Sehn-Sucht und Sinn-Stiftung

Warum sich die Suchthilfe in Deutschland individualisieren wird
Neue psychoaktive Substanzen
Foto: akg-Images/© FDA/Science Source
Unter dem Begriff „neue psychoaktive Substanzen“ sind künstlich hergestellte Amphetamine und Cannabinoide bekannt.

Seit Menschengedenken gibt es Rauschmittel. Doch wie wir heute mit Alkohol, Tabletten, Kokain oder der Spielsucht umgehen, erschließt sich nur mit einem Blick zurück. Diese These vertritt der Psychater und Suchtexperte Martin Reker.

Der Umgang mit Rauschmitteln und das Verständnis von Sucht wandeln sich von Generation zu Generation. Der Umgang mit Suchtmitteln heutzutage wird nur verständlich, wenn man verstanden hat, wie unterschiedlich er früher war. Das macht es auch interdisziplinär so spannend, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründete sich ausgehend von den USA in vielen Ländern eine gerade von christlich geprägten Menschen getragene Mäßigkeitsbewegung gegen das Trinken von Alkohol und seine oft furchtbaren Folgen für Familien und die Gesellschaft. Im deutschsprachigen Raum entstanden auf protestantischer Seite 1877 das Blaue Kreuz, auf katholischer Seite 1896 das Kreuzbündnis, um aus dieser bis heute bestehenden Selbsthilfebewegung heraus die Menschen vom Laster des Alkohols zu befreien. Übermäßiger Alkoholkonsum wurde als sündhaft bewertet. Sehr viele Menschen mit Alkoholproblemen waren so mit starken Schuld- und Schamgefühlen belastet. Der stark moralisierende Umgang prägt das Arbeiten mit Suchtkranken bis in die heutige Zeit und ist eine der größten Zugangsschwellen auf dem Weg zu suchtspezifischer Hilfe.

Ende des 19. Jahrhunderts gewannen die Anhänger der Eugenik – zum Teil auch unterstützt von den Kirchen – immer mehr Einfluss auf die öffentliche Diskussion und gingen an vielen Stellen eine unselige Allianz mit den Abstinenzverbänden ein. Alkoholismus wurde jetzt als in weiten Teilen erblich angesehen, Heirat und Elternschaft von alkoholkranken Menschen sollte vermieden werden. Die Stigmatisierung Suchtkranker hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben in Deutschland Alkohol und Tabak die bevorzugten Rauschmittel. Sie stießen in der Gesellschaft auf breite Akzeptanz und wurden in allen Medien öffentlich beworben. Es gab zwar Suchtberatungsstellen, Selbsthilfegruppen und „Nasenbleichen“, also Entwöhnungskliniken; die Alkoholabhängigkeit war aber bis 1968 als Krankheit noch nicht anerkannt. Insofern hielt das medizinische Gesundheitssystem auch keinerlei Hilfen bereit. In den 1970er-Jahren änderte sich das: Getragen von der Protestkultur der 68er-Generation hatten Drogen wie Cannabis, Heroin und LSD in der jüngeren Generation eine hohe Akzeptanz. Die Drogenhilfe, die sich in diesen Jahren aus der Jugendhilfe entwickelte, stellte das Autonomiebedürfnis ihrer Klientel sehr in den Mittelpunkt. Im Gegensatz dazu war das Alkoholhilfesystem weiter stark abstinenzorientiert und sehr streng und kontrollierend.

