Gebrauchsanleitung für das Endspiel? (I)

Sieben Baustellen, betrachtet anlässlich der „11 Leitsätze“ des Z-Teams der EKD
Kirchemamt der EKD
Foto: epd
Eingangsbereich des Kirchenamts der EKD in Hannover-Herrenhausen, erbaut 1984.

Das hochkarätig besetzte Z(ukunfts)-Team der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat 11 Leitsätze zur Zukunft der Kirche vorgelegt und zur Diskussion aufgefordert. Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie in Bochum, beginnt für zeitzeichen damit. Er hat sieben Baustellen ausgemacht. Fortsetzung folgt nächste Woche!

In den evangelischen Kirchenleitungen liegen aus guten Gründen die Nerven blank: Die im Mai 2019 vorgestellten Prognosen des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge (FZG), die eine Halbierung der Mitgliederzahl der Evangelischen Kirchen bis 2060 und eine Halbierung der Kaufkraft der Kirchen vorhersagten, scheinen zu optimistisch gewesen zu sein. Im Jahr 2019 stiegen die Austrittszahlen merklich. Die Kirchensteuereinnahmen werden sich im Jahr 2020 alleine in Folge der Corona-Krise in den Landeskirchen absehbar um 15-25 Prozent verringern. Dabei sind die voraussichtlich durch die Wirtschaftskrise bedingten Kirchenaustritte noch nicht mitberücksichtigt. Diese Einbrüche können nicht mehr weggelächelt werden. Jetzt beginnen die Verteilungskämpfe. Gleich mehrere ökonomische Triage-Situationen sind zu meistern.

In diese schwierige Zeit stößt ein neues Zukunftspapier der EKD, das von einem 2017 gebildeten Zukunftsteam verantwortet wurde. Der Selbstanspruch ist kein geringer: Die nun veröffentlichten 11 Leitsätze sollen „die Basis der Diskussion und Entscheidungsfindung für die Weiterentwicklung der evangelischen Kirche sein“. Die Besetzung ist hochkarätig und repräsentativ: Sechs Bischöfe beziehungsweise Präsides sind Mitglieder, acht Landeskirchen direkt vertreten, der Ratsvorsitzende der EKD, die Präses der Synode der EKD und ein Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD sind mit dabei. Ich vermag mich nicht an eine kirchenleitend hoch so besetzte Kommission zu erinnern.

Laut beschwiegen

In meiner Antwort auf dieses Papier möchte ich mich auf sieben Problemfelder konzentrieren. Alle sieben stellen für Kirche und Theologie offene Baustellen dar. Diese offenen Baustellen werden in den 11 Leitsätzen nur indirekt thematisiert, zum Teil nur touchiert, zum Teil aber auch laut beschwiegen. Sie springen einem nachdenklichen Leser regelrecht aus dem Text entgegen. Werden die Baustellen nicht offen angegangen, dann sind die 11 Leitsätze nicht weniger als eine Gebrauchsanleitung zum Endspiel. Aber es gilt auch ehrlich einzugestehen, dass in diesen Fragen niemand einen goldenen Schlüssel in der Hand hält. Darum sind die folgenden Überlegungen zu den sieben Baustellen Einladungen zu einer Debatte.

1. Welche Kirche? NGO-Bewegungskirche oder Gemeindekirche?

In drei Gestalten existiert die Kirche in der Gegenwart: 1. In Gestalt der staatlich weitgehend ausfinanzierten Unternehmensdiakonie, 2. In Gestalt der zumeist parochialen Gemeinde und 3. in Gestalt der vielfältigen kirchlichen Werke, Dienste und Initiativen, die nicht staatlich gegenfinanziert sind.

Die erste Gestalt, die Unternehmensdiakonie, kann an dieser Stelle außen vorgelassen werden. Sie blüht trotz Unterfinanzierung und wird in Krisenzeiten von der öffentlichen Hand über Kredite oder „die Notenpresse“ finanziert. Kunden hat sie genug, an Mitarbeitern mangelt es zuweilen. Zwischen den letzten beiden Gestalten werden allerdings die mit Macht aufziehenden Kämpfe um Prioritäten und Ressourcen ausgefochten.

