Künstliche Sexualisierung der Sprache

Warum wir den Genderstern nicht brauchen
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Wer das grammatische Geschlecht biologisch auflädt, lenkt vom Eigentlichen ab, meint Annette Weidhas, Programm- und Verlagsleiterin der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig. Doch nicht nur deshalb ist sie gegen den Genderstern. Sie befürchtet eine Ideologisierung der Sprache, die sie an die DDR-Gesellschaft erinnert.

Das derzeit deutlichste Zeichen für die Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache ist der typografische Stern. Er soll für die Vielfalt der Geschlechter stehen, während das generische Maskulinum nichtmännliche Personen unsichtbar mache. Das ist falsch. Das generische Maskulinum spricht alle Menschen gleichermaßen an. Das biologische Geschlecht ist nicht das grammatische. Das aber glauben die Protagonisten einer bestimmten intellektualistischen Ideologie nicht. Mit Erfolg behaupten sie, diese Sprachpraxis sei Ausweis oder Ursache von Diskriminierung. Folglich nehmen sie in Kauf, Schönheit und Fluss der deutschen Sprache zu torpedieren und Partizipien ihrem Sinn zu entfremden, die Deklinationsnotwendigkeit zu ignorieren und die Vorlesbarkeit zu verschlechtern. Texte werden schwerfälliger und bürokratischer, und der Hiatus zwischen geschriebener und gesprochener Sprache sowie zwischen Wissenschafts- und Literatursprache wird größer.

Hinzu kommt eine künstliche Sexualisierung der Sprache, die unser Verständnis des allgemein Menschlichen verstellt. Wenn es etwa um Studienangelegenheiten geht, sind Studenten, Studentinnen und Personen uneindeutigen Geschlechts gleichermaßen betroffen. Warum sollte man hier von vornherein auf das Geschlecht abheben? Früher vertrat ein Studentenrat alle, heute meint man, nur der Student_innenRat könne das. Warum sich jedoch Menschen uneindeutigen Geschlechts ausgerechnet in einem Gap (Spalt, Lücke, Kluft) wiederfinden sollten, erschließt sich logisch nicht. Das grammatische Geschlecht biologistisch aufzuladen, ist nicht sinnvoll, da es zumeist vom Eigentlichen ablenkt. So gilt auch, dass es bei „Christen“ in der Regel nicht um „Christen und Christinnen“ geht, sondern um „Menschen“, die überzeugt sind, durch ihren Glauben Anteil an Christus als dem neuen Menschen zu haben. Und wenn Paulus schreibt, in der christlichen Gemeinde sollte der Unterschied zwischen Frauen und Männern keine Rolle spielen, sagt er nicht, dass stattdessen LBGQT oder LGBTQIA+ eine Rolle spielen müssten. Das gilt um so mehr, als für die Mehrzahl der Menschen – nicht nur für Kinder und ältere Menschen – das Geschlechtsleben nicht der entscheidende Identitätsmarker ist. Der Druck, der hier erzeugt wird, ist extrem und wird kommerziell massiv befördert. Man versuche nur einmal, einem kleinen Mädchen etwas nicht kitschig Rosa- oder Pinkfarbenes zu kaufen. Auch führt offenbar keine Form der „Sprachverbesserung“ dazu, dass mehr junge Frauen Mintfächer studieren.

Wie auch immer – die Genderprotagonisten behaupten tapfer, psychologische Studien belegten, dass das generische Maskulinum generell die Assoziation Männer auslöse. Wirklich? Oder kommt es doch auf den Kontext und die reale Erfahrung an? Ich jedenfalls sehe bei der Pluralform Lehrer Frauen vor mir, vermutlich, weil die meisten Lehrer, die ich kenne, Frauen sind. Und wenn wir in der Zeitung lesen, die Zuschauer hätten bei einem Konzert frenetisch geklatscht – glaubt dann irgendwer, Frauen hätten dort keinen Zutritt gehabt? Gender-Protagonisten bezeichnen ihre Studien gern als wissenschaftlich, auch wenn es sich bei genauer Betrachtung eher um Kampfschriften handelt und andere Studien gegenteilige Aussagen belegen.

Opfer- und Täterstatus

Problematisch ist weiterhin, dass die mit der Genderideologie verbundene identitäre Festlegung von Frauen, Homo-, Trans- und Asexuellen zumeist mit der Festlegung auf einen Opferstatus einhergeht. Der aber steht freiheitlicher Selbstbestimmung entgegen und zwingt die Angehörigen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft automatisch in einen Täterstatus. Das hat die Mehrheitsgesellschaft verleitet (mich lange eingeschlossen), sich den Ideologemen einer lautstarken Minderheit zu öffnen. Denn wer will schön Täter sein? Inzwischen ist jedoch überdeutlich, dass diese Praxis unsere Gesellschaft in immer kleinere Gruppen spaltet und andersidentitäre populistische Bewegungen befördert. Es geht nicht mehr um Rechts- und Chancengleichheit für Individuen, sondern um Sonderrechte für bestimmte Gruppen. Der ursprünglich beabsichtigte Gleichheits- und Gerechtigkeitsgewinn tritt nicht ein, dafür aber gerät die Freiheit in Gefahr. Francis Fukuyama schreibt darum in seinem 2019 erschienenen Buch Identität: „Die Tatsache, dass ich auf diese oder jene Weise geboren wurde, bedeutet nicht, dass ich auf diese oder jene Weise denken muss.“ Und die jüdische Schriftstellerin Nele Pollatschek hält das Gendern gar für eine sexistische Praxis.

