Wirtschaftspolitik war gestern

Warum nur ein Blick nach vorn die neue Wissensgesellschaft tragen kann
Die saturierten Märkte, die der Industriekapitalismus geschaffen hat, sind voll mit mehr vom Gleichen.
Foto: dpa/Florian Peljak
Die saturierten Märkte, die der Industriekapitalismus geschaffen hat, sind voll mit mehr vom Gleichen.

Grüne Ökonomie misst sich zu sehr an Kriterien von gestern, jenen der Industriegesellschaft. Dabei wartet die Ökonomie der Wissensgesellschaft auf sie, wie der Journalist Wolf Lotter beschreibt.

Mal ehrlich: Die meisten Leute, die sagen, dass „früher alles besser“ gewesen sei, haben meistens nur ein schlechtes Gedächtnis. Doch es gibt natürlich auch Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Machen wir mal einen kleinen Test: Wohin würde man eine Partei oder eine politische Bewegung im Jahr 2020 verorten, die für mehr Selbstständigkeit und wirtschaftliche Autonomie eintritt? Wie würde man Politik nennen, die das Individuum und dessen Recht auf maximalen Freiraum und maximale persönliche Entwicklung fordert und vorantreibt? Welche Politik wäre es, die sich dem Kollektivismus und der Massengesellschaft so entschieden entgegenstellt wie der Bevormundung durch Institutionen und Staat? Welche politische Kraft würde in den Bürgerinnen und Bürgern erwachsene, entscheidungsfähige Zivilgesellschafter sehen, die auch ihre ökonomischen Geschicke weitgehend in Eigenverantwortung regeln würden? Und die als Staatsziel, besser: als Ziel der ganzen Zivilgesellschaft die Selbstbestimmung und maximale Selbstverwirklichung der und des Einzelnen anführen würde?

Wer würde sich mit solchen Fragen und der Bitte um Antwort auf einen Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen wagen? Was würden all die der Partei zugetanen Journalisten, Intellektuellen und Hochschullehrer sagen? Kein Zweifel: Der großen Masse der grünen Wähler – und natürlich der grünen Politiker – erschiene die Aufstellung von weiter oben als „neoliberale“ Zumutung, die man im harten Kern der FDP vermuten würde, aber doch nicht in der eigenen Truppe? Damit ist, in toto, das Problem grüner Ökonomie-Sicht auch schon beschrieben. Denn was im ersten Absatz steht, ist nichts weniger als die DNA der Aufklärung und der Selbstverwirklichung, die den grünen Aufbruch rund ums Jahr 1968 kennzeichnete. Der Kammerton dieser Zeit lautete nicht: mehr Staat, mehr Fürsorge, mehr Regulierung, sondern mehr Freiraum und Entwicklungsmöglichkeit für das Individuum. Die dogmatische Linke und Konservative, die Sozialdemokraten und alles zwischen ihnen im politischen Spektrum hielt genau diese Vision der Achtundsechziger für ihre dubioseste, surrealste Forderung: Dass die und der Einzelne sich nicht mehr einordnen und mitlaufen, sondern über ihr/sein eigenes Leben bestimmen sollte. Damit kamen die Vormünder aller Lager nicht zurecht. Und heute finden es die Erben der Achtundsechziger dubios, wenn jemand vom Selbst redet – und nicht vom Kollektiv. Auf diesem Irrtum, den die grünen Eliten mit vielen anderen im Lande teilen, beruht das Problem, dass es keine grüne Wirtschaftspolitik gibt.

Freiraum für den Feind

Die deutsche Leitkultur haderte immer schon mit den Individualisten, die sie spontan als Abweichler identifiziert. Man mag es, in der Masse aufzugehen, sich ins Kollektiv zu kuscheln. Das ist kompatibel zum Industriekapitalismus, zum gesellschaftlichen System der Massengesellschaft, die seit dem 19. Jahrhundert zur Grundlage des ökonomischen und gesellschaftlichen Denkens in Deutschland wurde. Alle, einschließlich der Antikapitalisten, leben gut vom Industriekapitalismus. Man braucht einander. Die Sozialdemokratie erkannte das historisch immer am besten – der Klassenfeind sollte viel Freiraum haben, aber die Profite mussten geteilt werden. Das klappte gut, war erfolgreich. Wenn man in eine Welt aufbricht, in der materielle Not für die meis-ten Menschen den Alltag bestimmt, ist das ein kluges Programm. So verwob sich der industrielle Kapitalismus allmählich mit den Volksparteien und den Institutionen zu einem Industrialismus, der alle Bereiche des öffentlichen Lebens prägte und bis heute bestimmt. Doch die Risse im System waren lange vor unserer Zeit sichtbar. Der Ökonom Joseph Schumpeter beschrieb in seinem Meisterwerk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie im Jahr 1940 das Endspiel, dessen Zeuge wir heute werden: Der Industriekapitalismus, mittlerweile zum Konsumkapitalismus mutiert, hat materiell so große Erfolge erzielt, dass die Märkte – also die Menschen – satt sind. Dann würden sich die, die am meisten vom Kapitalismus profitiert haben, mehr gelangweilt als enttäuscht von ihm abwenden.