Es ist diese dritte Gestalt der kirchlichen Werke, Dienste und Initiativen, die in den letzten fünf Jahrzehnten enorm gewachsen ist – finanziell wie personell. In manchen Landeskirchen arbeiten dort fast ein Drittel der Pfarrer. Und, was ganz wesentlich ist: Diese dritte Gestalt der Werke, Dienste und Initiativen, ist der Raum, in dem sich die kirchlichen NGOs entfaltet haben. Es der Raum der NGO-Bewegungskirche.

Die Kirche als Gemeinde existiert vielfach noch als Parochialkirche, wobei es zwischenzeitlich eine Fülle von ergänzenden regionalen Formen gibt. Diese reichen von Citykirchen über Richtungsgemeinden hin zu innovativen FreshX-Gemeinden jenseits des parochialen Organisationsprinzips. Es ist diese Kirche als Gemeinde, die von einem hohen Engagement im Kern gekennzeichnet ist. Zugleich kennt sie abgestufte Gestalten der Zugehörigkeit. Und es ist diese Kirche als Gemeinde, die eine starke dauerhafte symbolische Präsenz durch Gebäude (Kirchen inklusive Glocken) und Personen (Pfarrerinnen und Pfarrer) lebt und sehr weite Kreise der vielfach nur imaginierten Zugehörigkeit eröffnet.

Gemeindekirche oder NGO-Bewegungskirche?

Die Frage, die auf dem Tisch liegt und in den anstehenden Verteilungskämpfen bearbeitet werden muss, lautet: Welche Gestalt der Kirche ist zukunftsfähig? Die Gemeindekirche oder die NGO-Bewegungskirche?

Es ist ganz deutlich: Die 11 Leitsätze erwarten von der Kirche als Gemeinde keine Impulse für die Zukunft. Weder von ihrem Pfarrpersonal, noch von ihrer Sozialform. Die Leitsätze der EKD setzen auf eine irgendwie dynamisch gedachte NGO-Bewegungskirche, die irgendwie spontan an vielen neuen Orten präsent ist.

Die parochiale oder regionale Gemeinde ist abgeschrieben. Auf irritierende Weise distanzieren sich die bischöflichen Vereinsvorsitzenden von der Vereinskirche und die bischöflichen Amtsträger von der Amtskirche. Die theologischen Gründe dieser Option liegen auf der Hand. Nur in der NGO-Bewegungskirche lässt sich die moralische Eindeutigkeit in der Option für die Armen, für die Suche nach Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und nicht zuletzt für die „klare Kante“ gewinnen. Nur mit der NGO-Bewegungskirche lässt sich das bisherige Programm der Öffentlichen Theologie fahren. Nur hier finden sich in der Zivilgesellschaft progressive Partner der Kirchen. Nicht zuletzt meinen die Autoren, die Jugend am ehesten für die Gestalten der NGO-Bewegungskirche faszinieren zu können. Das Leitmodell ist Greenpeace: Eine flache, aber rigide Hierarchie, Aktionsexperten, spektakuläre Aktionen mit politischer Signalwirkung, mediale Resonanz, ein paar zahlende Spender und ein großes staunendes Publikum. Eben starke Resonanz.

Das Problem dieser Option ist, dass die NGO-Bewegungskirche nicht nachhaltig ist, weder finanziell noch personell. Die NGO-Bewegungskirche lebt in Wahrheit von den vielen Stillen im Lande, denen die Gemeinde, auch aus der Distanz betrachtet, sehr wichtig ist. Die dynamischen Kämpfer der NGO-Bewegungskirche, die alle nahe am Puls der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsempfindungen leben, leben ökonomisch von denen, die sie im Grunde genommen verachten. Der Vortrupp der neuen Gesellschaft lebt vom Geld der Zurückgebliebenen. Und: Die führenden Aktivisten leben von den Gehaltszahlungen und den Rentenkassen der Anstaltskirche.

