Glatt oder gekörnt?

Wie Zeit ins Fließen kommt
Goldene Uhren
Fotos: dpa

Ist Zeit eine objektive Gegebenheit oder lediglich ein Konstrukt des Bewusstseins? Seit Jahrtausenden sinnen Philosophen, Theologen und Mystiker darüber nach. Einige Jahrhunderte lang bemühen sich mittlerweile auch Naturwissenschaftler um des Rätsels Lösung – indes ohne dafür eine einheitliche physikalische Grundlage zu haben. Der Wissenschaftsjournalist Reinhard Lassek erläutert den Stand der Forschung.

Das Fortschreiten aus der Vergangenheit in die Zukunft wird in der Alltagssprache zwar gern als das „Fließen der Zeit“ beschrieben, doch vermag niemand zu sagen, was denn da eigentlich „fließt“. Zwei Lager stehen in der modernen Physik einander gegenüber: Für Anhänger der Relativitätstheorie ist Zeit relativ und somit eine pure Illusion. Sie ist weniger eine physikalisch beschreibbare Realität, denn eine intuitive Vorstellung. Ein subjektives Phänomen, das zudem denkbar eng mit dem Bewusstsein verbunden ist – einem anderen bislang nicht fassbaren Phänomen. In der Quantenphysik hingegen unterliegt nicht nur alle Materie der Quantelung, sondern auch die Energie. Alle fundamentalen physikalischen Größen treten nachweislich immer nur in ganz bestimmten, diskreten Portionen (Quanten) auf. Das legt die Vermutung nahe, dass auch die Zeit gequantelt ist. Dann müsste es aber ein spezielles Zeit-Teilchen geben, quasi ein „Raumzeit-Atom“. Wird es gefunden, wäre Zeit keine Illusion mehr, sondern eine objektivierbare Größe.

Gewiss, die Physik hat das Rätsel der Zeit noch nicht lösen können. Es gelingt ihr aber immerhin, tiefer und tiefer in das Geheimnis einzudringen. Da die beiden großen physikalischen Leitkulturen – Relativitätstheorie und Quantenmechanik – von völlig gegensätzlichen Zeitkonzepten ausgehen, wird man sich dem Phänomen wohl auch nur annähern können, sofern eine Vereinheitlichung dieser beiden Theoriegebäude gelingt. Im Folgenden sollen zumindest stichwortweise die Aussichten dafür ausgelotet sowie die wichtigsten Konsequenzen skizziert werden. Auch wenn Zeit als solches ein Rätsel ist, so ist sie dennoch hinsichtlich der Geschwindigkeit von Abläufen eine physikalische Basisgröße. Eine Größe also, die nicht durch andere Basisgrößen ausgedrückt werden kann. Benötigt wird die Zeit immer dann, wenn es gilt, eine Abfolge von Ereignissen zu beschreiben, die eine eindeutige und allgemeinhin unumkehrbare Richtung haben. Und diese Beschreibungen werden heutzutage immer genauer. Nie zuvor konnte Zeit derart präzise gemessen werden. Um etwa bei einer herkömmlichen Cäsium-Atomuhr eine Abweichung von auch nur einer Sekunde feststellen zu können, müsste man einhundert Millionen Jahre warten. Diese Genauigkeit ist für Netzwerktätigkeiten wie Telekommunikation und Energieversorgung auch nötig. Denn die daran beteiligten Systeme funktionieren nur, wenn sie sich stets im gleichen Zeittakt befinden. Hier sind Abweichungen von maximal einer Mikrosekunde (millionstel Teil einer Sekunde) tolerierbar. Bereits in der Entwicklung sind optische Atomuhren, die unter Verwendung der Lasertechnologie nochmals einhundert bis eintausend Mal genauer sind als herkömmliche Atomuhren. Ihre tägliche Abweichung beträgt allenfalls eine Femtosekunde (billiardstel Teil einer Sekunde). Es müssen etliche Jahrmilliarden vergehen, ehe sich auch nur eine Ungenauigkeit von einer Sekunde einstellt. In der Tat, Zeit ist zwar weitgehend unverstanden, aber dennoch mit geradezu ungeheuerlicher Präzision messbar. Die Physik jedenfalls vermag nicht zu sagen, ob Zeit überhaupt unabhängig von bewusst wahrgenommenen Objekten und ihrer Veränderlichkeit existiert. Möglicherweise wird sie ja wirklich erst als spezielle Anschauung im menschlichen Bewusstsein „erschaffen“. Dennoch gibt es selbstverständlich die physikalische Vorstellung von einem Zeitpfeil, einer eindeutig gerichteten Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Was in nächster Zeit aus der Zeit wird, darüber entscheidet allein, welche Modifikationen der Relativitätstheorie sowie Fortschritte in der Quantenmechanik möglich sind.

