

Christina Brunner

Christina Brunner ist stellvertretende Chefredakteurin beim Magazin der Steyler Missionare „stadtgottes“.

Jörg Böthling

Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer. 


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