Die klare Option für die NGO-Bewegungskirche ist aber auch deshalb selbstzerstörerisch, weil sie personell nicht nachhaltig ist. Religion als ethisches Bekenntnis lebt weitestgehend von jenen, die irgendwann engeren, frömmeren und spirituelleren Milieus entflohen sind. Unübersehbar ist, dass die meisten Kinder der Aktivisten gleich die Parteimitgliedschaft der Kirchenmitgliedschaft vorziehen. Kurz: Die in den strukturellen Passagen der 11 Leitsätze überall durchscheinende Option für die vermeintlich am Puls der Zeit agierende NGO-Bewegungskirche ist schlicht selbstzerstörerisch für die Kirche – und zwar langfristig auch für die NGO-Bewegungskirche.

Ohne falsche Romantik weiterentwickeln

Natürlich muss sich die Ortsgemeinde ohne falsche Romantik weiterentwickeln in Richtung regionaler Vernetzung. Es muss umsichtig geprüft werden, was sich bewährt und was im Blick auf den Auftrag der Kirche unverzichtbar ist. Aber es dürften die Resonanzfelder der Gemeinde sein, in denen sich bei zurückgehendem Kirchensteueraufkommen zusätzliche Ressourcen nachhaltig mobilisieren lassen. Dies lehren nicht zuletzt die ökumenischen Erfahrungen. Es ist zweifellos so: Ohne lebendige Ortsgemeinden wird die Kirche schlicht untergehen.  

Das Verhältnis zwischen Gemeindekirche und NGO-Bewegungskirche ist bleibend asymmetrisch. Die letztere ist von ersterer vielfältig abhängig. Dies schließt auch aus, Ortsgemeinden in lokale oder religionale Agenturen der NGO-Bewegungskirchen zu machen. Was dies in Zeiten dramatischer Verteilungsprobleme bedeutet, ist ebenso zu diskutieren wie die Frage, in welchem Verhältnis der wechselseitigen Forderung und Förderung beide Gestalten der Kirchen in der Zukunft stehen können.

2. Warum in der Kirche sein?

Was ist der theologische Kern und die soziologische Pointe von Kirchenmitgliedschaft? Diese Frage bedarf einer Klärung. Warum?

In dem letzten Jahrhundert hat der liberale Protestantismus der westlichen Gesellschaften ein einzigartiges theologisches Experiment durchgeführt: Wie lebt es sich als Kirche, wenn die organisatorische Grenze der Kirche nicht mehr die Grenze des Heils ist? Heil und Unheil trennt nicht mehr die Kirche von der Welt. Schließlich geht der Himmel über allen auf. Schließlich wird die faktische Versöhnung der Welt nicht durch den Akt des Glaubens in der Kirche ins Werk gesetzt, sondern gilt vorgängig der ganzen Welt.

Soziologisch betrachtet, kann die Kirche nicht mehr mit den eigenen theologischen Begriffen die Grenze der Organisation deuten. Ganz entsprechend ist theologisch weithin unklar, was jemand gewinnt, wenn er getauft wird, und was er verliert, wenn er aus der Kirche austritt und die Mitgliedschaft ablegt. Dies ist im Kern das theologische Problem der schon lange schwelenden Mitgliedschaftskrise. Und dies ist die Ausgangslage, die dringend als Problem anerkannt und theologisch bearbeitet werden muss.

Warum Kirchenmitgliedschaft problematisieren?

