Verbranntes Plastik

Zwei Bestseller-Gespräche

Seit Mitte Mai (und möglicherweise auch noch, wenn Sie diese Zeilen lesen) steht Trotzdem auf Platz 1 der Spiegel-Sachbuchliste – ein äußerlich
schmales Bändchen mit zwei Gesprächen, die der bekannte deutsche Filmemacher und Autor Alexander Kluge und der nicht minder bekannte Autor und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach am 30. März führten – mitten im gerade acht Tage alten radikalen Corona-Shutdown, natürlich per Skype, und ohne Frage ein gelungener erster Aufschlag zu der Heimsuchung dieses Frühjahrs mit dem Zeug zum Buch der Stunde!

Warum? Zum einen ist es schlicht unterhaltsam. Die 80 Seiten im Din-A-6-Format lesen sich in einer genussvollen Stunde weg, und tags drauf liest man sie gerne gleich nochmal, denn zum anderen enthalten sie trotz der Kürze einen überaus materialreichen und dabei entspannten Dialog zweier hochgebildeter Intellektueller und geübter Wortschmiede aus zwei Generationen.

Die beiden kennen sich aus in der Weltgeschichte, sehr anregend ist zum Beispiel ihr Nachdenken über den Investiturstreit samt Gang nach Canossa. Darüber gelangt das Duo über große geschichtliche Katastrophen wie die mittelalterliche Pest und das Erdbeben von Lissabon von 1755 zu geistreichen Reflexionen. Sie halten für ihre Zunft fest, dass „die besten Themen“ zwischen „allen Themen“ lägen: „Das noch nicht Geschriebene, das ist unser Arbeitsfeld.“ Es folgen Erörterungen über Montesquieu, Hobbes und den heutzutage völlig unbekannten portugiesischen Politiker Carvalho e Melo, der den Wiederaufbau Lissabons organisierte.

Dann wird noch Margot Käßmann erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit Voltaire, auf den das Beben großen Eindruck gemacht hatte: „ … durch das Erdbeben von Lissabon, wurde er (Voltaire) zum Atheisten.“ Damit begann ein neues Zeitalter. Als 2010 in Deutschland eine Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche zurücktrat, zitierte sie aus einem Lied: ,Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand.‘ Vor 1755 lebten die meisten Menschen in dieser Gewissheit: Gott beschützt mich, er fängt mich auf.“ Für von Schirach scheint das nicht zu gelten, oder was soll uns das sagen?

Klarer ist er hier: „Das Grundgesetz schützt das Leben nicht um jeden Preis. Wenn Sie noch einmal an den Politiker mit den Führerscheinen denken: Tote im Straßenverkehr nehmen wir in Kauf, weil wir wollen, dass Menschen Auto fahren dürfen. Wir setzen das Leben hier also ins Verhältnis zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Oder denken Sie an den Krieg: Wir erlauben Soldaten dort zu töten. Nur die Würde des Menschen bleibt unantastbar.“ Das sind Überlegungen, die durch ähnliche öffentliche Äußerungen von Wolfgang Schäuble Ende April hierzulande zu heftigen Diskussionen führten. Wurde der Bundestagspräsident gar durch ein Preprint von Schirach angeregt – wer weiß?

Weitere große Gedanken mit gekonnten Ausgriffen in die Geschichte sind zu finden, manche rechtsphilosophisch feinsinnige Bemerkungen und eine vernichtende Kritik an Carl Schmitt. Aber auch alltagspraktische Detailperlen sind zu lesen, so dieses Geständnis von Schirachs: „Seit 30 Jahren gehe ich ja schon zum Frühstück ins Café, ich esse nie zu Hause. Jetzt habe ich das erste Mal versucht, Eier zu kochen. Es hat sofort furchtbar nach verbranntem Plastik gestunken. Der Mann vom Reparaturservice sagte dann, es seien noch die Transportsicherungen unter den Herdplatten gewesen – ich hatte in der Wohnung, in der ich seit 15 Jahren wohne, tatsächlich noch nie eine der Platten angeschaltet.“ Köstlich, denkt der geneigte Leser, das muss man sich auch leisten können.

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