Sucht auf Rezept

Still und heimlich entwickelte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren eine andere Sucht: Die Benzodiazepinabhängigkeit, die vor allem Frauen im mittleren Lebensalter betraf. Sie nutzten die Suchtmittel nicht, um – wie die alkoholtrinkenden Männer – ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Sie wollten damit ihre Ängste und Depressionen, die ihre Wurzeln oft in unterdrückten Erlebnissen der Kriegs- und Nachkriegsjahre und im Frauenbild dieser Zeit hatten, verdrängen und weiter funktionieren. Mit ihren Beschwerden gingen sie nicht zu Psychotherapeuten, sondern zu Ärzten, denen sie sich mit unspezifischen körperlichen Erkrankungen oder Symptomen präsentierten und bekamen dort Antidepressiva und/oder Benzodiazepine. Nie hätten sie geahnt, dass die Verschreibung ihrer Ärzte sie einmal süchtig machen könnte. Inzwischen sind Ärzte mit der Langzeitverschreibung von Benzodiazepinen vorsichtiger geworden. Die betroffenen Frauen haben ihre Tablettenabhängigkeit aber mit ins Alter genommen, so dass sich heute Altenheime und die Gerontopsychiatrie mit diesem Thema beschäftigen. Wer in den 1970er- und 1980er-Jahren über längere Zeiträume harte Drogen wie Heroin und Kokain genommen hat, hat dafür häufig einen hohen Preis bezahlt. Viele Heroinabhängige sind gestorben. Wer überlebt hat, verdankt das oft einer Methadonsubstitution. In den meisten Regionen sind weit über die Hälfte aller Heroinkonsumenten inzwischen in laufender Substitutionsbehandlung und können so ihr Leben und den Rest ihrer verbliebenen Gesundheit bewahren. Nur wenigen ist es gelungen, wieder Anschluss an den gesellschaftlichen Alltag zu bekommen. Viele bewegen sich weiter in ihrer Community, holen sich ihr Substitut ab und verbringen den größeren Teil des Tages mit anderen „Überlebenden“ biertrinkend im Park. Die Altenhilfe tut sich mit den alt gewordenen Drogenabhängigen, aber selbst mit den alt und hilfebedürftig gewordenen Alkoholkranken schwer. Die Freiheit zu einem selbstbestimmten Rauschmittelkonsum, den viele der überlebenden Suchtpatienten einfordern, können oder wollen viele Altenhilfeeinrichtungen nicht bereitstellen. So leben die meisten von ihnen in ambulant betreuten individuell unterschiedlich angepassten Lebensformen. Unter den jüngeren Menschen geht der Anteil opiatabhängiger Menschen deutlich zurück.

Auch das Hilfesystem für suchtkranke Menschen hat sich verändert: Bis in die 1990er-Jahre hinein schien das „Abstinenzdogma“ zumindest für Alkoholkranke unumstößlich. Die Drogenhilfe hat aber gezeigt, dass auch eine niederschwellige Suchtarbeit, die zunächst nur Leben und Gesundheit sichern will, sinnvoll sein kann. Die therapeutische Vergabe von Suchtmitteln oder das Verteilen von Spritzen zur Verhütung schwerer Folgeschäden war in der Suchthilfe für alkoholkranke Menschen lange unvorstellbar. Erst nach und nach konnte man über eine „akzeptierende Suchthilfe“, auch über „kontrollierten Konsum“ nachdenken.