Wie ist nun vor diesem Hintergrund mit den angestiegenen Austrittszahlen umzugehen? Zwei Strategien werden von der Zukunftskommission vorgeschlagen. Beide verschärfen jedoch das Problem, indem sie Mitgliedschaft aktiv relativieren beziehungsweise uminterpretieren. Indem die leitenden Geistlichen explizit das Interesse an Menschen verstärken wollen, die sich auch ohne Mitgliedschaft der Kirche verbunden fühlen, problematisieren sie direkt die Kirchenmitgliedschaft: Auf die kommt es offensichtlich gar nicht an. Warum sollte man noch ‚Vollmitglied‘ sein? Wird man erst durch die ‚richtige‘ Mitarbeit zum anerkannten Vollmitglied? Warum sollten engagierte Mitarbeiter nicht austreten, dennoch „dabeisein“ und für die Dinge spenden, die ihnen am Herzen liegen? Letztlich drückt sich in diesem Interesse an den Engagierten ohne Mitgliedschaft eine verzweifelte Hoffnung aus: Es werden ja nicht weniger Mitarbeiter, nur weniger Kirchenmitglieder!

Hinzu kommt aber noch ein zweites: Die Überlegungen zu Mission legen offen, dass es den Verfassern im Kern um eine Ethik geht, wenn es ihnen um Glauben geht – eben um den Einsatz „für die Schwachen, Ausgegrenzten, Verletzten und Bedrohten“. Genau diese ethische Ausrichtung ist zweifellos die Schubkraft hinter der Suche nach zivilgesellschaftlichen Partnern (unter dem Titel Mission!). Diese Ausrichtung ist aber zugleich auch die Offenlegung einer simplen Tatsache: Die Kirche hat nichts zu bieten, das nicht auch irgendwelche anderen sozialmoralischen und politischen Akteure zu bieten haben. Dies reicht aber, so meine These, am Markt der Aufmerksamkeit nicht aus. Auf diesem Markt könnte es für eine selbstkritische Kirche gerade umgekehrt produktiv sein, zu fragen, wofür sie keine Partner findet.

Wenn ein sozial-politisches Programm vertreten wird, das sich weitgehend mit dem Programm möglicher Bündnispartner deckt, dann entfällt jeder Grund, wirklich in der Kirche zu sein. Es gibt keinen Unique Selling Point mehr – außer vielleicht einen spezifisch spirituellen Motivationsbooster kombiniert mit etwas religiöser Symbolfolklore. Natürlich werden noch gewissermaßen im Sinne eines dekorativen Zuckergusses semantische Reste gepflegt, aber deren operative Bedeutung wird in den 11 Leitsätzen der bischöflichen Kommission nicht deutlich. Mitglied sein, heißt irgendwie Protestantismus gut finden. Reicht dies? Im Ernst?

Ehrliche Mitgliedszahlen bejahen?!

Der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, bietet noch eine dritte Strategie. Er interpretiert in seinem Facebook-Kommentar zu den 11 Leitsätzen (und an anderen Orten) die gestiegenen Kirchenaustritte mit dem, was ich die Bodenbildungstheorie nennen möchte: Es gehen eben nur die, die aus Zwang und Konvention in der Kirche waren. „Es gilt, ehrliche Mitgliedszahlen zu bejahen“.

Die schönfärbende Annahme ist, es bilde sich allmählich ein essentieller Bodensatz in der als Läuterung begriffenen Abwärtsbewegung, da am Ende die wirklich Überzeugten, die kleine und reine Schar, die Elite, übrigbleibt. Eben die bewussten, aktiven und moralisch richtig agierenden und für das moralisch-politische identische optierenden Freiwilligen. Obwohl sicherlich die Beobachtung richtig ist, dass es immer weniger selbstverständlich ist, Kirchenmitglied zu sein, verblüfft diese Deutung angesichts realer Enttäuschungserfahrungen von Menschen doch.

Problematischer aber ist, dass diese Bodenbildungstheorie illusionäre Züge tragen dürfte. Der Boden ist wie jeder Boden schlicht ganz unten, bei 0 Prozent. Die von einst 64 Prozent bis aktuell etwa 9 Prozent Bevölkerungsanteil Protestanten reichende Abwärtsbewegung in den Niederlanden spricht eine deutliche Sprache. Die Vorstellung, die Kirche könne sich sozusagen entspannt gesundschrumpfen, entbehrt jeder Evidenz. Es wird keinen moralisch heiligen Rest geben! Solches Denken führt zu Managementfehlern. Der Schrumpfungsprozess findet auf allen Ebenen statt.

