Philosophischer Gipfelsturm

Das neue Werk von Jürgen Habermas ist Stachel im Fleisch der Theologie
Jürgen Habermas ist Deutschlands berühmtester lebender Philosoph.
Fotos: dpa/Johannes Simon
Jürgen Habermas ist Deutschlands berühmtester lebender Philosoph.

Soll man das neue Buch von Deutschlands berühmtestem lebenden Philosophen lesen? Nein, man muss es sogar, denn es ist voller Entdeckungen, die sich lohnen, es regt zum produktiven Weiterdenken und zum Widerspruch an, meint Klaas Huizing, Schriftsteller und Professor für Systematische Theologie in Würzburg.

Die Arbeitsplatzbeschreibung des Philosophen. Richtig: 1750 Seiten Aufstieg zum Gipfel, das ist happig, dafür braucht man Puste. Aber Habermas bietet einen aufgeräumten Argumentationsstil, der gute Beine macht. Bergsteigen in der Komfortzone auf zum Höhenkamm. Auf seinem Parcours verfolgt Habermas das zugleich spannende wie angespannte Verhältnis zwischen Glauben und Wissen. Allein das ist einmalig: Die Erkundung dieser Nähe und Differenz geschieht auf jeder Seite auf Augenhöhe mit der wissenschaftlichen Theologie.

Eine der Lieblingsvokabeln von Habermas lautet: Lernprozess. Nirgendwo entdeckt man während der Lektüre gespreizte Überlegenheitsunterstellungen von Seiten des Philosophen. Sein eigenes Philosophieverständnis erinnert sogar stark an die übliche Arbeitsplatzbeschreibung für theologisches Personal: Habermas verspürt wenig Lust, als Philosoph zum begriffsanalytischen Dienstleister für die Kognitionswissenschaften zu verkommen, er möchte weiterhin die Philosophie „am Ganzen“ orientieren, spricht deshalb von einer komprehensiven Vernunft, will „zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beitragen“ (1,12), und klagt die Beteiligungsperspektive ein.

Auch die Theologie orientiert sich bekanntlich gerne am Ganzen und bevorzugt die Beteiligungsperspektive. Ich lese diese gewollte Parallelisierung im Selbstverständnis von Philosophie und Theologie auch als kräftige Warnung an die Theologie, das eigene Fach nicht zur Religionswissenschaft umzuwidmen, bitteschön. Mit dem Schwenk von der Beteiligungs- zur Beobachterperspektive verlöre die Theologie ihre eminent
lebenspraktische Ausrichtung, die Habermas auch für die Philosophie retten will.

Gegenwendig zu einer „säkularistisch verhärteten Mentalität“ (1,15) plädiert Habermas für eine dialogische Einstellung, die zu einer gegenseitigen Perspektivenübernahme einlädt! „[S]olange es nicht evident ist, dass sich die kreativen Kräfte der Religion erschöpft haben, gibt es für die Philosophie keinen Grund, eine lernbereit dialogische Einstellung zu religiösen Überlieferungen aufzugeben.“ (1,79) Allerdings schränkt er – das schmerzt etwas – ein: „Einstweilen müssen wir feststellen, dass Kierkegaard der letzte Theologe gewesen zu sein scheint, von dessen Gedanken die Philosophie neue Anstöße empfangen hat.“ (1,78) Auf Kierkegaard folgt nur noch der US-amerikanische Philosoph und Mathematiker Charles Sanders Peirce, bis der Diskurs auf dem Gipfellager bei Habermas selbst ans Ziel gelangt. Brotzeit!