Das generische Maskulinum vermeidet die Geschlechtsbenennung um der Gleichheit willen, während die sogenannte geschlechtergerechte Sprache das Geschlecht aus demselben Grund betont. Aber kann man Gleichheit herstellen, indem man Ungleichheit hervorhebt? Irgendwie scheint dieses Problem auch Teilen der Genderszene bewusst geworden zu sein: Neuerdings soll generell auf Bezeichnungen wie Mann und Frau verzichtet werden. Die Besetzer des Dannenröder Forstes zum Beispiel nennen sich nur noch „das Mensch“ und sprechen von „den Bürgis“ statt von Bürgerinnen und Bürgern. Nur ungewollte Realsatire extremistischer Randgruppen? Nein. Ein Teil der Gendertheoretiker verneint generell, dass das Geschlecht biologisch festgelegt ist (etwa Judith Butler).

Hintergrund dieser antirealistischen, utopistischen Ideologie sind der Radikale Konstruktivismus und Poststrukturalismus. Sprache stelle Realität her. Richtig ist, dass Sprache Realität und Bewusstsein beeinflusst. Die radikal-konstruktivistische Annahme aber, dass Realität für jedes Individuum ausschließlich eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung bedeute, die keinen Anspruch auf unabhängige Existenz erheben kann, ist leicht zu widerlegen. Denn in diesem Fall müssten wir uns um Klimawandel und Pandemien nicht mehr kümmern. Letztlich steht der Sprachenstreit im Zusammenhang mit der Frage, was entscheidender ist: die biologischen oder die gesellschaftlichen Tatsachen. Oft liegt die Antwort in der Mitte. Das Geschlecht aber ist in der Regel genetisch festgelegt, doch jeder Mann kann weibliche Züge haben und jede Frau männliche, was sich durch genetische Präferenzen und aufgrund bestimmter Lebensumstände verstärken oder abschwächen kann. Das aber ist kein Beweis gegen, sondern für Bipolarität als Norm. Normen sind orientierende Unterscheidungen, die uns helfen, in einer komplexen Welt zurechtzukommen. Sie von vornherein unter Diskriminierungsverdacht zu stellen, ist nicht hilfreich.

Das lateinische discrimino bedeutet unterscheiden und absondern. Das Absondern ist zu bekämpfen, Unterscheiden aber ist die Voraussetzung für Toleranz. Ohne schnell verfügbare und zumeist zutreffende Unterscheidungen könnten wir nicht überleben. Mann/Frau ist eine solche orientierende Unterscheidung, aber – wie alle  Allgemeinbegriffe – keine unhintergehbare Festlegung bestimmter Individuen. Die irreale Behauptung jedoch, es gäbe von Natur aus keine Frauen und Männer, ist auch für Antidiskriminierungsbestrebungen fatal. Der Feminismus verlöre seinen Gegenstand, wie Alice Schwarzer und Joanne K. Rowling darlegen. Aber auch Lesben- und Schwulenverbände kämen in Schwierigkeiten, wäre homoerotische  Geschlechtlichkeit nur sozial konstruiert. Sie vertreten das Gegenteil. Allerdings spricht nichts dagegen, dass Menschen mit uneindeutiger Geschlechtsidentität sich ein X als Geschlechtsangabe in den Ausweis eintragen lassen. Da das jedoch eher selten vorkommt und sich die Betroffenen zumeist im Jugend- und Erwachsenenalter biologisch und/oder mental auf Mann oder Frau festlegen, gibt es keinen Grund, die prinzipielle Bipolarität der Geschlechter anzuzweifeln. Die Schöpfungsgeschichte („und er schuf sie als Mann und Frau“) muss nicht umgeschrieben werden, da Doppelgeschlechtlichkeit oder Asexualität kein wirklich Drittes sind.

