Näher bei Gott

Die Band Wilco und Jeff Tweedy

Traurige Lieder, „die den rohen Kern offenlegen“, mag er am liebsten. Sie seien am aufrichtigsten. Bis Jeff Tweedy aus Belleville/Illinois seinen unverkennbaren Sound dafür fand, dauerte es. Die mit Schulfreund Jay Farrar gegründete Band Uncle Tupelo (1987–1994) fand er da eher einengend, schreibt Tweedy in seiner Autobiographie. Doch bei Wilco (seit 1994) gehe es darum herauszufinden, „wie viel eine Band in sich vereinen kann“ und wie sich klassische Songstrukturen unterlaufen lassen – also raus aus der Alt-Country-/Rootsrock-/No Depression-Ecke und sogar offen für Noise. Wilco-Gitarrist Jay Bennett trug viel dazu bei.

Mit beiden Jays zerbrach die Beziehung indes eher unschön, was in dem Buch, das auch Bandgeschichte ist, nicht fehlen darf. Fans interessiert das. Tweedy löst es achtbar: wenig apologetisch, selbstkritisch, mit jener Großzügigkeit, die sich im Abstand und vor allem dann einstellt, wenn man mit sich im Reinen ist. Das war er lange nicht. Opiate, deren „mütterlicher“ Wirkung er verfallen war, hatten ihn im Griff. Ein ambitiöser Therapeut verschrieb ihm zudem überaus willfährig Schmerzmittel, ein Fan-Apotheker lieferte auch ohne Rezept. Das ist sein Anteil an der grassierenden Opiod-Epidemie in den USA.

Viel spannender ist aber, wie er zum Musiker wurde. The Clash und die Erkenntnis, dass es auch anders geht, waren Initialzündung. Kulturelle Dissidenz in der Schule, Schwierigkeiten, neue Platten zu besorgen, und erste, für Teenager zwar verbotene Konzerte waren Alltag. Und die Leidenschaft für Songs, die er bald zu schreiben begann, hält bis heute. Er erzählt unterhaltsam, auch selbstironisch, unprätentiös und bescheiden. So etwa, wenn er den von Fans überaus goutierten Knall um ihr epochales Album „Yankee Hotel Foxtrot“ lapidar damit abtut, dass er nicht besonders mutig sei, bloß stur – und es einfach satt gehabt habe: Das Label lehnte die Platte als unverkäuflich ab. Die Band kaufte die Rechte daran zurück, kündigte den Deal und stellte die Platte ins Netz. Dann bei einem anderen Label veröffentlicht kam sie prompt in die Charts – und Wilco zum Nimbus aufrechter Hartnäckigkeit.

Tweedys Sicht ist interessant, aber noch viel mehr, wie er in dem sehr persönlichen Buch ungleich engagierter wird, wenn es um den kreativen Prozess geht. Wie er Sprache als Lautmaterial vertraut, ihn hypnotische Magie kryptischer Kurzwellenbotschaften inspiriert. So gut ist selten über Songwriting zu lesen, über Soundarbeit, Experimentieren oder wie er Melodien mehr zutraut als dem Wortsinn. Dabei wird zudem begeisternd deutlich, wie nahe Kreativität und religiöses Erleben in dem Prozess einander sind: „Du bist näher bei ‚Gott‘ oder zumindest der Idee von einem Erschaffer.“ Und weiter: „Es gehört dir nicht allein.“

Sein Fazit: „Musik ist am magischsten, wenn man die Bürde seines Ichs abwerfen kann.“ Und es so mutmaßlich erlöst wiederfindet. Die Apotheose von Pop, dem etwas zuzutrauen ist, mag man schwärmen. Wilco zu hören reicht hier vollauf, und das großartige Buch ihres Masterminds zu lesen regt stark dazu an.

Da erstaunt es schon, dass er sich Agnostiker nennt. Doch im wirklichen Leben ist er inzwischen Jude – wie seine Frau und ihre beiden Söhne. Und Bob Dylan, möchte man ergänzen, vor dem er sich verneigt: „Ich schreibe Songs, und Dylan ist der Gipfel, auf den ich immer zuarbeiten werde.“ Tweedy ist dicht dran, hat jedoch eine andere Route gewählt. Auch die kommt an, so viel scheint sicher.

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