„Weiße Elefanten“ und Kirchenreform

Warum mit der Synode 2020 eine neue Epoche in der Geschichte der EKD begonnen hat
Weißer Elefant (Peter Müller)

Die Beschlüsse der 12. Synode der EKD für das vor uns liegende Jahrzehnt werden die evangelische Kirche in Deutschland grundlegend verändern. Davon ist Thies Gundlach überzeugt. Der Theologe, der seit 2001 im Kirchenamt der EKD unter anderem für den Themenbereich „Kirchliche Handlungsfelder“ zuständig ist, zieht in zeitzeichen eine erste Bilanz.

Mit der letzten Tagung der 12. Synode der EKD, der ersten Zoomsynode ihrer Geschichte, hat eine Umgestaltungsaufgabe begonnen, deren Größe allmählich sichtbar wird. Eines Tages wird man vielleicht über diese EKD-Synode 2020 sagen, dass sie nicht nur die erste gelungene Digitalsynode in der Geschichte der evangelischen Kirche gewesen sei, sondern auch der Beginn einer neuen Ära (vergleiche zeitzeichen 12/2020). Denn ab diesem Jahr ist die Kirche über Jahre, vielleicht Jahrzehnte an Rückbau und Konzentrationsprozesse gebunden, da erstmals über einen längeren Zeitraum die Einnahmen kontinuierlich zurückgegangen sein werden (Futur II!). Vielleicht werden wir als sogenannte Babyboomer-Generation sichtbar die letzte halbwegs stabile Generation institutionalisierter Frömmigkeit hierzulande sein.

Aber wie auch immer man diese EKD-Synode 2020 bewertet: Unsere Kirche befindet sich im Übergang zu etwas Neuem, was noch keiner kennt, und in der Corona-Pandemie wird das in besonderer Weise deutlich. Es entsteht eine Dynamik in vielen Prozessen, die in irgendeiner Weise unser aller Zukunft im Raum der Kirche sein werden. Nur ein Beispiel: Dass die durchaus auch ungeliebte „Kachelisierung des Arbeitsalltages“ durch die vielen Video-Konferenzen mit dem Ende der Pandemie und dem Wiederbeginn von (Dienst-)Reisen wieder aufhört, ist wenig wahrscheinlich, denn alle haben trotz zeitweiser Genervtheit auch viele Vorteile zu schätzen gelernt und außerdem schont es Ressourcen, die durch Dienstreisen verbraucht werden.

Wir leben nicht nur als Kirche, sondern auch als Gesellschaft in einer großen Transformation mit unbekanntem Ziel und ebensolchem Weg dorthin. Unbekanntes Gelände aber verunsichert, - und zwar die ganze „verwundete Gesellschaft“ (Heinrich Bedford-Strohm). Persönlich habe ich in solchen Zeiten des Überganges einen Glaubensgrundsatz, der mich entängstigt: Gott bereitet mich in jeder Phase meines Lebens auf eine Aufgabe vor, die ich noch nicht kenne.

Kann dies auch für die Kirche und für eine ganze Gesellschaft gelten? In jedem Fall ist dieser Grundsatz ein Hintergrund für den Text „Hinaus ins Weite – 12 Leitsätze einer aufgeschlossenen Kirche, die die EKD-Synode sich zu eigen gemacht hat. Die Leitsätze haben für die EKD und ihre (Finanz-)Politik Verbindlichkeit, für die Gliedkirchen der EKD haben sie Empfehlungscharakter. Sie wollen die evangelische Kirche offen halten auf einen gemeinsamen Weg, ohne konkrete Ziele vorzugeben.

Dabei dienen die ersten sechs Leitsätze ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Orientierung im Bereich der theologischen Kernaufgaben, während die letzten sechs Leitsätze Orientierung zu geben versuchen im Bereich der Kybernetik, also der Steuerung der Kirche. Beide Aspekte – die Orientierung am Auftrag des Evangeliums und die Organisation kirchlicher Strukturen – kann und soll man nicht trennen, aber unterscheiden. Denn es gehört zur Kerneinsicht reformatorisch reflektierter Ekklesiologie, dass sie sich auch ganz diesseitig, ganz innerweltlich, ganz vernünftig-nüchtern mit der organisierbaren Seite der verfassten Kirche beschäftigen kann und muss. Oder positiv gewendet: Man muss nicht jede kirchenleitende Frage theologisieren!

