Pest und Cholerona

Wie Seuchen und Pandemien die europäische Geschichte prägten
Jan Brueghel d. Ä. (1568–1625): „Triumph des Todes“ (Ausschnitt), 1597.
Foto: akg-images
Jan Brueghel d. Ä. (1568–1625): „Triumph des Todes“ (Ausschnitt), 1597.

Mit der Corona-Pandemie ist das Thema Seuchen mit Macht zurückgekehrt. Die große Pest-Pandemie Mitte des 14. Jahrhunderts prägte den Gang der europäischen Geschichte maßgeblich für lange Zeit und führte zunächst zur Erfindung der Quarantäne, wie Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen, zeigt.

Die globale Corona-Pandemie dieser Tage markiert ohne Zweifel eine tiefgreifende Zäsur. Das hat sie vor allem mit der großen Pest-Pandemie von 1348–1351 gemein. Sicherheiten des täglichen Lebens brachen weg, damals wie heute. Das Ausmaß der verheerenden Wirkungen auf Menschenleben, Ökonomie und Kultur: unabsehbar, damals wie heute. Erstmals seit Jahrhunderten war die Beulen- und Lungenpest (lateinisch pestis = Seuche, Krankheit), eine in der Antike durchaus bekannte Geißel der Menschheit, in der Mitte des 14. Jahrhunderts nach Europa gelangt. Auf Schiffen aus dem Osten über italienische Häfen reiste der Pestfloh ein, wie wir wissen.

Den Zeitgenossen Dantes, Petrarcas und Boccacios aber war die wahre Ursache des großen Sterbens verborgen. Seit 1348 trat die Pest ihren gewaltigen Siegeszug an. Bis weit in die frühe Neuzeit hinein blieb die Pest in immer neuen Katastrophenschüben auch auf unserem Kontinent präsent. Außerhalb Europas und Nordamerikas ist sie noch heute verbreitet. In Zeiten fortschreitender Antibiotikaresistenz mag ihr noch eine große Zukunft beschieden sein.

Nach der ersten Pandemie der europäischen Geschichte war kaum mehr etwas, wie es gewesen war. Die Neuartigkeit der Erkrankung, ihr unsichtbarer Ursprung, ihre geheimnisvolle Verbreitung – die „Pest, die im Finstern schleicht“ (Psalm 91,6) – all dies bewirkte Angst, Panik, hysterische Reaktionen. Vor allem die magna mortalitas, das Massensterben, versetzte die Menschen in einen Schockzustand. Einige Chronisten sahen eine „neue Zeit“ herangebrochen – eine solche freilich, die die Menschheit noch schlechter machte, einer zügellosen Verwilderung der Sitten Tor und Tür öffnete. Gewiss – auch im 14. Jahrhundert lehrte Not beten. Doch stabile religiöse Impulse gingen von der in ihrer kurialen Spitze in Avignon deplazierten, an geistlicher Strahlkraft beschränkten römisch-katholischen Kirche nicht aus. Erste Zweifel, ob sich Gott von der Welt abgewandt und diese nun sich selbst überlassen habe, meldeten sich, bei dem Erzhumanisten Petrarca etwa, zu Wort.

Die demografischen Folgen der Pandemie des 14. Jahrhunderts waren gewaltig; manche Landschaften sollen mehr als die Hälfte ihrer Einwohner verloren haben. Ganze Dorfschaften wurden ausgelöscht; die größte Dichte mittelalterlicher Wüstungen stammt aus den Jahren dieser ersten Pestwelle. Aus den Städten flohen die Menschen – vor allem jene, die es sich leisten konnten und, wie die jungen florentinischen Aristokraten in Boccaccios Decamerone, Landgüter außerhalb der von Verwesungsgeruch durchwaberten Metropolen besaßen. Unter den Zurückgebliebenen raste sich wüster Hedonismus aus; nahe Verwandte ließen einander im Stich. Beerdigungen wurden, wenn überhaupt, im kleinsten Kreise und ohne Prozessionen abgehalten – social distancing allenthalben. Die Militärkonvois von Bergamo, die jüngst die Massen an Leichen deportierten, die die Krematorien nicht mehr fassen konnten – sie symbolisieren das Pest-Florenz von 1348 im Hier und Jetzt.

Angesichts von Epidemien und Katastrophen zeigte sich, dass nur ein striktes kommunales Krisenmanagement, das sich auch über angestammtes religiöses Brauchtum hinwegzusetzen bereit war, Infizierte oder unter Infektionsverdacht Stehende in Quarantäne nahm, Chaos zu verhindern und Schaden zu begrenzen vermochte. In der elementaren Angewiesenheit auf Staatlichkeit angesichts von Pandemien und Katastrophen sind wir unseren mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ahnen allem Neoliberalismus zum Trotz jetzt sehr nahe. Dass die erstmals 1374 in Venedig über einfahrende Schiffe verhängte Quarantäne mit der Zeiteinheit der vierzig Tage die basale Quantität des Bußinstituts und des Ablasswesen – vierzig Tage verschärfter Bußzeit (quaranta heißt italienisch die Zahl vierzig) – adaptierte und kopierte, illustriert, dass sich staatliches Handeln souverän kirchlicher Usancen bedienen, sich diese anverwandeln und sie ersetzen konnte. Die Quarantäne als Säkularisat der Quadragene ist eine Etappe auf dem Weg zum Gewaltmonopol des Staates.