Die Entscheidung, dass die Grenze der Organisation Kirche nicht die Grenze des Heils ist, ist theologisch vollständig zu bejahen. Auch dann, wenn sich die Kirchen nicht an die Zahlen verlieren dürfen, beginnt und endet damit nicht die theologische, die organisationssoziologische und die psychologische Arbeit. Wenn es in der Tat nicht mehr selbstverständlich ist, in der Kirche zu sein, dann gilt es die still Beteiligten nicht zu denunzieren, sondern zu würdigen.

Theologie der Berufung entfalten

Dann gilt es eine Theologie der Berufung zu entfalten, die sowohl eine Vielfalt der Glaubensgestalten anerkennt wie auch von Gottes Wünschen einer Partnerschaft mit den Menschen spricht. Die still Beitragenden sind anzuerkennen als solche, die wichtige und sinnvolle Arbeit ermöglichen. Sie geben eine Gabe, die fehlt, wenn sie austreten. Es gilt eine offensive Kultur des Dankes und der Wertschätzung gegenüber allen Mitgliedern – etwas was an vielen Orten schon geschieht – zu etablieren. Jeder still bezahlte Cent an sogenannter Kirchensteuer durch getaufte Christen ist bis zum Beweis des Gegenteils ein Akt der theologisch und organisatorisch zu würdigenden Mitarbeit an der Kirche Jesu Christi. Wer hier auch nur mit dem Gedanken spielt, dies zu bezweifeln, taugt weder zur geistlichen noch zur organisatorischen Leitung der Kirche.

Vielmehr muss eine Theologie der dankbaren Gabe und des Opfers (ja!), eine Theologie der Ermöglichung stellvertretenden Handelns (ja!) entfaltet werden. Wenn die 11 Leitsätze die „Steuer“ als Vereinsbeitrag zur Förderung des Protestantismus deuten, sozusagen Mitgliedschaft als eine Frage des sozialmoralischen Lifestyles behandeln, so offenbart dies ein tiefes Missverständnis von Kirche und von den Bedürfnissen der Menschen. Ohne eine spirituell-theologische Deutung der Mitgliedschaft wird sich der Exodus nicht aufhalten lassen, ja wahrscheinlich beschleunigen. Was Kirchenmitgliedschaft theologisch, religionspsychologisch und organisationssoziologisch bedeutet, gilt es offen zu erforschen und zu diskutieren. Nicht zuletzt gilt es, vorhandenes Wissen umzusetzen.

3. Woher kommen eigentlich die Christenmenschen?

Eine Frage, die in den 11 Leitsätzen äußerst präzise vermieden wird, ist so banal wie zentral, so einfach wie kompliziert, so peinlich wie befreiend. Und sie steht für alle sichtbar im Raum: Woher kommen sie eigentlich, die Christenmenschen? Wie werden die das?

Es war ja schon die Einsicht, die Nikodemus im Johannesevangelium aus dem Nachtgespräch mit Jesus mitnimmt: Menschen werden nicht als Christen geboren. Sie werden Christen. Aber wie? Wachsen sie wie Pflaumen auf den Bäumen, die man nur schütteln muss? Wachsen sie wie Moos im Wald? Vertritt man nicht die abseitige Auffassung „Schrumpfen ist gut“, dann stehen diese Fragen unausweichlich im Raum.