Man begann zu verstehen, dass man den Suchtkranken mit Schuldzuweisungen und Sanktionen nicht (allein) helfen konnte. So versucht man seit 15 Jahren zunehmend mehr, die subjektive Seite des Suchtkranken zu verstehen, den Sinn des Konsums zu begreifen und motivierend mit den Betroffenen zu arbeiten. Das führt auch dazu, dass es nicht mehr nur den „Königsweg“ zur Abstinenz gibt, der über Beratungsstelle, Entgiftung, Entwöhnung und Selbsthilfegruppe führen muss. Man hat begonnen, Suchthilfen stärker zu differenzieren und für jeden den Einstieg in eine Veränderung zu suchen, der zu dieser Person und ihrer Situation passt. Man hat erkannt, dass Suchtkranke in sehr vielen Lebensbereichen auftauchen. So versuchte man, sich in diesen verschiedenen Sektoren stärker zu vernetzen. Das war nicht ganz einfach, weil verschiedene Berufsgruppen aus ganz unterschiedlichen Finanzierungsbereichen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Hilfetraditionen aufeinandertreffen. Innerhalb des Suchthilfesystems müssen sich die Mitarbeiter aus den Suchtberatungsstellen mit den Suchtmedizinern aus der Psychiatrie verständigen, die Therapeuten aus den psychiatrischen Versorgungskliniken in der Region müssen sich mit den über die Rentenversicherung finanzierten Fachkliniken der medizinischen Suchtrehabilitation abstimmen. Selbsthilfegruppen wollen als fester Bestandteil des therapeutischen Hilfesystems wahrgenommen werden. Außerhalb des Suchthilfesystems gibt es Bewährungshelfer, gesetzliche Betreuer, Kollegen aus der Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe oder aus der Eingliederungshilfe, aber auch Jugendämter und Jugendhilfeeinrichtungen, Gefängnisse, Jobcenter und Arbeitsagenturen sowie Schulen und Ausbildungsstätten, die mit dem Thema Sucht alltäglich konfrontiert sind und Anleitung und Unterstützung suchen, um der eigenen Klientel gerecht zu werden. In vielen Regionen Deutschlands gibt es inzwischen kommunale Netzwerke, die gemeinsam und abgestimmt aufeinander versuchen, den suchtkranken Menschen auf dem Weg in ein normales, von Rauschmitteln unbeeinträchtigtes Leben zu helfen.

In der Suchthilfe gibt es eine breite Bewegung, suchtkranke Menschen über die Betonung des Krankheitsaspektes von Scham und Schuldgefühlen zu entlasten, um ihnen so den Zugang zu Veränderung zu erleichtern. Spezifisch christliche Hilfeangebote sind dadurch – auch im Verbund mit der allgemeinen Säkularisierungstendenz in Deutschland – randständiger geworden. Selbsthilfegruppen und Suchtberatungsstellen in christlicher Tradition halten sich mit dem Bekenntnis zu ihrem Glauben oft zurück, um offen für alle hilfebedürftigen Menschen zu sein. Spätaussiedler mit Alkoholproblemen aus Osteuropa, meist aus verschiedenen Freikirchen, haben christliche Hilfeangebote neu belebt. Die großen deutschen christlichen Konfessionen, die in der Suchthilfe als Träger weiter stark engagiert sind, bleiben demgegenüber in ihrer christlichen Profilbildung oft blass. Über die jüngeren Generationen sind ganz neue Themen aufgetaucht. Rauschmittel werden in zunehmendem Umfang zur Selbstoptimierung eingesetzt, um am Arbeitsplatz oder im Studium leistungsfähiger zu sein und um bei Partys mehr Spaß zu haben und länger durchzuhalten. Entactogene wie XTC oder GHB, „liquid ecstasy“, intensivieren den Zugang zur Musik und stärken das verbindende Gefühl mit den anderen anwesenden Partygästen; Speed, Ketamin und Kokain vertreiben Müdigkeit und ermöglichen scheinbar endloses Feiern. Auch neue psychoaktive Substanzen gehören dazu. Unter dem Namen NPS bekannt, handelt es sich hierbei um künstlich hergestellte Amphetamine und Cannabinoide. Sie sind in Onlineshops erhältlich und werden dort als „Legal Highs“ verkauft – oft als „Badesalze“ und „Kräutermischungen“ verharmlost. Mit harmlosen Kräutermischungen haben sie aber rein gar nichts zu tun. Die labortechnisch hergestellten Drogen sind stärker als die herkömmlichen. So versuchen viele junge Leute heutzutage, psychoaktive Substanzen im beruflichen Setting zur Leistungssteigerung zu benutzen, beim Chemsex verhelfen aufputschende Substanzen zu vermeintlich besserem Sex. Manche Drogen sind eher anregend wie Metamphetamin („Chrystal Meth“), halluzinogene Substanzen wie LSD, Pilze oder Psyilocybin verschaffen unterhaltsame Erfahrungen, Cannabis dämpft nach einem anstrengenden Tag. Am Beispiel Cannabis lässt sich noch eine andere wichtige Entwicklung darstellen: der Versuch, Rauschmittelkonsum zu entkriminalisieren und stärker in die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen zurückzugeben. Nachdem das Recht auf freie Selbstbestimmung in der deutschen Wertehierarchie auch unterstützt durch das Bundesverfassungsgericht immer weiter nach oben gerutscht ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Cannabiskonsum legalisiert wird.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich zunehmend die Frage gestellt, in welcher Weise bestimmte Verhaltensweisen süchtig entarten können. Die Firma Gauselmann macht seit Jahrzehnten große Geschäfte mit Glücksspielautomaten. Spielhallen und Wettbüros sind aus dem Leben der Innenstädte nicht mehr wegzudenken. Poker und andere Glücksspiele um Geld erfreuen sich auch online im Internet großer Beliebtheit. Als problematisch erweisen sich aber nicht nur die Spiele um Geld, sondern auch Spiele wie „World of Warcraft“, die die „Gamer“ bis zur völligen Erschöpfung an den Computer fesseln, weil das Spiel immer weitergeht. Hierbei kann es Gamern gelingen, in einer Parallelwelt die Wertschätzung und Anerkennung zu erwerben, die es im Alltagsleben für viele nicht mehr gibt. Es zeichnet sich deutlich ab, dass der Anspruch auf weitgehende Selbstbestimmung dazu führen wird, den Zugang zu Rauschmitteln weiter zu liberalisieren.