Gendertheorie und Postkolonialismus

Gern verbinden sich Gendertheorien mit dem Postkolonialismus, der Kultur und Identität der durch Kolonialisierungskontexte geprägten Nationen oder Bevölkerungsgruppen untersucht. Das ist an sich zu begrüßen. Leider endet der Postkolonialismus nicht selten in Gegenrassismus (Feindbild Europäer) und Gegensexismus (Feindbild Mann), das verbindende Feindbild ist dann der „weiße Mann“. Der Theologe und Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth hat im März 2020 seine Professur am Department of Religion in Claremont (Kalifornien) gekündigt, nachdem die Dekanatsleitung sich dort nicht länger mit „traditional, European, dead white guys philosophy and theology“ beschäftigen möchte (vergleiche Dalferth, Sind wir noch urteilsfähig? ThLZ 145 (2020) 7/8, Sp. 616). Vergessen wurde dabei offenbar, dass die eigene poststrukturalistische und postkolonialistische Denktradition auf europäische weiße Männer zurückgeht. Inzwischen wird in den USA im Interesse von Dekolonialisierung offen ein „umgekehrter Rassismus propagiert, der die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft gefährdet“ (Stefan Rebenich, FAZ vom 26.11.2020).

Ideologien setzen in der Regel bei einem wirklichen Problem an, ziehen dann aber falsche Konsequenzen. Das ist der Duktus des offenen Briefes „Widerstand darf kein Dogma werden“, den 153 Intellektuelle in den USA Anfang Juli 2020 veröffentlicht haben, oder auch des deutschen „Appell für freie Debattenräume“. Und die Journalistin Düzen Tekkal und Bundesminister Jens Spahn schrieben im Herbst 2020 in der FAZ: „Wir sind überzeugt: Eine Gesellschaft, die ihre Bürgerinnen und Bürger nach Alter, Geschlecht, Sexualität, Herkunft, Hautfarbe oder Religion, kurzum; nach Identitäten unterteilt, wird im 21. Jahrhundert erfolglos sein.“

Zu hoffen ist, dass auch die neuen Sprachvorschriften erfolglos bleiben werden, denn sie befördern autokratisch-antidemokratische Tendenzen. Wer den Genderstern nicht benutzt, gerät in Gefahr, gegen sein Selbstverständnis als Diskriminierungsfreund angesehen zu werden. In der DDR-Gesellschaft konnte man täglich erleben, wie solche Ausgrenzung funktioniert. Wer den Sowjetimperialismus nicht ausdrücklich begrüßte, war ein Friedensfeind, wer für mehr Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft beim Wirtschaften eintrat, ein Kapitalismusfreund, und wer sich als Christ bekannte, galt als unaufgeklärter Fortschrittsfeind. Die Realität aber haben diese jahrzehntelangen Sprachideologeme nicht verändert. Die allgegenwärtige Behauptung „Der Sozialismus siegt“ erwies sich als Wunschdenken. Was man allerdings bei einem großen Teil der Bevölkerung erreichte, war ein obrigkeitliches Bewusstsein, das entweder „hirngewaschene“ Zustimmung erzeugte oder den Spagat zwischen offizieller und (heimlicher) privater Meinung. Die Fortschrittsideologien des 20. Jahrhunderts endeten in reaktionären Diktaturen. Nicht mit ihnen „zog die neue Zeit“, andere – unter ihnen zuvor Diffamierte – modernisierten nach dem Krieg und nach der Wiedervereinigung wirkungsvoll Gesellschaft, weil maßvoll und realitätsnah.

Entscheidend für unsere Fragestellung ist letztlich das Menschenbild. Ist der Mensch ein Wesen, das sich selbst erschafft, oder findet er sich immer schon als ein konkret Gewordener vor? Die irreale Entmaterialisierung menschlicher Personen durch die Bestreitung natürlicher Gegebenheiten (Geschlecht, Intelligenz et cetera) führt den Geist in die Leere und macht ihn seiner Umwelt fremd. Kann der Mensch seine Welt nach freiem Gutdünken umbauen oder bleibt er ein Abhängiger, der wirklich frei nur im Glauben ist? Die Antwort auf diese rhetorische Frage versteht sich. Das verbreitete Unverständnis der lutherischen Rechtfertigungslehre hängt mit der Vorstellung zusammen, dass so, wie die Modernität aus fortlaufenden Modernisierungsschüben besteht, sich auch der Mensch ständig selbst neu erfinden müsse. Und selbst unter Christen war und ist der Glaube verbreitet, der Mensch könne sich und seine Welt moralisch verbessern, wenn er nur die gesellschaftlichen Verhältnisse verändere. Das aber ist ein Missverständnis der säkularisierten christlichen Erlösungslehre, die die Rechtfertigung menschlichen Handelns nicht mehr bei Gott sucht, sondern in der Gesellschaft.

Ergo: Eine wertschätzende und sensible Sprachpraxis folgt für Christen nicht aus säkularer Identitätspolitik, sondern aus der Glaubenspraxis: „Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.“ (Matthäus 5,22) Dieses Jesuswort muss genügen, es ist radikal genug!

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Annette Weidhas

Annette Weidhas, geboren 1960 in Rodewisch im Vogtland, ist promovierte Theologin und arbeitet als Programm- und Verlagsleiterin für die Evangelische Verlagsanstalt in Leipzig und ist Redakteurin der Theologischen Literaturzeitung.


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