Sehr anders als die unsrige aber sah die Lage der Altvorderen in Bezug auf die Frage nach den Ursachen des Schreckens aus. Für uns ist das Geheimnis der epochalen Pandemie enthüllt. Die hässliche und nackte Wahrheit scheint zu sein: Ein Coronavirus namens Covid-19, der aus dem Tierreich stammt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf einem Fleischmarkt in der chinesischen Provinz Wuhan von einer Fledermaus auf ein aus Afrika importiertes Gürteltier übergegangen und durch rohen Fleischkonsum auf einen Menschen übertragen worden. „(…L)asset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (1. Korinther 15,32). Kann das todbringende Böse banaler daherkommen?

Die Menschen von 1348 aber wussten nicht, wer der unheimliche und unsichtbare Feind war, der Tausende binnen weniger Tage in die Grube riss. So oszillierten die Erklärungsversuche zwischen theologischen, naturkundlichen und sozialpsychologischen Motiven. Dass ein und derselbe Autor regelmäßig mehrere dieser Begründungen anhäufte, war alles andere als ungewöhnlich und entsprach der tiefen Verunsicherung. Nahe lag, auch vor dem Hintergrund biblischer Texte wie Levitikus 25,25; Numeri 14,12 oder Habakuk 3,5, eine straftheologische Erklärung: Gott schickt die Pest, um die abgründig sündhafte Menschheit zu strafen. Wo gesündigt wird, also immer und überall, ist Strafe am Platz – so die bestechend schlichte Logik der Bußprediger aller Zeiten.

Etwas anspruchsvoller schon war die apokalyptische Variante: Die Seuche ist als von Gott heraufgeführtes Zeichen des Endes zu deuten. Auch das lag von der Bibel her nicht fern. Denn nach der synoptischen Apokalypse (Matthäus 24,7; Lukas 21,11) sendet der Herr – so im Vulgatatext – „pestilentiae“ vor seiner Wiederkunft und dem Jüngsten Gericht. Vom griechischen Wortlaut her wäre eher an „Hungersnöte“ zu denken. Der Erklärungsansatz, Seuchen auf Dämonen, böse Geister, Chaosmächte zurückzuführen, war ebenfalls biblisch begründet und erfreute sich seit 1348 – bis hinauf zu Martin Luther – einer gewissen Beliebtheit. Jedenfalls schloss diese Begründung aus, Gott selbst zum Verursacher pestilenzialischer Widerwärtigkeiten zu machen – in der Tat: ein um der Eigenschaften der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes willen zwingender Gedanke!

Apokalyptische Variante

Unter den naturkundlichen Erklärungen dominierten vor allem zwei: eine astronomische, die den Ausbruch der Pest auf eine bestimmte Gestirnskonstellation zurückführte, und eine auf Hippokrates zurückgehende medizinische, die Miasmen, giftige Ausdünstungen, für die Seuchen verantwortlich machte. Daneben kam im Umkreis der Pandemie von 1348 die Vorstellung einer durch Ansteckung bedingten Verbreitung auf; dass man größere Menschenversammlungen und den Kontakt zu Infizierten meiden sollte, praktizierten die Menschen aufgrund der Beobachtung, dass die beengt hausenden Armen ungleich stärker von der Pest betroffen waren als die Reichen.

Neben der Ansteckungs- schoss auch die Vergiftungstheorie ins Kraut. Und wem die Vergiftung, vor allem der Brunnen, zuzutrauen war, verstand sich im „christlichen Abendland“ von selbst. In den Jahren zwischen 1348 und 1350 zog sich, ausgehend von Südfrankreich über Savoyen, das Reich von Süd nach Nord und die Niederlande, eine Blutspur der Judenpogrome durch Europa, die eine bis in die frühe Neuzeit andauernde Bedrohungsphase jüdischen Lebens eröffnete. Mit den ersten Nachrichten vom großen Sterben tauchte noch ein anderes, neuartiges Phänomen auf: Männer mit besonderen Hüten, die ein rotes Kreuz trugen, zogen in Gruppen von mehreren Hunderten paarweise unter Fahnen, mit Kerzen und halbnackt durch Europa, sich in einem strengen Ritual geißelnd. Der Bußritus der Flagellanten, von dem die als unrein geltenden Frauen ausgeschlossen waren, sollte reinigend wirken und das Unheil abwenden. Das Phänomen dokumentierte aber auch, dass viele Menschen dem kirchlichen Heilsinstitut und seinen konventionellen Instrumenten der Schadensabwehr – Gebete, Bußprozessionen, Fasten – angesichts der neuartigen Herausforderung nicht mehr viel zutrauten.