Vier mögliche Antworten laufen offensichtlich auf das Riff der Realität. Ihr Scheitern sollte Anlass sein, eine Gemeinschaft ehrlicher und doch zugleich lösungssuchender Ratlosigkeit zu bilden. „Religiös sind eh alle und etwas Wasser aus dem religiösen Strom fließt auch auf unsere Mühlen“ (die liberale Antwort), „Das ist ausschließlich der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes und des Geistes geschuldet und hat nichts mit uns zu tun“ (die radikal-kerygmatische Antwort), „Wir müssen effektiver, innovativer und vor allem offensiver missionieren“ (die evangelikale und charismatische Antwort) und „Irgendwie klappt es schon mit der Sozialisation bei all den vielen Sozialisationsorganisationen, die wir haben“ (die volkskirchliche Antwort) – all diese Antworten greifen gegenwärtig nicht mehr. Aber, wie gesagt, hier hält niemand den goldenen Schlüssel in der Hand.

Sensibles, selbstkritisches Wahrnehmen

Doch die Ratlosigkeit darf nicht zu Faulheit verführen. Sie muss eine Suchbewegung, ein so sensibles wie selbstkritisches Wahrnehmen der empirischen Realitäten und theologischen Zumutungen befördern. Es scheint schlicht so zu sein: Wenn immer weniger Menschen Christen werden, gibt es immer weniger Christen. Das kann nicht ernsthaft das Interesse von evangelischen Christen und deren Bischöfinnen und Bischöfen sein. Wenn die 11 Leitsätze bei diesem heiklen Partykillerthema Mission gleich auf die Teilhabe an der göttlichen Mission zugunsten von Gerechtigkeit abstellen und die Suche nach politischen Bündnispartnern empfehlen, dann ist dies einerseits richtig, aber andererseits auch richtig falsch.

Gerade wenn man die schwindende Milieuselbstverständlichkeit „als Bürger ist man auch Christ“ diagnostiziert, dann muss die Frage „Woher kommen eigentlich die Christenmenschen?“ zur Leitfrage werden. Sie wie die 11 Leitsätze beiseite zu schieben, dokumentiert heute nicht mehr eine mutig-aufrechte anti-evangelikale und befreiungstheologische Haltung, sondern ist ein lautes Zeichen einer Verweigerung und Verdrängung.

Wie wächst Vertrauen in einen Gott, der in Christus Mensch wurde und sich im Geist wirksam vergegenwärtigt? In welchen sozialen Kontexten geschieht dies indirekt und latent, in welchen kontinuierlich, in welchen disruptiv und in Kehren? Warum führt die gegenwärtige Arbeit in kirchlichen Kindergärten und im Religionsunterricht zu so wenig Resilienz gegenüber Bindungslosigkeit und Traditionsabbruch? Wie können diese Kontexte geschaffen, gepflegt und gefördert werden? Welche Räume und Orte der fraglosen und selbstverständlichen Praxis des Christseins sind zu kultivieren? Wie sehen die ganz menschlich gemachten förderlichen Umgebungen aus, in denen das Wunder des Glaubens sich ereignen kann, so dass jemand derart staunend seinen Zweifel verliert, dass er „Abba“ betet?

Welche expliziten und scharfen intellektuellen Auseinandersetzungen sind anzunehmen, zu suchen und auszufechten? Zu sagen, das ganze Leben der Christen sei eben Mission, ist nicht hinreichend. In der gegenwärtigen Lage wirkt es sich als hinderlich aus, dass diese Fragen in den vergangenen Jahrzehnten nicht zureichend bearbeitet wurden und auch nicht offen und breit genug diskutiert wurden. Es waren die Fragen von Außenseitern, von Verrückten und von Spezialisten. Jetzt müssen es Fragen der breiten Kirchengestaltung werden.

Dies sind die drei ersten offenen Baustellen für Theologie und Kirche. In einem zweiten Teil, der ab kommenden Montag, dem 27. Juli, auf zeitzeichen.net zu lesen sein wird, werden vier weitere Baustellen besichtigt: „Hat das alles etwas mit Gott zu tun?“; „Wozu braucht man echte Laien in der Profi- und Freizeitreligion?“; „Sind Pfarrerinnen und Pfarrer gut für die Zukunft der evangelischen Kirche?“ und „Welche Sache? Welches Produkt?“

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