Abkürzung zum „Glück“

Der neuronale Mechanismus der Sucht macht diese zur Hirnerkrankung
Peter Fonda in dem Film „The Trip“, USA 1967.
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Peter Fonda in dem Film „The Trip“, USA 1967.

Im Hirn gibt es einen neuronalen Mechanismus, der Suchtverhalten nicht nur ermöglicht, sondern sogar belohnt und verstärkt. Gemeint ist der Nucleus accumbens – ein System von neuronalen Zellen, die das „Glückshormon“ Dopamin als Botenstoff verwenden. Dieses Hirnareal ist die Zentrale unseres körpereigenen Belohnungssystems, wie der Wissenschaftsjournalist Reinhard Lassek erklärt.

Nicht immer lassen sich lebensbejahende Freuden und lustvolle Neigungen zweifelsfrei von lebensbedrohlichen Abhängigkeiten und leidvollen Zwängen unterscheiden. Denn die Übergänge sind oftmals gleitend. Medizinisch bedenklich wird es jedoch, wenn Genuss zum Missbrauch verkommt, wenn Lust zur Last und Begehrlichkeit zur Abhängigkeit mutieren. Das gilt etwa für den exzessiven Alkohol- und Nikotinkonsum. Gleiches ist aber in allen nur denkbaren Suchtzusammenhängen beobachtbar. Und das hat sehr viel damit zu tun, dass der neuronale Mechanismus aller Süchte offenbar der gleiche ist: Was auch immer im sozialen Umfeld den Einstieg in eine „Suchtkarriere“ befördern mag, die eigentliche Abhängigkeit entsteht im Innern: Denn eine Sucht hat sich erst manifestiert, wenn sie das Hirn verändert hat. Sucht ist letztendlich eine Hirnerkrankung.

Umgangssprachlich werden bekanntlich alle aus den Rahmen der Normalität fallenden körperlichen und psychischen Begehrlichkeiten und Abhängigkeiten bereits als Sucht bezeichnet. Erstaunlicherweise gelingt diesem vermeintlich so unpräzis-laienhaften Sprachgebrauch, woran Experten bislang gescheitert sind: eine Bezeichnung zu finden, die all die vielfältigen Suchtphänomene umfasst.

Ein unabweisbares Verlangen

Selbst die Weltgesundheitsorganisation verwendete bis 1963 noch den Begriff Sucht. Hernach wurde dann vorzugsweise von Missbrauch oder Abhängigkeit gesprochen. Inzwischen wird eine Rückkehr zur herkömmlichen Begrifflichkeit diskutiert. Denn die sprachliche Gleichsetzung von Abhängigkeit und Sucht ist nicht immer zielführend. So gehören die starken psychischen Abhängigkeiten, unter denen etwa Heroinsüchtige oder Alkoholiker leiden, gewiss einer anderen Kategorie an als etwa die körperliche Abhängigkeit eines Zuckerkranken von Insulinpräparaten. Aus medizinischer Sicht bedeutet Abhängigkeit im Sinne von Sucht, dass ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand besteht. Es wird etwas angestrebt, was sich als Wohlgefühl einstellt. In seiner Wirkung gleicht dieses Wohlbefinden dann einer Belohnung. Wird solch ein verständliches Verlangen aber erst einmal zur Sucht, so existieren dafür keinerlei Freiheitsgrade des Verzichts mehr. Bereitwillig werden der Sucht alle Fähigkeiten des Verstandes untergeordnet. Sowohl die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit als auch ihre soziale Einbindung kommen allenfalls nur noch eingeschränkt zur Geltung.

Es gibt zwei Kategorien, denen sich alle Suchtphänomene zuordnen lassen – substanzgebundene und substanzungebundene Abhängigkeiten. Zum einen kann sich also eine Abhängigkeit zu bestimmten Substanzen wie Alkohol, Nikotin und/oder sonstigen Drogen manifestieren. Zum anderen kann sich eine Abhängigkeit zu bestimmten Denk- und Handlungsmustern entwickeln, ohne dass daran eine äußere stoffliche Zuführung beteiligt ist. Dazu gehören Abhängigkeitsphänomene wie Glückspielsucht, Kaufzwang, Hypersexualität oder auch Essstörungen. Das Leben der substanzungebundenen Suchtpatienten ist also nicht vom Zwangskonsum geprägt, sondern von Zwangshandlungen – dem innerem Drang, ganz bestimmte Dinge zu denken oder zu tun. Dass sowohl bei substanzgebundenen als auch substanzungebundenen Suchtpatienten ähnliche Mechanismen wirken, legt unter anderem eine Studie der Berliner Charité nahe: Mit Hilfe eines bildgebenden Verfahrens (der Elektroenzephalografie) konnte bereits 2005 gezeigt werden, dass Alkohol- oder Cannabisabhängige vergleichbare elektrische Hirnaktivitätsmuster aufweisen wie Computerspielsüchtige.

