Vom Thron gestoßen

Die Uhr verliert ihre Macht. Was bedeutet das für unser Leben?
Man könnte sie auch so lassen: Uhr am Stuttgarter Bahnhof.
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Man könnte sie auch so lassen: Uhr am Stuttgarter Bahnhof.

Die Uhr, deren wichtigste Aufgabe es einmal war, für das reibungslose Funktionieren einer auf Wachstum ausgerichteten Ökonomie zu sorgen, kann ihre Aufgaben heute nicht mehr erfüllen. Das bedeutet das Ende jener Zeiten, auf die hin die Menschen bisher verpflichtet wurden. Der Zeitforscher Karlheinz Geißler beschreibt Gründe und Folgen dieses sich wandelnden Zeitgeistes.

Wir sind gegenwärtig Zeugen, Täter und zugleich Opfer eines Prozesses, in dem jene Zeitordnung an Gestaltungskraft und Wirkmächtigkeit einbüßt, die sich am Vorbild der Uhr ausgerichtet und stabilisiert hat. Es sieht ganz so aus, als hätte die über Jahrhunderte erzwungene Freundschaft mit der Uhr heute ein Ende. Wie dem Autoreifen die Luft, entweicht der Uhr der Einfluss auf die Zeitorganisation. Die Uhr kann gehen – aber anders als die Uhrmacher sich das vorstellen. Mag das auf den ersten Blick als eine bedrohliche Botschaft wahrgenommen werden, macht der zweite optimistischer.

Die Zeiten ändern sich. Von 270 französischen Klöstern hatten bereits vor zehn Jahren nur noch 25 keinen Internetanschluss. Das Leitmedium Internet kennt keine Uhrzeit, es braucht sie nicht. Über lange Zeit war die Uhr eine moderne Heldenfigur. Aus ihr ist heute eine Heldin auf dem Rückzug geworden. Zeitgenossen, die ihr die Treue halten, liefern sich der Gefahr aus, den Zug der Zeit zu verpassen.

Die traditionellen Zeitansager an Kirchtürmen, Rathäusern, Verkehrsknotenpunkten, in Schulen und Amtsgebäuden verlassen den öffentlichen Raum und verkriechen sich in die Ecken und Spalten der Nutzeroberflächen. Nicht einmal mehr für die traditionelle Freundschaftskultur, bei der man sich am Bahnhofsvorplatz zu einer vereinbarten Zeit unter der Uhr verabredet hat, braucht man sie. Facebook und Smartphone machen sie überflüssig.

Die Uhr verlässt den Thron der Zeitmacht, um für das internetfähige Mobiltelefon Platz zu machen. Von den Diktaten der Uhr befreit, folgen wir seinen Imperativen inzwischen willig. Die Zeitansage der Uhrzeiger wird so überflüssig wie die Glocke, mit der die Wallstreet täglich den Handel eröffnet und abschließt. Die Reparatur altehrwürdiger Turmuhren geschieht, wird sie nicht ganz unterlassen, erst nach längerem Stillstand. Trotzig beharren die defekten Uhren auf ihrer monatelang unveränderten Zeitansage. Der Uhrmacher taucht inzwischen in Statistiken und Abhandlungen vom Aussterben bedrohter Berufe auf. Die Handwerkskammern melden deutliche Rückgänge bei den Uhrmachermeisterbetrieben. Kein Wunder, dass Berufsberater Schulabgängern ihren Berufswunsch „Uhrmacher“ mit der Warnung ausreden, sie würden in Zukunft nicht mehr gebraucht.

