Altvater to go

Dorothee Schenk beschäftigt sich mit dem einflussreichen spätantiken Theologen Johannes Cassian
Dorothee Schenk
Foto: Swen Pförtner

Der mutige Abt Johannes Cassian, ein Zeitgenosse des Kirchenvaters Augustin, hat beinahe den gesamten Mittelmeerraum bereist. Berühmt wurden seine Gespräche mit den Wüstenvätern, über die Dorothee Schenk in Göttingen promoviert.

Dass ich einmal evangelische Theologie studieren würde, war mir nicht unbedingt in die Wiege gelegt. In meiner Familie ging man meist nur Ostern und Weihnachten in die Kirche, meine Konfirmandenzeit war eher abschreckend – und studiert hatte in meiner Familie vor mir auch noch niemand. Aber als Leistungskurs hatte ich in der Oberstufe neben Deutsch und Latein auch Religion, und das fand ich richtig spannend.

Als ich dann auch noch bei einem Informationswochenende der Landeskirche Hannovers Theologiestudierende kennenlernen und zu ihren Erfahrungen befragen konnte, war ich endgültig von der Theologie als vielfältiger Wissenschaft begeistert und begann 2010 das Studium in Göttingen. Nach meinem Abschluss als „Magistra Theologiae“ 2017 nahm ich das Angebot von Peter Gemeinhardt, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, an, zu promovieren.

Mein Thema ist eines aus der Spätantike: „Monastische Bildung in Johannes Cassians Collationes Patrum.“ Johannes Cassian war ein Mönch, der etwa um 360 nach Christus an der westlichen Schwarzmeerküste geboren wurde und etwa 435 im südgallischen Massilia, dem heutigen Marseille, starb. Er hatte ein abenteuerliches Leben: Wahrscheinlich aufgewachsen in einer gebildeten Familie (er sprach und schrieb fließend Latein und Griechisch), trat er zunächst in ein Kloster in Bethlehem ein, reiste dann mit seinem Mitbruder Germanus durch die ägyptische Wüste zu den dortigen Wüstenvätern, verbrachte einige Zeit in Konstantinopel und Rom – und lebte schließlich während seiner letzten rund dreißig Lebensjahre als Abt in Marseille.

Cassian, ein Zeitgenosse des Kirchenvaters Augustin, hat also beinahe den gesamten Mittelmeerraum bereist und wichtige kirchliche Persönlichkeiten des langsam zerfallenden römischen Imperiums kennengelernt. Dabei ist er mit den verschiedenen theologischen und monastischen Strömungen in Kontakt gekommen, die sein Werk prägen. Er wollte mit seinen Schriften das Leben, aber vor allem das Denken der Mönche in Südgallien beeinflussen. Diesem Ziel dienen auch die Collationes Patrum (etwa: „Unterredungen mit den Vätern“). Die Collationes bestehen aus 24 Gesprächen mit 15 Altvätern des ägyptischen Mönchtums, größtenteils Eremiten. De facto sind es aber weniger Interviews als Abhandlungen Cassians, die sich einer dialogischen Gestalt bedienen. Er hat sie auch erst gut zwanzig Jahre nach seiner Reise durch Ägypten aufgeschrieben – sodass eine bunte Mischung verschiedener Traditionen, gespickt mit reichlich Fiktion, anzunehmen ist.

Cassian ging es dabei darum, zwischen zwei ganz unterschiedlichen monastischen Welten zu vermitteln: dem traditionellen Mönchtum Ägyptens und der sich langsam entwickelnden Klosterlandschaft in Südgallien. Während Cassian als junger Mann im Osten in eine gut 150 Jahre alte Tradition eintauchen durfte, steckte das Mönchtum im Westen noch in den Kinderschuhen. Zur Orientierung: Die bekannte Benediktsregel, die sich übrigens mehrfach auf Cassian beruft, entsteht erst gut hundert Jahre nach den Collationes. Cassian nimmt oft auf seine Rolle als Vermittler zwischen den verschiedenen Kulturen Bezug. Zwei Bilder, mit denen Cassian seine Tätigkeit als Schriftsteller beschreibt, finde ich dabei besonders eindrücklich: Zum einen sagt er, dass er seinen Adressaten durch sein Werk die Gefahren einer Seereise ersparen möchte, indem er sie allein durch seine Erzählung zu den ägyptischen Wüstenvätern bringe. Und an anderer Stelle heißt es, dass er mit Hilfe der Collationes die Altväter Ägyptens nach Gallien bringen und in jeder einzelnen Mönchszelle zur Unterredung bereitstellen wolle – quasi als Altvater-to-go.

Die Collationes richten sich dabei eher an „fortgeschrittene“ Mönche. Die Reiseberichte und theoretischen Darstellungen Cassians sind keine Klosterregel, sondern nehmen vielmehr den individuellen spirituellen Aufstieg der Mönche in den Blick – mit dem Ziel, über mehrere Stufen zu einem (möglichst) vollkommenen monastischen Leben zu gelangen. Dabei wird der „Innere Mensch“ in den Fokus gestellt. Cassian gibt keine Handlungsanweisungen, sondern vielmehr Denkanweisungen. Er erklärt die Hintergründe der Gedanken und Gefühle, die den Mönch auf seinem Weg stärken können – oder ihn davon abbringen. Eine zentrale Methode auf dieser Suche nach dem Weg zur Vollkommenheit ist dabei die Auslegung und Meditation der Bibel.

Immer wieder finden sich in den Collationes – und zwar in Gestalt (fiktiver) Altvaterworte – Seitenhiebe und Querverweise auf Cassians theologische Zeitgenossen. Am deutlichsten ist dies in Cassians Beitrag zum sogenannten semipelagianischen Streit. Dabei ging es, knapp gesagt, darum, ob der Mensch aus eigner Kraft zur Erlösung gelangen kann: Ist sie allein durch die Gnade Gottes zu erreichen, weil der Mensch in der Erbsünde feststeckt, was in etwa die Position von Augustin war? Oder lagen der zwischenzeitlich als Häretiker verurteilte britische Mönch Pelagius und seine Schüler, ebenfalls Zeitgenossen Cassians, richtig, die anders als Augustin von einem freien Willen des Menschen ausgingen und dem menschlichen Tun eine viel wichtigere Rolle zusprachen? Cassian weigert sich, sich für eine der beiden – in seinen Augen falschen – Positionen zu entscheiden und formuliert einen eigenen, auf das Mönchstum zugeschnittenen, Mittelweg.

Der Leitbegriff meiner Doktorarbeit ist „monastische Bildung“. Er dient mir als doppeltes Analysekriterium: Zum einen lässt sich mit seiner Hilfe untersuchen, wie die Collationes als eine Art Lehrbuch funktionierten – das heißt mit welchen erzählerischen und pädagogischen Mitteln Cassian sein Werk gestaltet. Zum anderen lässt sich mit „monastischer Bildung“ zusammenfassen, welche Inhalte Cassian seinen Altvätern in den Mund legt. Dabei spielt er virtuos mit verschiedenen Vorstellungen und Idealen von Bildung: Im frühen Mönchtum war Bildung höchst umstritten, es schien einigen gerade als Ideal, nichts von der Welt wissen zu wollen. Cassian hielt, sowohl aus inhaltlichen Gründen als auch im Blick auf den Hintergrund seiner Adressaten, dagegen. So wurde seine Lehre eine der wichtigsten Säulen der großen Bildungstradition des abendländischen Mönchstums.

 

Aufgezeichnet von Philipp Gessler
 

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Foto: Swen Pförtner

Dorothee Schenk

Dorothee Schenk ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen.


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