Beliebiger Mann

Müntzer: Eine wahre Geschichte

Éric Vuillard reißt die Wunde erneut auf. Thomas Müntzer, abgehandelt, eingeordnet in Sozial- und Kirchengeschichte. Einst eine Hassfigur – nicht nur – für Luther und Melanchthon, viel später ein Held für Kommunisten. In Westdeutschland ignoriert, in der DDR verstaatlicht, domestiziert und bis zum Erbrechen geehrt: als Straßen-, Brigade-, LPG- und Kasernenname, schließlich gar auf dem lila Fünf-Mark-Schein – doch seit dreißig Jahren mehr oder weniger egal: Eric Vuillard reißt die Wunde auf und lässt sie bluten.

Parteiisch schreibt Vuillard, mit Verve. Er versetzt sich in Müntzer hinein, verwandelt sich ihm an: Müntzer brennt und schmerzt, fabuliert und faselt – manchmal geht der Autor zu ihm auf Distanz. Vuillards Held hat ein „Verlangen, und es ist nicht das gleiche Verlangen, das einen zu Thomas Müntzer macht, das einen Kardinal werden lässt.“ Am Ende sieht sich Müntzer als Gideon mit dreihundert Männern. Das Resultat ist bekannt. Vor der Schlacht bei Frankenhausen erscheint ein Regenbogen: Der Himmel, erst „tiefblau“, verändert sich zu „einem tiefen, grauenvollen Blau.“

Doch ist Vuillards Müntzer ein Held? Er stirbt als ein „beliebiger Mann“ aber nicht feige. Er reiht sich ein in die Reihe Aufständischer und Rebellen gegen die Ordnung von arm und reich, die vor ihm getötet wurden. Er stirbt, „weil er so entschlossen die Kraft des Zeichens = empfunden hatte, und weil mehr Brot und Freiheit nur zu haben sind, wenn man sie an sich reißt.“ Das ist allgemeingültig gesagt. Vuillard spricht über die Gegengewalt von unten. Er verweigert sich den „großen Sophismen der Macht“ und weiß etwas über diese zu sagen. Etwa dies: Den Untertanen wird „zeit ihres Lebens so viel Respekt gelehrt, dass sie dem Fürstenwort gern ein weiteres Mal Glauben schenken. Dem Wort des Vaters möchte man immer glauben.“

Ja, Vuillard redet dem Krieg der Armen das Wort. Doch sieht er keine (Er)-Lösung. Die reformierte Stadtordnung in Mühlhausen schilt er eine „kleinkarierte Handwerkerdemokratie“. Und Gott erhebt sich nicht. Das kann er auch nicht, denn, so Vuillard, in „Wirklichkeit betrifft der Zwist um das Jenseits die Dinge dieser Welt. Darin liegt die ganze Wirkung, die jene aggressiven Theologien noch immer auf uns haben.“ Und „heute ist die Ware Gott.“

Die Gewährsleute des Autors sind Friedrich Engels, Karl Kautsky und Ernst Bloch. Auf ihrer Linie schreibt er weiter. Auch die Legende von Müntzers niedriger Geburt und der Hinrichtung von dessen Vater wiederholt er. Vuillard verteidigt Müntzer, der diese als Elfjähriger erlebt haben soll, sogar: „Man kann in jeder Revolte und in aller Inbrunst die Verklärung eines persönlichen Leids erkennen, ja und?“ Nur stritt der erwachsene Thomas Müntzer mit seinem Vater um das Erbteil seiner Mutter.

Dennoch erzählt Vuillard eine existentiell wahre Geschichte. Er erkennt den „Schmerz als zentrale Erfahrung“ Müntzers, nähert sich dessen Mystik in Naturbildern und führt den Apokalyptiker der Fürstenpredigt vor Augen. Immer wieder findet er Bilder, die das Vergangene in die Gegenwart holen. Etwa für die Hörer-Reaktion auf Müntzers Predigt in Zwickau: Die „Leidenschaften entflammen, denn sie spüren deutlich, die Tuchmacher, dass man nur an einem Faden zu ziehen braucht, damit sich die ganze Webarbeit auflöst, und sie spüren, die Bergknappen, dass der ganze Stollen einstürzt, wenn man nur weit genug gräbt.“

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