Unverdrossen modern

Kehraus mit einer philosophischen Verfallsgeschichte. Das Projekt startet mit einer nicht kleinen Überraschung, denn auf knapp vierzig brillant formulierten Seiten werden Carl Schmitt, Leo Strauss, Karl Löwith und Martin Heidegger, die alle eine „vernunftkritisch durchgeführte Welt- und Selbstverständigung“ unternommen haben, mit einem negativen Bescheid versehen: „Ironischerweise widersprechen gerade diese philosophischen Ansätze meiner eigenen Intention. Sie alle laufen nämlich auf eine wenig überzeugende Kultur- und Gesellschaftskritik hinaus, die das philosophische Denken der Gegenwart entweder zur Theologie des Mittelalters oder zur griechischen Metaphysik oder gar zu den Quellen des vorsokratischen Denkens zurückrufen will.“ (1,37) In dieser Frage steht Habermas nahe bei seiner Frankfurter Bezugsgruppe um Walter Benjamin, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, die sich mit der „Entbindung der in der Moderne aufgestauten, aber einstweilen entstellten Potenziale“ (1,40) herumschlagen. Habermas setzt weiterhin unverdrossen auf das Projekt der Moderne. Die Konsequenzen werden klar benannt: „Diese Abkoppelung vom religiösen Komplex hat in erster Linie zwei, auch voneinander abhängige Konsequenzen: Zum einen verliert die praktische Philosophie die Rückendeckung durch die normative Autorität einer rettenden Gerechtigkeit; zum anderen stellt sich mit der Loslösung der theoretischen Arbeit und des theo-retischen Welt- und Selbstverständnisses vom Ritus, das heißt, von der sozialintegrativen Quelle der liturgischen Gemeindepraxis die Frage, was die Umstellung der religiösen auf eine vernunftrechtliche Legitimation der Herrschaft für die moderne Form der gesellschaftlichen Integration der Gesellschaft bedeutet.“ (1,75)

Jaspers Achsenzeitkonzept als Theoriebaustein. Aktuell gibt es durch Autoren von Rang wie Hans Joas, Robert N. Bellah, Jan Assmann und eben Jürgen Habermas einen neuen Hype um die durch Karl Jaspers markierte Achsenzeit, reichend von 800 bis 200 vor Christus, in der wirkmächtige religiöse und philosophische Weltbilder, „die die Welt im Ganzen […] vergegenständlichen“ (1,305), entstanden sind: Der Konfuzianismus, der Taoismus, der Buddhismus, das Judentum, die griechische Philosophie. Habermas verfolgt die Hypothese, dass die Akkumulation von Weltwissen „die Verarbeitungskapazität der überlieferten und rituell befes-tigten Denkweisen“ (1,295) der mythologischen Hochkulturen überstieg und „Intellektuellengruppen“ zu verwandten, aber differenten Weltbildproduktionen animierte.

Als „wichtige Variable, um die Entstehung der neuen Weltbilder zu erklären“, entdeckt Habermas die „Moralisierung des Heiligen“ (1,327): „Meine Hypothese zielt nun darauf, dass erst die achsenzeitlichen Weltbilder das Sakrale in eine Macht transformierten, die eine rettende Gerechtigkeit verheißt, indem sie die Erlangung des Heils mit einem ethisch anspruchsvollen Heilsweg verkoppeln, also die Errettung aus irdischer Not ausdrücklich von der Befolgung eines universalistischen Ethos abhängig machen.“ (1, 306) Bewundernswert der Mut und die Chuzpe, mit der Habermas etwa die prophetische Kultur des Judentums auf Jesus (1, 497.500) hin verlängert, zu Taoismus und Buddhismus Auskunft gibt und die griechische Philosophie mit einem kräftigen Malus versieht, weil sie keinen an Heiligen Texten orientierten Kultus aufweisen kann. (1,454)