Erstens: Von „Kirche der Freiheit“ zu „Zwölf Leitsätzen“.

Gegenwärtige Kirchenreform fährt auf Sicht, die „Zwölf Leitsätze“ sind flexibel und korrekturfähig; durch einen intensiven öffentlichen Diskurs wurden sie erweitert, vertieft und verbessert. Dieses diskursive Verfahren hat sich bewährt, auch wenn manche zugespitzte und deswegen diskurstaugliche These des Erstentwurfes (Elf Leitsätze) aufgrund des „gremialen Diskurses“ entschärft werden musste. In diesem sogenannten iterativen Verfahren liegt vielleicht die größte Differenz zum seinerzeitigen Impulspapier „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ von 2006, deren Analysen und Fragestellungen ja offensichtlich in den Zwölf Leitsätzen wieder auftauchen.

Damals machten sich nach zweimaliger Diskussion in Rat und Kirchenkonferenz diese Gremien den Text zu eigen, was sie keineswegs daran hinderte, den Text nachträglich zu kritisieren. Der Text löste eine ebenso große Überraschung wie Diskussion aus, weil er manche provokante Formulierung und These lieferte. Und – ähnlich wie bei den Zwölf Leitsätzen – kam die schärfste Kritik von Internen und die höchste Anerkennung von Externen. Natürlich gilt auch für „Kirche der Freiheit, dass man hinterher immer klüger ist: Manche Anerkennung fehlte dem Text, manche Anregungen führte zu Existenzängsten ganzer Landeskirchen, die wissenschaftliche Theologie erkannte erhebliche Defizite, und fast alle sahen die EKD übergriffig vorgehen.

Geschrieben hatte das Impulspapier eine Expertengruppe, die keineswegs ausschließlich aus gremial geübten Kirchenleitungsvertreter*innen bestand. Die Zwölf Leitsätze dagegen wurden geschrieben von kirchenleitend Verantwortlichen aus den drei Leitungsgremien der EKD, ergänzt um drei junge Erwachsene.

Anders war darüber hinaus die jeweils faktisch vorausgesetzte Situation der Kirche: In den Nullerjahren dominierte noch keineswegs das heute vom Soziologen Heinz Bude eindringlich beschriebene Lebensgefühl, das Zukunft keine Verheißung mehr sei, sondern schlechtere Bedingungen für alle bereithalte. Anfang der Nullerjahre wurde eine Art „Wiederkehr der Religionen“ erhofft und man teilte die Erwartung, dass Frömmigkeit und Kirche ihre beste Zeit noch vor sich hätten.

In „Kirche der Freiheit“ ging es auch um Kürzungen, aber sie sollten Anstoß sein zu einem „Wachsen gegen den Trend“, indem die Institution Kirche ihre Organisationskompetenz verbesserte. Nicht wenige Kritiker*innen erkannten daher im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ einen neoliberalen Grundzug, der den Zeitgeist spiegele. Diejenigen aber, die sich positiv zum Text verhielten, sahen darin eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Modernisierung der Kirche zu einer angebotsorientierten, zielreflektierten und ebenso strategie- wie kampagnenfähigen Organisation.