Tatsächlich hat der industrielle Kapitalismus seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine ungeheure Wohlstandsfülle erzeugt. Ein Westeuropäer des Jahres 2000 war um das 44fache wohlständiger als sein Vorfahr im Jahr 1800.

Der Wohlstand, wir wissen es, hat gute und schlechte Seiten, und er hat auch Folgen, über deren Wohl und Wehe man streiten kann. Karl Marx kannte das Problem der Entfremdung vom Arbeiter mit seinem Produkt, dem Ergebnis seiner Arbeit, eine typische Folge der arbeitsteiligen Gesellschaft, in der sich der Kontext zwischen Ursache und Wirkung immer weiter verliert. Man ist Teil eines Großen und Ganzen, dessen Zusammenhänge aber gleichsam immer unklarer werden. Das Gleiche funktioniert aber auch umgekehrt. Wo die Produktivkräfte, einst Proletarier, heute gut ausgebildete Männer und Frauen mit oft akademischen Hintergrund, nichts mehr über die Grundlage ihres materiellen Wohlstands wissen, haben sie sich dem System ebenso entfremdet, wie sie es der Ökonomie selbst gern attestieren. Ein erfolgreiches Wirtschaftssystem erzeugt einen komplexen Bedürfnisstaat, in dem der Zusammenhang zwischen der eigenen Existenz und dem eigenen Einsatz dafür – der persönlichen Leistung – immer unklarer wird. Auch hier schreitet die Entfremdung voran.

Stunde des Postmaterialismus

Darunter leiden die Sozialdemokraten besonders. Ihre Klienten waren die, die an materiellem Zuwachs und gesellschaftlichem Aufstieg interessiert waren. Das gelang offensichtlich so erfolgreich, dass man nun die Interessenvertretung dafür immer öfter entbehren kann. Nun schlägt, so könnte man meinen – jedenfalls liest und hört man es seit langem – notwendigerweise die Stunde des Postmaterialismus und damit der Grünen und einer originären grünen ökonomischen Politik. Der Fokus liegt dabei nicht auf materieller Teilhabe, weil diese Frage für eine politische Bewegung, die ohnehin stark unter den Bessergebildeten ist (Lehrer, Akademiker, leitende Angestellte, Beamte), keine große Bedeutung mehr hat. Der Fokus verlagert sich also auf Postmaterielles. Postmaterialismus ist allerdings nicht einfach das, was nach der Massengesellschaft kommt, die die Bedürfnisse vieler erfüllt. Postmaterialismus ist kein Antimaterialismus, sondern Materialismus plus Quantität plus Qualität. Qualität ist eine persönliche Größe, und die hat in diesem Spiel das Sagen. Das ist die neue Ökonomie der Wissensgesellschaft, die andere Spielregeln hat als der alte Industrialismus.

Man kann dabei der berühmten fünfstufigen Bedürfnispyramide des US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow folgen: Da haben wir auf der untersten Ebene die Sicherung der Existenz, der die Sicherheitsbedürfnisse folgen, danach die sozialen Bedürfnisse – zu denen Beziehungen gehören, Soziales, aber auch technische Aspekte wie Arbeitsteiligkeit und Organisationen menschlicher Tätigkeit. Dann aber setzt Maslow auf seine vierte Ebene die Bedürfnisse Respekt und Anerkennung, die er als Individualbedürfnisse definiert. Danach, sozusagen als Gipfel der menschlichen Bedürfnisse, kommt das Streben nach Selbstverwirklichung. Hier soll man das tun, was man am besten kann, seine Talente, sein Wissen, seine Fähigkeiten „leben“, wie man so schön sagt. Man wird den vierten Maslow unschwer in den Diskussionen um Agilität und New Work in Unternehmen finden, um Gleichheit und Anerkennung des Geschlechts wie auch der Forderung nach Respekt für das, was man ist und tut. Derlei spielte noch vor einigen Jahrzehnten außerhalb der 68er-Bewegung kaum eine Rolle, ebenso wenig wie die Selbstverwirklichungsfrage, in der sich nativ das spiegelt, was wir weiter oben als vermeintlichen „Neoliberalismus“ kennengelernt haben: die Emanzipation des Selbst vom Kollektiv.