Schwierig finde ich die markante Abgrenzung zwischen einem kosmologischen Denken der Griechen und dem heilsgeschichtlichen Denken im Judentum und Christentum, Weisheit gegen Prophetie. Habermas sieht das Problem, wenn er zugesteht, dass „Moral und Sittlichkeit primär in Alltagserfahrungen wurzeln und als solche erst dank einer Moralisierung des Heiligen in die achsenzeitlichen Weltbilder integriert worden sind. Dafür spricht unter anderem der Umstand, dass neben den Psalmen Teile der überlieferten Weisheitsliteratur als ,Bücher der Lebensweisheit‘ trotz ihrer vermutlich profanen Herkunft in die Hebräische Bibel aufgenommen worden sind.“ (1,305) Diese Einschätzung entspricht nicht mehr aktuellen Einsichten, im Gegenteil: Im Dialog mit der Umwelt hat die jüdische Elite eine eigenständige Kultur der Weisheit entwickelt. Nicht zufällig wird das Hiob-Narrativ – ein Weisheitstext – von Habermas als „eine Sozialisationsfabel gelesen, […] die von der Einübung in die kategorische Geltung moralischer Gebote berichtet.“ (1,340) Hiob ist mitnichten ein Vorläufer Kants, sondern im Finale ein Anhänger der Klugheitslehre.

Luther und die Folgen. Habermas betont, dass Luther einen grundsätzlichen Verdacht gegen die Vernunft hegt. Luther „bringt den methodischen Vorrang des performativen Sinns der religiösen Erfahrung vor dessen propositionalem Gehalt hermeneutisch zu Bewusstsein, aber er will diesen nicht mehr, um die Vernünftigkeit des Glaubens zu erweisen, rational rekonstruieren und begründen. Vielmehr konzentriert er sich auf das Gottesverhältnis des um sein Heil ringenden Sünders und entkoppelt den Glaubensakt von der Vernunft überhaupt. Letztere ist nämlich selbst in die korrumpierte Welt tief verstrickt. Der gefallene Mensch ist nicht länger Geist von Gottes Geist; es ist nicht länger die Vernunft, die den Menschen mit Gott verbindet.“ (2,13) Habermas nimmt sehr hellsichtig den „anthropologischen Pessimismus“ (2,20) wahr, der für die Trennung verantwortlich zeichnet.

Gleichzeitig „sublimiert“ nach Habermas Luther „die Opferhandlung ins Medium der Sprache und begreift die Einsetzungsworte der Eucharistie als eine Aufforderung an die Gemeinde, zeichenhafte Handlungen zu reproduzieren, die den Beteiligten bewusstmachen, dass Gott selbst in ihren liturgisch wiederholten Worten anwesend ist“. Um alles Magische abzustreifen, will Luther „das sakramentale Geschehen in ein Wortgeschehen aufheben.“ (2,44) Den Reformierten wirft Habermas vor, in ihrer Lesart drohe „das Versiegen der Quelle sozialer Integration“, „was einer menschheitsgeschichtlichen Zäsur gleichkäme.“ (2,51) Die reformierte Tradition droht im zweiten Basislager zurückzubleiben!

Kierkegaard ist für Habermas der Theologe der Emanzipation, der sich gegen die „Neutrums-Philosophie“ von Hegel um die unvertretbare individuelle Lebensgeschichte aus der Beteiligungsperspektive kümmert: Ziel ist es, ein Selbst zu werden. „Die Individualität lässt sich nicht als ein Bündel von Eigenschaften beschreiben, sondern allein aus der Vollzugsperspektive des Beteiligten selbst als ein Prozess der lebensgeschichtlichen Individuierung begreifen.“ (2,680)

Habermas hält Kierkegaard allerdings vor, dass er, wie Schleiermacher, den paradoxen Kern des Christentums, die Menschwerdung Gottes, nicht sakramentstheologisch gestützt habe. Deshalb mahnt er, nicht dürfe die „Kirche ihr religiöses Proprium“ aufgeben, „sie würde auf eine innerweltliche Vergegenwärtigung des aus der Transzendenz, also von jenseits der Welt hereinbrechendes Heilsgeschehen verzichten und damit die Rolle des sakralen Komplexes aufgeben, zur Erzeugung und Stabilisierung gesellschaftlicher Solidarität beizutragen.“ (2,702) Darin erkennt Habermas die Funktion religiöser Selbstdeutung, er selbst kann nur aus dem „Zuwachs an institutionalisierten Freiheiten“ und „den Praktiken und rechtlichen Gewährleistungen demokratischer Verfassungsstaaten“ seinen „Mut schöpfen“. (2,806)