Zur Erinnerung: Albert Einsteins Relativitätstheorie hat zwei Teile. Während die Spezielle Relativitätstheorie die äußere Struktur des Universums beschreibt, geht es in der Allgemeinen Relativitätstheorie um das Wesen der Schwerkraft (Gravitation). Die Quantentheorie hingegen untersucht die innere Struktur der Materie. Nils Bohr und Arnold Sommerfeld sind die wichtigsten Wegbereiter für die hernach vor allem von Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger ausformulierte Quantenmechanik (vgl. zz 12/2019).

Berührungslos nebeneinander

Sowohl Relativitätstheorie als auch Quantenmechanik sind mit schier unfassbarer Genauigkeit experimentell bestätigt worden. Sie haben dabei unser klassisches Verständnis von „Raum“ und „Zeit“, aber auch das von „Realität“ zerstört. Doch die beiden großen physikalischen Entwürfe stehen nahezu berührungslos nebeneinander. Es fehlt die kausale Verbindung. Die Physik hat ihre Einheit verloren. Und das wiederum bedeutet, in der jetzigen Form können beide Theorien nicht richtig sein. Gesucht ist also eine einheitliche Theorie, die auch die widersprüchlichen Zeitkonzepte zusammenzuführen vermag. Zum Zeitbegriff der Relativitätstheorie: Für Isaak Newton waren Raum und Zeit noch absolute Größen. Nach Einstein gibt es jedoch weder absolute Räume noch eine absolute Zeit. Denn Zeit existiert nicht unabhängig vom Raum. Sie ist eine mit dem Raum verschränkte Dimension. Die Zeit ist mit den drei Raum-Dimensionen zur vierdimensionalen „Raumzeit“ verknüpft. „Gegenwart“ existiert in Einsteins „Blockuniversum“ allenfalls in einem einzigen Raumzeitpunkt. Das „Jetzt“, so Einstein, liegt außerhalb der Physik. Es hat keine objektive Bedeutung. Zeit ist eine Illusion – und zwar eine besonders hartnäckige. Und Zeit ist vor allem relativ. Sie vergeht nicht immer gleich. Sie verläuft stets umso langsamer, je schneller sich der Beobachter bewegt oder je stärker das Schwerkraftfeld am Ort des Beobachters wirkt. Somit kann es auch keine universelle Gegenwart geben – wohl aber eine universelle Vergangenheit und Zukunft. Und beide sind jeweils eindeutig festgelegt, da die Relativitätstheorie physikalische Prozesse vom Anfang her definiert, nämlich durch Ursache-Wirkungs-Ketten – zeitlich klar definierbaren Abfolgen.

Zum Zeitbegriff der Quantenmechanik: Unser alltägliches Erleben folgt jenem Kausalitätsprinzip, nach dem Ursachen stets ihren Wirkungen vorausgehen. Die Quantenphysik macht jedoch ganz andere Erfahrungen. Hier sind physikalische Größen mitunter auch vom Ende her definiert, nämlich durch ihre größtmögliche Wirkung. Denn in der Welt der Quanten ist die zeitliche Abfolge zweier physikalischer Zustände oftmals gar nicht feststellbar. Die Quantenwelt ist quasi ein Reich ohne Reihenfolge. Abläufe überlagern einander so, dass Ursache und Wirkung verschwimmen. Der Zeitpfeil verliert gewissermaßen seine determinierende Bedeutung. Das macht die Zukunft – im Gegensatz zur Relativitätstheorie – unbestimmt und damit offen. Da in der Quantenmechanik – wie erwähnt – physikalische Größen immer nur in ganz bestimmten, diskreten Portionen (Quanten) auftreten, unterliegt vermutlich auch die Zeit einer Quantelung. Ist dem so, dann mutiert Zukunft von einem Ort naturgesetzlichen Zwangs wieder zum Hort aller Möglichkeiten.