Die Liberalisierungsdebatte um Cannabis hat bereits die Verschreibung von medizinischem Cannabis ermöglicht, die Verfügbarmachung für rekreative Zwecke wird über kurz oder lang folgen. Schon heute gibt es in Deutschland eine Diskussion, dass die Spieleindustrie die Zeit verschlafen hat: Computerspiele kommen überwiegend aus dem Ausland. Muss dieser zukunftsweisende Industriezweig von der deutschen Politik nicht mehr gefördert werden? Noch unvertraut scheint demgegenüber das sogenannte Neuro-Enhancement, also die angeleitete und mehr oder weniger kontrollierte Verfügbarmachung von leistungssteigernden Substanzen. Das „Hirndoping“ hilft dabei, in Prüfungsphasen fit zu bleiben und am Arbeitsplatz in Zeiten der Hochkonjunktur die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen jederzeit voll zur Entfaltung bringen können.

Coaching statt Therapie

Um auch als Therapeut immer präsent und auf der Höhe zu sein, werden Therapien für Menschen mit Suchtproblemen in Zukunft stärker individualisiert und an die Lebenssituation der betroffenen Leute angepasst sein. Online-gestützte Therapieverfahren, die es ermöglichen, mit dem Klienten immer in Kontakt zu sein, werden dafür sehr bedeutsam sein. Therapie wird dann viel mehr als heute eher ein Coaching sein.

Suchttherapie hat immer etwas mit Sinnstiftung, mit Sehn-Sucht zu tun. Deswegen gibt es mehr als früher Therapiekonzepte, die sinnstiftende Ziele wie Partnerschaft, Kinder, berufliche Erfüllung und Achtsamkeit mit der eigenen Person ganz in den Mittelpunkt der Veränderung rücken. Suchtmittelkonsum hat immer einen Sinn, der verstanden werden will. So hat die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel an den von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld mit dem Community Reinforcement Approach ein Hilfekonzept zunächst in der Region, später in vielen anderen Regionen Deutschlands implementiert, das genau dieses Ziel verfolgt. Und an dieser Stelle müssen sich Suchttherapeuten in christlicher Tradition einbringen, um Menschen, die über Rauschsubstanzen oder über Verhaltenssüchte den Kontakt zum Leben verloren haben, wieder einen Platz zurückzuerobern, von dem aus sie sich neu entwickeln können und im Sinne des neutestamentlichen Gleichnisses von den anvertrauten Talenten die Chancen und Ressourcen leben können, die ihnen gegeben sind.

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Martin Reker

Martin Reker ist Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Klinik für Psychatrie und Psychotherapie in Berlin-Bethel.


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