Tiefdunkel eingefärbt

Angefragte Lernschritte. (a) Jürgen Habermas feiert durchgängig die sozialintegrative Kraft des religiösen Rituals, häufig begleitet von einer sympathiebezeugenden Lektüre von René Girard, hält Schleiermacher und sogar Kierkegaard vor, in sakramentstheologischen Fragen antriebslos zu argumentieren. Nach einem säkularen Surrogat fragt Habermas überraschenderweise nicht: Hier böte sich die Kategorie des Festes an, das ebenfalls von erstaunlicher sozialintegrativer Kraft zeugt.

(b) Jene mit Luther anhebende Trennung von Glaube und Wissen verdankt sich einer extremistischen Sündenlehre, die die Anthropologie tiefdunkel einfärbt, Habermas spricht markant von „schwarzer Anthropologie“ (2,52), denn in dieser Theologie ist die Vernunft bleibend durch den ‚Sündenfall‘ geschädigt. Es gehört zum protestantischen Eros, auch liebgewordene Deutungen der eigenen Helden im Rekurs auf die Großnarrative zu hinterfragen. Zumindest die Vertreter der Weisheitstheologie des Alten Testaments und Autoren wie der von Habermas geschätzte Herder sind in dieser Hinsicht optimistischer als Luther und seine Peergroup. Von hier aus ließe sich eine andere Geschichte erzählen.

(c) Viele Philosophen geraten im von Habermas inszenierten teleologischen Durchgang durch die Geistesgeschichte – auch das eine Erbschaft heilsgeschichtlichen Denkens – aus dem Blick, das gilt für viele antike Philosophen, für den prächtigen Nietzsche und auch die Franzosen des 20. Jahrhunderts, die mit der Forderung nach dem anderen der Vernunft die komprehensive Vernunft offenbar zu sehr stressen; sie werden im Basislager zurückgelassen. Ein zweiter Punkt kommt hinzu: Habermas verfolgt den Paradigmenwechsel weg von den Weltbildern hin zur Subjektphilosophie und dann zur Sprachpragmatik, doch den neueren Perspektivenwechsel hin zu Leiblichkeit und Emotionalität vollzieht er nicht oder allenfalls halbherzig.

(d) Habermas feiert Kierkegaard, aber er scheut sich, dessen Gattungseinebnung zwischen Literatur und Philosophie mitzumachen. Noch immer hält Habermas an seiner Übersetzungsforderung religiöser Erfahrung fest. Das ist und bleibt strittig. Zu überlegen ist, ob nicht die Theologie ein anderes Konzept von Kommunikation verfolgt, ob nicht der „Bote die mediale Urszene ist“ (Sybille Krämer).

(e) Erhellend schließlich ist die medientheoretische Aufmerksamkeitsschulung, die Habermas einfordert: „Offenbar korreliert der Gestaltwandel des Heiligen mit der sozialrevolutionär folgenreichen Erweiterung der Kommunikationsmedien. Die Metaphysiken und Weltreligionen entstehen im Rahmen von Schriftkulturen als »Buchreligionen«, die den rituellen Umgang mit dem Heiligen auf schriftlich überlieferte und dogmatisierte Lehren umstellen. […] Die Frage, was die Umstellung auf digitale Kommunikationsmedien und die Ermächtigung weltweit vernetzter Leser zu Autoren für einen weiteren Formwandel des sakralen Komplexes oder das mögliche Versiegen dieser Quelle von Solidarität bedeuten könnte, ist einstweilen offen.“ (1,272) Damit kann auch die Theorie kommunikativen Handelns nicht das letzte Wort der Philosophiegeschichte sein. Lehr- und Lernaufträge dürfen weiterhin vergeben werden.

Das aber bleibt: Habermas ist ein außerordentlicher Gesprächspartner und ein Stachel im Fleisch gegenwärtiger Theologie. Und jetzt: Zweite Brotzeit. Plus ein Habermaß Weißbier!

Literatur

Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 1 752 Seiten, Euro 98,–.

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Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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