Wie wird die Zeit-Kontroverse ausgehen? Kann die Relativitätstheorie etwa die Zeit wieder zum Fließen bringen, ohne zu Newtons absoluter Zeit zurückzukehren? Nur, wenn es zu einer Erweiterung kommt, die konstatiert, dass zwar der Raum stillzustehen vermag, nicht jedoch die Zeit. Die Zeit würde dann wieder unerbittlich fließen, aber nicht überall gleich. Denn sie bleibt ja nach wie vor abhängig von der Gravitation und der Geschwindigkeit des Bezugssystems. Die Quantenphysik indes hat andere Möglichkeiten, Zeit zum Fließen zu bringen. Bereits Einstein vermutete, dass die Relativitätstheorie möglicherweise quasi nur eine Art großräumige Mitteilung über eine tiefere Wirklichkeitsschicht sei. Eine, die eine mikroskopisch kleine Struktur aufweist. Sollte Zeit tatsächlich wie Materie und Energie aus fundamentaleren Strukturen aufgebaut sein, dann bekäme sie auch ihre fundamentale Bedeutung zurück. Es gibt mehrere Ansätze, Relativitätstheorie (Gravitation) und Quantenmechanik zu einer Theorie der Quantengravitation zusammenzufassen. Etwa durch die String- oder die Loop-Theorie. Beide Theorien postulieren völlig neue Vorstellungen von „Teilchen“ – winzige Strukturen weit unterhalb jener Dimensionen, mit der es Teilchenphysiker bislang zu tun haben. Es geht dabei nicht um irgendwelche punktförmigen Objekte, sondern um Schwingungszustände winzigster Fäden oder Saiten (Strings) oder um die Knotenpunkte eines über Schleifen (Loops) verknüpften raumzeitlichen Netzwerks. Die Schleifen-Quantenkosmologie beispielsweise löst den herkömmlichen kontinuierlichen Zeitbegriff zugunsten einer diskreten, nur an bestimmten Punkten definierten Zeit auf. Anders als im Raum-Zeit-Kontinuum Einsteins sorgen quantenmechanische Vorstellungen dafür, dass sich die Raumzeit in allerkleinste Einheiten – quasi in „Raumzeit-Atome“ – aufteilen lässt. Die Einführung einer diskreten Zeit hat indes nicht nur bedeutende Auswirkungen auf die Struktur der Raumzeit selbst, sondern berührt auch die Frage nach der Materie- und Energiedichte des Universums. Während bei Annahme einer kontinuierlichen Zeitachse die Energiedichte beliebig ansteigen kann – was unweigerlich zum Kollaps des Universums führt –, bleibt die Energieaufnahme-Kapazität eines diskreten Zeitgitters stets begrenzt. Denn so ein Gitter funktioniert wie ein poröser Schwamm. Einmal vollgesogen, wird überschüssiges Wasser einfach abgestoßen. Ganz ähnlich reagiert auch der Schleifen-Quantenkosmos in der Situation des Urknalls, dem denkbar höchstenergetischen Ereignis des Universums: Ist der Zeitpunkt der maximalen Energieaufnahme erst einmal erreicht, wirkt das Zeitgitter für zusätzliche Energie abstoßend. Abstoßende Kräfte bewahren die Raumzeit nicht nur vor dem Untergang, sie ermöglichen sogar eine Welt vor dem Urknall.

Kein starres Gitter

Es gibt auch noch ein weitaus radikaleres Zeit-Konzept: „Raumzeit-Atome“ bilden demnach kein starres Gitter, sondern können sich quasi vermehren und dadurch die Zeit überhaupt erst erschaffen. Die Vermehrung kommt durch spontane Entstehung neuer Elemente gemäß gewisser Wahrscheinlichkeiten zustande, was partiell zur Ansammlung neuer „Raumzeit-Atome“ führt. Damit wäre ein schrittweises Anwachsen der Raumzeit möglich. Aus einer körnigen Struktur der Raumzeit folgt aber auch, dass Zeit nur scheinbar als kontinuierlicher Strom fließt. Denn gequantelte Zeit kommt immer nur ruck- und portionsweise voran – wobei jeder Ort gemäß der Relativitätstheorie wiederum sein eigenes Tempo hat. Es gibt quasi unendlich viele „Sanduhren“, die allerorten neue Zeit generieren.

Wie spekulativ dies alles auch sein mag, mit den „Raumzeit-Atomen“ hat die Physik immerhin endlich eine Erklärung dafür gefunden, wie Zeit überhaupt voranschreiten kann. Und möglicherweise ist diese Spekulation sogar nachweisbar. Falls Raumzeit nämlich nicht kontinuierlich (glatt) ist, sondern diskret (gekörnt), dann sind Störungen im Zeitfluss unvermeidlich. Ideen für einen experimentellen Aufbau zur Messung derartiger Störungen gibt es bereits. Ob sich Belege für eine Körnung der Zeit finden lassen, wird indes erst der Lauf der Zeit erweisen.

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