Der Rückzug der Uhren beschränkt sich jedoch nicht auf ihren Schwund im öffentlichen Raum, er zeigt sich auch am Armaturenbrett unserer Autos. Es ist noch nicht allzu lang her, da gehörte eine gut sichtbare Uhr zur Grundausstattung eines jeden Kraftfahrzeugs. Reserviert war für sie der prominente Platz an der Tafel mit den Messanzeigern direkt hinter dem Steuer. „Uhren“ aber, meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende 2012 auf ihrer Seite „Auto und Verkehr“, selbst etwas erstaunt über die Entdeckung, „gehören offenbar nicht mehr ins Armaturenbrett.“ Unbescheidene Touchdisplays haben ihren Platz vor und neben dem Steuer eingenommen. Die Zeitanzeige hingegen versteckt sich, als sei es ihr peinlich, irgendwo am Rande des Displays. Die Uhr, deren wichtigste Aufgabe es einmal war, für das reibungslose Funktionieren einer auf Wachstum ausgerichteten Ökonomie zu sorgen, kann ihre Aufgaben heute nicht mehr erfüllen. Sie verlässt daher, mal geschubst, mal gezwungen, eher selten freiwillig ihren bisherigen repräsentativen Herrschaftssitz.

Doch es wäre ein Missverständnis, das Siechtum der Uhr mit dem der Zeit zu verwechseln, aber es ist das Ende jener Zeiten, auf die hin die Menschen bisher erzogen, dressiert und verpflichtet wurden und an die sie sich gewöhnt hatten. Dieser Wandel des Zeitgeistes hat Gründe und Ursachen. In der von digitalen Codes unterwanderten technoiden Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zeigen sich tiefgreifende Verschiebungen der zeitlichen Orientierungssysteme und des Umgangs mit Zeit. Schreibmaschinen haben die Bürowelten verlassen, der Takt verabschiedet sich aus dem Arbeitsalltag und Uhren wandern aus dem öffentlichen Raum aus. Alles Rückzüge, die gravierende Auswirkungen bis tief hinein in die menschlichen Gewohnheiten, Gesten und Empfindungen haben. Sie begleiten den Wandel von der industriellen zur digitalen Gesellschaft.

Seit 1970 etwa geriet das der linearen Uhrzeit abgeschaute Zeitordnungsmodell des „Eins-nach-dem-anderen“ ins Stottern und wurde von den Zeitordnungsprinzipien der Gleichzeitigkeit und des Nonstop bedrängt und abgelöst. Informationen, die heute als wertvollste Wirtschaftsgüter gelten, werden mit nicht mehr steigerungsfähiger Lichtgeschwindigkeit in einem globalisierten Raum transportiert. Wissen ist jederzeit, überall und gleichzeitig verfügbar. Globaler als global kann es nicht mehr werden und schneller, als sich das Licht fortbewegt, auch nicht. Einmal in weniger als einer Sekunde um die Welt ist heute keine Nachricht mehr wert.

Statt Uhrengehorsam, Pünktlichkeit, Schönschreiben und Geradesitzen sind Flexibilität, Verdichtung und Beschleunigung zu Karriere- und Erfolgsgaranten geworden. Es ist nicht mehr länger der Lauf der Zeiger, dem man in den hochbeschleunigten Umgebungen folgt, es sind viele Zeiten, unterschiedliche Zeitmuster und rasch wechselnde Zeitqualitäten, die als Richtschnur dienen. Allem voran ist es die technologische Beschleunigung, die die Zeitwahrnehmung, die Zeitvorstellungen und das Zeithandeln in nur wenigen Jahrzehnten radikal verändert hat. Die quantifizierende Vernunft, von den Menschen einst in die Uhr hineingesteckt, um sie von ihr dann wieder in Form des Taktes und der inhaltsleeren Zeigerzeit zur Verfügung gestellt zu bekommen, verliert, da die Industriegesellschaft in Rente geht, ihre richtungsweisende und ordnungsgestaltende Kraft. Und so nimmt die Zahl jener Zeitgenossen zu, die die Idee, die Zeit wie eine Schuhgröße zu quantifizieren, für keine allzu zukunftsträchtige halten.