Die demografischen Folgen der ersten Pestpandemie waren verheerend. Erst um 1500, kurz vor der Reformation, konnten die riesigen Lücken, die die Pest in die Bevölkerung Europas gerissen hatte, als einigermaßen kompensiert gelten. Dass es zwischen diesem demografischen Aufschwung und den Phänomenen ökonomischer, technischer und kultureller Prosperität, die um 1500 ins Kraut schossen – der Renaissance; Entwicklungen im Bergbau- und Hüttenwesen; Erfindungen in der Metallverarbeitung; frühkapitalistischer Welthandel; die Entdeckung Amerikas; der Buchdruck und seine unabsehbaren Folgen für die westliche Zivilisation – einen inneren Zusammenhang gab, ist unübersehbar. Ohne die Pest wäre die europäische Geschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewiss anders verlaufen.

Auch in den Biografien der Reformatoren war die Pest ein steter Begleiter. Im ersten Jahr an seinem neuen Wirkungsort in Zürich, 1519, erkrankte Zwingli schwer an ihr. Als er nach Monaten der Erkrankung genesen war, verfasste er ein Gebetslied, das man als Anfang reformatorischer Liedproduktion ansehen kann. Es beginnt mit den Zeilen:

Hilff, Herr Gott hilff

in dieser not!

Ich mein, der tod

sig an der thür;

stand, Christe, für,

dann du jn überwunden hast!

Am Schluss des Liedes singt der Geheilte dann betend:

Gsund, Herr Gott, gsund!

Ich mein, ich ker

schon widrumb här.

Ja, wenn dich dunck,

der sünden funck

wird nit mer bherrschaen mich uff erd,

so muoss min mund

din lob und leer

ussprechen mer,

dann vormals ye,

wie es joch gee,

einfaltigklich on alle gferd.

Martin Luther begründete mit seiner Schrift Ob man vor dem Sterben fliehen möge (1527) die literarische Erfolgsgattung der Pesttraktate, die noch durch viele Jahrhunderte hindurch als geistliche Hilfe bei Seuchen und Epidemien dienen sollte. Der Wittenberger Reformator schärfte darin ein, dass man nur fliehen dürfe, wenn man keine „amtlichen“ Verpflichtungen gegenüber einer Gemeinde, Eltern, Kindern oder Nachbarn habe. Menschen, die einem anvertraut seien, dürfe man sich nicht selbst überlassen. Wer stark im Glauben sei, der bleibe auch angesichts der Pest, richte aber nicht über die, die aus Angst um ihr Leben flöhen.

Dass man sich mit allen medizinischen, therapeutischen und sozialen Mitteln gegen die Unbill der Pest zu wehren habe, war auch für Luther unstrittig. Insofern sind rationale Präventionsmaßnahmen wie die Verlegung der Friedhöfe vor die Tore der Stadt, Körperhygiene und die Vermeidung von Menschenansammlungen auch aus Reformatorenmund dringend geboten. Luther verglich die Pest mit einem Feuer, das nicht Holz und Stroh, sondern Leib und Leben frisst. Ihr solle man sich gemeinschaftlich entgegenstellen, wie einem Brand, den zu löschen jeder zu helfen habe. Angesichts der Seuche sind also Gebet, Herz und Verstand gleichermaßen gefordert. „Und denke also: Wolan der feind hat uns durch gotts verhengnis gifft und tödliche geschmeis herein geschickt, so wil ich bitten zu Gott, das er uns gnedig sey und were. Darnach will ich auch reuchern, die lufft helffen fegen, ertzney geben und nehmen, meiden stet und Person, Da man mein nichts darff, auff das ich mich selbs nicht verwarlose und dazu durch mich villeicht viel ander vergifften und anzunden möchte und yhn also durch meine hinlessickeit ursach des todes sein.“ Fürwahr : Fürsorge mit Herz und Distanz aus Liebe, und nichts von alledem ohne Verstand.

Für Luther war klar, dass Gott „die ertzney geschaffen und die vernunfft gegeben“ habe. Die entscheidenden Hilfsmittel unserer Zivilisation auch in der Corona-Krise sind ein funktionierendes Staatswesen, medizinisches Können und wissenschaftliche Rationalität. Sie markieren den Vorteil gegenüber den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorfahren. Nach reformatorischem Verständnis sind dies Gaben Gottes. Wie sehr unsere Welt insbesondere der Wissenschaft bedarf, ist selten sichtbarer geworden als jetzt. Auch angesichts der gewaltigen globalen Herausforderungen, die mit dem Klimawandel verbunden sein werden, bedarf es vor allem nüchterner und differenzierter wissenschaftlicher Erkenntnis. Die wissenschaftlich verstandene und vernünftig handelnde Welt ist nach reformatorischem Verständnis gewiss eines nicht: gottverlassen.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"