Hier wäre das Geschäftsmodell für eine echte grüne Wirtschaftspolitik, beim Individuum, beim Selbst, bei der Selbstbestimmung, der Entwicklung der Persönlichkeit – all den Angelegenheiten also, die die Zivilgesellschaft und die Vielfalt der Märkte gleichermaßen tragen. Die Überwindung des alten Gegners Industriekapitalismus wäre in eine solche Strategie eingebaut. Denn: Die saturierten Märkte, die der Industriekapitalismus geschaffen hat, sind voll mit mehr vom Gleichen. Die Antwort auf Übersättigung ist immer Diversifikation, Differenz, bessere – persönliche – Unterscheidbarkeit. Die Wissensgesellschaft und die Wissensökonomie lösen sukzessive die alte Massengesellschaft ab. In ihnen geht es um möglichst personalisierte Problemlösungen, um Vielfalt. Das steckt beispielsweise auch hinter dem irreführenden Begriff der Industrie 4.0. Gemeint ist damit eine Produktionswirtschaft, die nicht mehr Massenprodukte vom Band lässt, sondern die Mittel der Netzwerke – technisch und organisatorisch – dazu nutzt, immer detailliertere Wünsche ihrer Kunden zu erfüllen. Aus Stangenfertigung wird ein Maßanzug. Vielfalt ist ein Wort, das die Grünen lieben. Warum nicht in der Wirtschaft? Das ist mehr als ein Angebot, es ist eine Notwendigkeit.

Der Wissensarbeiter

Aktuell wird die Automatisierung enorm vorangetrieben. Digitalisierung ist ja nichts anderes als die Übernahme von Routinetätigkeiten, die bisher Menschen erledigten, durch Rechner, Netzwerke und Algorithmen. Die klassische Arbeit der Industrie war stets Routinearbeit, streng nach Plan, Methode, Vorschrift, eng kontrolliert in einem „stahlharten Gehäuse“, wie es der Soziologe und Nationalökonom Max Weber nannte. Die neue Wissensarbeit hingegen ist individuell und selbstbestimmt, ortsunabhängig und immer weniger an Hierarchien und feste Abläufe gebunden.

Der Wissensarbeiter, so hat es der US-amerikanische Ökonom Peter Drucker gesagt, ist jemand, der seine Arbeit besser kennt als sein Chef. Das hat natürlich Folgen, die wir seit langem erkennen können: die Forderung nach mehr Selbstbestimmung und Freiraum am Arbeitsplatz. Die Forderung nach einer neuen, der Netzwerk- und Wissensgesellschaft angemessenen Organisation – Stichwort New Work und Agilität – und der Förderung einer Kultur der Selbständigkeit. In all diesen Punkten, die entscheidend sind für den Aufbau der Wissensgesellschaft, sind die Grünen steinerner Gast. Einfach auch, weil sie ihre „DNA“ der Selbstbestimmung leichtfertig aufgegeben haben, um sich in Wettbewerb mit Parteien und Institutionen der alten Industriegesellschaft zu begeben. Sie sollten aktiv aufbauen. Aber sie reagieren nur. Wer nur „gegen das System“ ist und sich nichts Neues einfallen lässt, wird Teil dessen, was er zu verändern sucht. Die Grünen werden für die Wissensökonomie dringend gebraucht, aber sie scharmützeln lieber in den alten Jagdrevieren, den abgegrasten Regionen der untergehenden Industriegesellschaft herum.

Nach wir vor finden wir sie vorwiegend in der alten ideologischen Aus-einandersetzung mit den Institutionen des Industriekapitalismus und dessen Symbolen – dem Auto etwa oder dem Großkraftwerk. Stattdessen wartet die Welt aber auf eine grüne Marktwirtschaft, die nicht als Leihgabe linker oder rechter Regulierungspolitik funktioniert und auch nicht als Reaktion auf die Industriegesellschaft, sondern als eigenständige Idee. Als eine, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, was alle behaupten, sogar noch öfter, als sie daran vorbeiarbeiten. Im Mittelpunkt steht der Mensch dann, wenn seine Persönlichkeit, seine Talente, seine individuellen Fähigkeiten, sein Wissen, sein Know-how im Zentrum von Wirtschaft und Gesellschaft stehen. Alte Klientenpolitik wird dazu nicht beitragen. Nachhaltig wird einzig ein Umdenken sein: Es geht nicht um Wirtschaftspolitik. Es geht um Selbstbestimmungs-Politik, und, nicht nur gemessen am großen Erbe der Grünen, um ein neues Selbst-Bewusstsein.

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