Der Gesetzgeber macht bei diesem Wandel mit. Flexibilisiert, und das heißt, unabhängiger von den Zeiten der Uhr, wurden die einst zentral geregelten Öffnungszeiten von Geschäften, Dienststellen und Amtstuben und Regelungen in den Lebenswelten Arbeit und Freizeit. Die Uhr, die einst konsultiert werden musste, um nicht vor verschlossener Ladentüre zu stehen, hat ihre Servicefunktion verloren. Auch an Geld kommt man, der 24-Stunden-Dienst des Bankomaten macht’s möglich, in finsterer Nacht.

Von weniger Takt und mehr zeitlicher Flexibilisierung versprechen sich Unternehmer, Politiker und Verbandsvertreter Umsatzsteigerungen, größeren Markterfolg und zufriedenere Bürger und Bürgerinnen. „Das Kapital”, so Botho Strauß, „kommt allemal mit dem Chaos besser zurecht als mit strenger Ordnung“. Bei den Befürwortern der Internetökonomie rennt er mit dieser Diagnose offene Türen ein.

Steigt die Zahl derer, die erkannt haben, dass ein Leben ohne Uhr möglich, eventuell sinnvoll und ganz vielleicht sogar vernünftig ist, dann kann man in solchem Sinneswandel auch eine Art „Aufstand“ gegen die Zumutungen sehen, die die Uhr den Menschen auferlegt. Die Uhr hat die Zeitwahrnehmung und die Zeiterfahrung mechanisiert und denaturalisiert. Für den rationalen Uhrzeitmenschen, der überzeugt ist, er könne alle zeitlichen Abläufe, auch die der Natur, kalkulieren und steuern, sind die Sterne erloschen. Die Uhr überformt den Alltag mit ihrem geregelten Gang, ihrem Takt und ihren quantifizierenden Zeiteinheiten. Sie steht für eine leblose Zeit, die in ihrem Verlauf einer Zahlenreihe folgt.

Andererseits war es in erster Linie die mechanische Uhr, die den Himmel entzauberte, die Zeit „entgottete“ und sie ihrer Mythen und Magie beraubte. Sie hat die Menschen aus dem „Zeitgefängnis“ der Natur „befreit“ und vom himmlischen Geschehen unabhängiger gemacht. Problemlösungen im zeitverdichteten 21. Jahrhundert verlangen einen elastischeren und flexibleren Umgang mit Zeit und eine beweglichere zeitliche Reglementierung, als sie Uhren bereitstellen und vorgeben. Die Logik des rigiden „Entweder-Oder”, des „zu spät” oder „zu früh”, des „Pünktlichen” oder „Unpünktlichen”, zu der die Zeiger und ihr starres Verlaufs-
programm zwingen, blockiert situationsspezifisches und innovatorisches Zeithandeln. Die quantitative Zeit der Uhr kappt die Verbindung zum Geschehen jenseits des Räderwerks.

Entzauberter Himmel

Darüber klagte der unstete und unglückliche Dramatiker Heinrich von Kleist (1777 – 1811) in Worten, wie man sie von heutigen Zeitgenossen auch häufig hört: „Ach, es ist meine angeborene Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können und immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, und in einer Zeit, die vorbei oder noch nicht da ist.”

Die Uhr hat den Zeithimmel leer gemacht und, wie wir heute zu erkennen gezwungen werden, die irdischen Zeiten auch ihrer Vielfalt beraubt. Sie hat die Zeit, die kein Ding ist, zu einem Ding gemacht. Wie ein strenger Chef, der einem bei der Arbeit ständig über die Schulter schaut, kontrollieren die Zeiger das menschliche Zeitleben und trennen den Umgang mit der Zeit vom Naturzusammenhang. Der Philosoph Martin Heidegger (1889 – 1976) sprach von zunehmender „Leibvergessenheit.“ Ohne den Abschied von den Zeiten Gottes hin zu den Zeiten der Kaufleute hätte der Kapitalismus, der heute annähernd alle Bereiche des Lebens erobert und sich untergeordnet hat, niemals jene Betriebstemperatur erreicht, die ihn in unseren Zeiten zwingt, sich von der Uhr als temporaler Energiequelle zu verabschieden.

