Die Erde wehrt sich

Das Coronavirus spricht nicht, aber es gibt uns Zeichen, die wir deuten sollten
Foto: privat

So nicht. Eine Krisenzeit ist auch eine Zeit der Deutungen. Dabei werden wahrscheinlich alle einander vorwerfen, dass sie die Krise benutzen, um die Vorstellungen, die sie schon immer hatten, neu zu belegen. Das gilt bestimmt auch für meine Deutung. Interessanterweise war es ein Nicht-Theologe, der mich auf die Spur gesetzt hat. Doch zuerst eine Abgrenzung.

In seinem Artikel in zeitzeichen „Gott, das Virus und wir“ (April 2020) gibt Ralf Frisch seine Deutung der Corona-Krise. Er verweist auf „das Unverfügbare“, das in der Krise sichtbar wird: „… das existenzerschütternde Unverfügbare, das Tragische und das Heilige, also Gott selbst …“. Er wehrt sich gegen die „Hybris“, dass wir meinen, „das Dasein kraft menschlicher Fähigkeiten zum Guten wenden zu können“. Das sei ein Irrtum. Und er träumt davon, dass wir lernen, „die Sünde des Menschen ernster zu nehmen als alle schwärmerisch-theologischen Phantasien der Verwandlung der Weltgesellschaft in ein Gleichnis des Himmelreichs“.

Ralf Frischs Deutung ist nicht die meine. Mich überzeugt es nicht, dass Gott dort auftauchen soll, wo wir Menschen unsere Grenze finden. Und wenn er schreibt, dass „das wahre Herz der Religion“ anderswo schlage als dort, „wo es um die engagierte ethisch-politische Eindämmung der Weltübel geht“, dann möchte ich seine Behauptung, „das wahre Herz der Religion“ zu kennen und zu vertreten, energisch bestreiten.

Die Erde wehrt sich. Jogi Löws Reaktion auf die Corona-Krise hat mich beeindruckt und mir theologisch Orientierung gegeben. Ich zitiere einige Zeilen aus der Ansprache des Fußball-Bundestrainers: „Die letzten Tage haben mich sehr nachdenklich gestimmt. Die Welt hat ein kollektives Burnout erlebt. Ich habe das Gefühl, dass sich die Erde gegen die Menschen stemmt. Das Tempo, das wir Menschen vorgegeben haben in den letzten Jahren, war nicht mehr zu toppen. Machtgier stand im Vordergrund, Katastrophen haben uns nur am Rande berührt. Jetzt erleben wir was, was jeden einzelnen Menschen betrifft. Jetzt stellen wir fest, dass wir auf wichtige Dinge schauen müssen, was im Leben wirklich zählt: Respekt untereinander!“

Was Jogi Löw sagt, ist eine Deutung dessen, was passiert. Ein Virus spricht nicht. Ein Virus sagt nicht, warum es da ist und sich ausbreitet. Ungefähr zur gleichen Zeit war ich auf dem Fahrrad unterwegs und habe die ersten neuen Blüten gesehen. Auch das ist Natur. Und auch eine neue Blüte sagt von sich aus nichts. Das heißt: Wir müssen die Zeichen verstehen.

Apokalypse heißt Hoffnung. Das letzte Buch der Bibel heißt „die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes“. Apokalypse bedeutet also Offenbarung, Enthüllung. „Komm und sieh“, heißt es deshalb wiederholt im Text. Auch hier haben wir es mit einer Deutung zu tun.

Johannes lebt in einem Gefangenlager am Rande des Römischen Reiches. Was sieht er? In Rom konnte man viele schöne Bauten und viel Reichtum sehen. Aber Johannes sieht etwas anderes. Er sieht Solidarität. Johannes lebt von der Erzählung, dass jemand sich mit allem, was er hat, für seine Mitmenschen engagiert hat. Das hat ihn angerührt. Das hat ihn getroffen. Daran hält er sich fest.

Johannes hat gerade deshalb auch einen scharfen Blick für die Krisen seiner Zeit. Vom Rande her betrachtet er die Gewalt des Römischen Reiches. „Komm und sieh“: die Sklavinnen und Sklaven …

Später in seinem Text blickt Johannes in die Zukunft und sieht den Untergang Roms.

Komm und sieh: Sie ist gefallen, die große Stadt … – Alle auf Erden haben schmutzige Geschäfte mit ihr gemacht. – Alle Kaufleute sind mit ihr reich geworden. – Selbstgefällig sitzt sie auf ihrem Thron und denkt, dass sie unantastbar ist. – Doch an einem Tag wird alles kaputt gehen. – Die Eliten werden jammern. – Die Kaufleute werden weinen, denn niemand wird mehr ihre Waren kaufen: – Ware aus Gold, Leinen, Pferde und Wagen, und Leiber und Seelen von Menschen. – In einer Stunde ist der ganze Reichtum dahin. – Freuet euch alle! – Denn der ganze Reichtum ging über Leichen. – Nun hat die Unmenschlichkeit ein Ende. – Die Musik hört auf. Das Handwerk liegt still. Das Licht geht aus.

Johannes betrachtet den Untergang Roms als ein Gericht im Namen der Humanität. Wenn wir versuchen, Situationen wie die Corona-Krise auch als Gericht zu verstehen, dann wird deutlich, wie schrecklich diese Vorstellung ist. Denn es werden schuldlose Menschen getroffen. Das Aufatmen hat einen sehr hohen Preis. Und trotzdem heißt es: Freuet euch alle! Wie wollen wir diese beiden Seiten zusammenhalten?

Wenn wir durch die kurze Unterbrechung durch Corona das CO2-Ziel für 2020 erreichen werden, dann wissen wir, was richtig ist. Wir kennen die Richtung. Lass uns hoffen und beten, dass das Gericht nicht so kommt, wie die Apokalypse des Johannes es beschreibt.

Mich überzeugt es nicht, dass Gott dort auftauchen soll, wo wir Menschen unsere Grenze finden.

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