Den Patienten beider Suchtkategorien ist gemeinsam, dass ihre gesamte Lebensführung stark beeinträchtigt ist. Süchtige schädigen sich nicht nur fortwährend selbst, sondern auch ihre Mitmenschen. Denn ungezügeltes Suchtverhalten führt unweigerlich zum Ruin aller sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen. Eine weitere Gemeinsamkeit sind die schweren körperlichen und/oder psychischen Leiden, die als Entzugserscheinungen auftreten, wenn bei stofflicher Abhängigkeit der Nachschub ausbleibt, wenn bei psychischer Abhängigkeit die Betroffenen daran gehindert werden, ihre Zwangshandlungen auszuführen. Die Suchtmedizin als ein Fachbereich der Psychiatrie untersucht selbstverständlich alle Aspekte, die für die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen sowie für deren Therapie eine Rolle spielen. Forschungsschwerpunkte sind die Identifizierung der psychosozialen Faktoren sowie die Aufklärung der neurobiologischen Strukturen. Letzteres steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Denn letztendlich ist jede Sucht – wie eingangs bereits erwähnt – eine Erkrankung des Hirns. Es muss also Hirnstrukturen geben, die die Etablierung einer Sucht ermöglichen. Wie die Hirnforschung zeigt, müssen diese Hirnareale nicht eigens angelegt werden. Die Sucht unterwandert und okkupiert bereits vorhandene Hirnstrukturen und baut sie zum „Suchtzentrum“ aus. Das geschieht entweder mittels bestimmter Substanzen oder durch exzessive Verhaltensweisen. Beides vermag bestimmte Hirnareale zu stimulieren und zu manipulieren.

Es gibt verschiedene Hirnbereiche, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von Suchtverhaltensweisen stehen. Der wichtigste neuronale Kern ist der Nucleus accumbens im mesolimbischen System, einem Areal des unteren (basalen) Vorderhirns. Im Nucleus accumbens wird das „Glückshormon“ Dopamin als Neurotransmitter (Botenstoff) verwendet. Da die Hauptwirkung des Dopamins im Bereich der Antriebssteuerung und Motivation liegt, ist der Nucleus accumbens die Belohnungs- und Verstärkerzentrale des Hirns. Eine Struktur also, die für das biologische Verständnis von Freude, Lust und Motivation von allergrößter Bedeutung ist. Ohne den Nucleus accumbens gibt es keine Aufmerksamkeit, keine Belohnung und Verstärkung – aber auch keine Sucht.

Je mehr Dopamin ausgeschüttet wird, desto erstrebenswerter erscheint ein Ziel und desto positiver wird das Erlebte wahrgenommen. Zugleich fördert Dopamin das Lernen, indem Gedächtnisinhalte leichter festgehalten werden können. Jedes positive Erlebnis aktiviert das Belohnungssystem im Nucleus accumbens. Anlass dafür kann ein kulinarischer oder sonstiger kultureller Genuss sein, eine besondere sportliche Leistung, ein beruflicher Erfolg oder eine beglückende soziale Begegnung. Stets kommt es zu vermehrter Dopaminausschüttung. Dies wiederum vermag unsere Lebensfreude mithin bis zur Euphorie zu steigern. Da Dopamin grundsätzlich auch dafür sorgt, unser Hirn positive Erfahrungen nicht so leicht vergisst, bleiben wir motiviert, derartige Freudenquellen auch weiterhin gezielt aufzusuchen. Nebenbei bewirkt die körpereigene Wohlfühlzentrale auch, dass wir lernen, negative Erlebnisse zu meiden. Ohne diese Bewertungs- und Belohnungsinstanz könnten wir jedenfalls nicht überleben. Denn uns käme die Motivation abhanden, überhaupt noch irgendetwas zu unternehmen. Eine Dopaminausschüttung wird auch deshalb als besonders angenehm erlebt, weil dadurch immer zugleich unangenehme Gefühle verdrängt werden. Unser natürliches Belohnungssystem lässt bei der Dosierung jedoch Vorsicht walten. Das Problematische an einer durch Drogenkonsum künstlich induzierten Dopaminschwemme ist, dass eine Auseinandersetzung mit all den Ängsten, Frustrationen sowie dem Stress, die ein normaler Alltag mit sich bringt, unterbleibt. So gesehen ist der Nucleus accumbens der Ort, der zur Weltflucht verhilft. Leider hat unser körpereigenes Belohnungs- und Verstärkersystem eine fatale Nebenwirkung: Alles, was im Nucleus accumbens eine Belohnung auslösen kann, hat zugleich immer auch ein gewisses Suchtpotenzial. Die Suche nach Wohlbehagen macht uns also anfällig für Süchte aller Art. Zumal der neuronale Mechanismus gar nicht darauf angewiesen ist, immer erst über den Umweg positiver Erlebnisse angeregt zu werden. Es bietet sich eine gefährliche Abkürzung zum „Glück“ an: Viele Suchtmittel führen nämlich direkt zur Dopaminausschüttung. Und unser Hirn kann offenbar nicht unterscheiden, ob wir gerade tatsächlich ein wunderbares Erlebnis hatten oder ob wir mittels psychoaktiver Substanzen oder gar irrer Zwangshandlungen ein solches Erlebnis quasi nur simulieren.