Und mit diesem Abschied gehen dann auch die Zeiten zu Ende, in denen die Schnellen vom Leben und die Langsamen von ihren Chefs bestraft werden. Die komplexen Dynamiken der digitalisierten Ökonomie und die des globalisierten Lebens lassen sich weder auf eine einzige Zeitvorstellung einschränken noch in einer einheitlichen Erzählung bündeln. Darauf hat, als sich die Uhr noch auf dem Höhepunkt ihrer Macht befand, der Göttinger Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) bereits aufmerksam gemacht: „Ich wette hundert gegen eins, wenn Eure Taschenuhren Eure Vernunft hätten, es würde keine mit der anderen gleichgehen“.

Denn, so lässt sich mit Johann Gottfried Herders (1744 – 1803) Auslegung des Predigertextes ergänzen: „Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maß der Zeit – es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbare viele Zeiten.“ Die Buntheit lebendiger Zeiterfahrung und die Einfalt technisch hergestellter Uhrzeit lassen sich, selbst bei bestem Willen und mit größter Anstrengung nicht harmonisieren. Die zauberhaften Momente des Lebens, die „gefühlt“ immer zu kurz sind, haben nichts mit den exakten, gefühllosen Minuten auf dem Ziffernblatt zu tun. Uhrzeiten, die es an Rücksicht auf Zeitwahrnehmung und Zeiterleben fehlen lassen, nehmen dem Leben das Leben. Uhren sind keine Maschinen zur Zeitbeglückung. Obgleich sie zur Mehrung des Geld- und Güterwohlstandes beitragen, machen sie nicht zufrieden. Daher wird das Uhrzeitleben dauerhaft von der Frage begleitet: Ticken wir eigentlich noch richtig?

Die erstaunliche Erfolgsgeschichte der Uhr ist eng mit der Idee der Selbstbefreiung und der „Erlösung“ aus eigener Kraft verbunden. Sie hat die Menschen unabhängiger vom zeitlichen Geschehen in der Natur gemacht und hat viel dazu beigetragen, das Zeitgeschehen überschaubarer, berechenbarer und verständlicher zu machen. Die Uhr hat es den Subjekten ermöglicht, sich nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter des Werdens und Vergehens zu sehen, zu verstehen und zu erfahren. Und trotzdem kommt Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, zur Feststellung: „ … wollen wir auch nicht (…) vergessen, dass der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“

Die mit dem mechanischen Zeitmesser in die Welt gesetzte Vorstellung, der Mensch könne sein Tun und Lassen und das Werden und Vergehen beliebig beeinflussen und sei in der Lage, die Zeit managen und in den Griff nehmen zu können, hat sich jedoch als trügerisch herausgestellt. Es sieht so aus, als hätten heute die Probleme mit der Uhrzeit ein Ende. Kein Grund zu Jubelausbrüchen. Denn kaum wird’s besser, zwickt’s auch schon an anderer Stelle. Statt Uhrendiktate leere Akkus, unvorhersehbare Funklöcher und unauffindbare Smartphones. Auch wenn die Erfolgsgeschichte der Uhr an ihrem Ende angekommen ist, Chaos bricht nicht aus. Weder drehen die Normaluhren durch, noch rattern die Digitaluhren ihre Zahlen willkürlich herunter. Uhren wird es weiterhin geben, wie auch Pferde und Segelschiffe. Die Umsätze bei Gebrauchsuhren werden rückläufig sein, die der teuren Luxusuhren auch künftig steigen. Sicher ist auch, dass man weiterhin Uhren bekommt, bei denen der Kuckuck meldet, was die Stunde geschlagen hat. Sie gehören, so lang Flugzeuge abheben, zu den beliebtesten Last-Minute-Mitbringseln aus dem Flughafen-Shop.

 

Literatur

Karlheinz A. Geißler: Die Uhr kann gehen. Das Ende der Gehorsamkeitskultur. Hirzel Verlag, Stuttgart 2019, 195 Seiten, Euro 19,80.

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Karlheinz Geißler

Karlheinz A. Geißler ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München und Zeitforscher.


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