Nahezu sämtliche Rauschdrogen entfalten ihre fatale Wirkung dadurch, dass sie den Nucleus accumbens gezielt sensitivieren. Entweder durch direkte oder indirekte Beeinflussung der synaptischen Übertragung des Dopamins. Das Ziel ist stets eine Wirkungsverstärkung. So lassen sich jene Neurone im Nucleus accumbens, die Dopamin-Rezeptoren auf ihrer Oberfläche haben, aufgrund von Drogenkonsum bis zu zehn mal intensiver aktivieren, als es bei einem noch so positiven Erlebnis normalerweise möglich wäre. Da fortgesetztes Suchtverhalten regelmäßig zur Dopaminschwemme führt, wird die normale körpereigene Dopaminproduktion nach und nach ausgebremst. Unser neuraler Belohnungsmechanismus kann nunmehr alltägliche Lebensfreuden nicht mehr als solche erkennen. Der Alltag wird deprimierend grau erlebt und alle Versuche, etwas mehr Farbe ins Leben zu bringen, sind daher oftmals von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn ein von der Sucht geprägtes Hirn belohnt und verstärkt vorzugsweise das Suchtverhalten. Der regelmäßige Konsum von Suchtstoffen etwa bewirkt nämlich anatomische Änderungen: Die Neuronen bilden zusätzliche Synapsen (Andockstellen) für den Neurotransmitter Dopamin aus. Eine normale Dopaminausschüttung reicht nun nicht mehr aus, um auch noch diese zusätzlichen Synapsen zu besetzen. Allein die Stimulation durch das Suchtverhalten vermag noch so viel Dopamin herbeizuschaffen, dass sich noch Momente vermeintlichen Wohlbefindens einstellen.

Drogen können also das körpereigene Belohnungssystem einerseits ausbremsen, anderseits aber auch derart stimulieren und manipulieren, dass die Dopaminausschüttung völlig enthemmt wird. Eine solche Störung des normalen Dopaminspiegels ist sowohl der Grund für die unabweisbare Macht eines Suchtverlangens als auch für die Heftigkeit von Entzugssymptomen. Das neuronale Belohnungssystem jedenfalls macht, wofür es da ist: Es verstärkt das Suchtverhalten, indem jeder weitere Suchtmittelkonsum positiv im Gedächtnis abgespeichert wird und somit als wünschenswerte Wiederholung erscheint. Dadurch, dass der Nucleus accumbens die Sucht belohnt, wird also die Sucht überhaupt erst erlernt und sodann immer weiter verstärkt.

Aus neurobiologischer Perspektive ist Sucht somit vor allem eine Fehlsteuerung eines an und für sich lebensnotwendigen Mechanismus. Sobald neuronale Belohnungen nur noch über jene fatalen Abkürzungen eingefordert werden können, die dann auch nur noch das Suchtverhalten bereitzustellen vermag, ist Sucht indes kaum mehr therapierbar. Denn Sucht ist ein ebenso falscher wie übermächtiger Motivator und Stimulator jenseits aller Lebenswirklichkeit. Sucht macht den Wunsch nach den wahren Freuden des Lebens nahezu bedeutungslos. Mehr noch, sie ersetzt ihn durch ein wildes, unkontrolliertes, selbstzerstörerisches Verlangen.

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