Dass diese Einsichten zwar begrenzt, aber durchaus auch aufgenommen und umgesetzt wurden, kann man an der Gestaltung des Reformationsjubiläums ablesen. Man konnte ja in den finanziell „fetten Jahren“ ab 2010 ein großes und inhaltlich wichtiges Jubiläum gestalten, in dem die evangelische Kirche ihre theologischen Ursprünge öffentlich und bezogen auf die Gegenwart kommunizierte. Zugleich wurde allerdings auch deutlich, dass die Kampagnenfähigkeit des Protestantismus viel zu früh seine Grenzen fand. Die Chance einer gemeinsamen Präsentation zentraler Inhalte gelang am ehesten noch auf dem Feld der Ökumene, insofern das gemeinsame „Christusfest 2017“ große Teile der Gesellschaft dankbar machte für ein Jubiläum, das nicht kontroverstheologisch angelegt war. Aber gemeinsame Kommunikation und Kampagnen gelang keineswegs kraftvoll trotz gemeinsamer Themenjahren und Jubiläumsplanung in Wittenberg.

Betrachtet man diese Jahre mit etwas Abstand, dann dominiert doch der Eindruck, dass die wirklich hohen Kirchensteuereinnahmen dieser Jahre der vielleicht wichtigste Grund waren, dass viele Impulse aus „Kirche der Freiheit“ liegengeblieben sind und erst in den Zwölf Leitsätzen wieder aufgenommen werden. Denn dieser Grundsatz scheint auch für die Kirchen zu gelten: Ohne finanzielle Bedrängnis sind Reformen nur sehr schwer umzusetzen!

Zweitens: zum theologischen Hintergrund der Zwölf Leitsätze.

Das Grundgefühl heute, Anfang der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts, stellt sich in unserer Kirche als eine Art „Übergangs-Bewusstsein“ dar, eine grundlegende Transformationsahnung, die im Kern dies wahrnimmt: die institutionell verfasste Frömmigkeit verliert ihre Resonanz in den Herzen der Menschen und damit ihre Relevanz und öffentliche Plausibilität. Die Diskussionen um Staatsleistungen und Fakultäten, um Kirchensteuereinzug und Kirchenmitgliederverlust sind deutliche Hinweise auf diese Grundsituation. Auch für die Kirche gilt der bekannte Grundsatz des Soziologen Heinz Bude: Die Zukunft droht eher als das sie lockt und verheißt.

Mit jener zurückgehenden Herzensresonanz und dieser verlustigen Relevanz geht auch die Plausibilität theologischer Aussagen verloren – im Unterschied zu den diakonischen oder sozialpolitischen Aussagen der Kirche, die nach wie vor beachtet werden. Aber die reformatorische Kirche war immer die Einheit von Wort und Tat, und es ist dieses Wort von Gott, das eine Plausibilitätskrise erlebt. Die (gute) Tat steht besser da! Diakonie, Brot für die Welt, Seenotrettung oder Kältebus, auch alles regionale Engagement haben einen guten Plausibilitätsstand in der Gegenwart.

Die Folge ist aber so etwas wie eine “Pragmatisierung des Evangeliums“ oder „Diakonisierung der Kirche“, - ein Prozess, der vielleicht verstehen hilft, warum die Kirchen und ihre Vertreter*innen in der mentalen Bewältigung der Corona-Krise öffentlich weniger gefragt waren als andere. Es scheint mitunter, als seien für die Kirche selbst theologische oder gar dogmatische Aussagen weitgehend irrelevant, obwohl doch das Wort Gottes zu verkündigen und an die nächste Generation weiterzugeben der zentrale Auftrag der Kirche ist. Natürlich gibt es viele Beispiele gelungener Verkündigungspraxis: gute Gemeindegottesdienste, innige Seelsorgegespräche, Bibelkreise auf hohem Niveau und vieles mehr. Gott sei Dank! Und gerade die nächste Generation findet analog und digital immer wieder überraschende, interessante und originelle Wege der Verkündigung. Aber die Grundtendenz einer stetig abnehmenden Plausibilität und Resonanz kirchlicher Verkündigung ist damit nicht widerlegt. Der theologische Resonanz- und Relevanzverlust als permanente Anfechtung ist der Kern der geistlichen Herausforderung, vor der unsere Kirche mit ihren Haupt- und Ehrenamtlichen insgesamt und gemeinsam steht.

Nun wird diese theologische Relevanzkrise in der Regel dreifach kirchenreformerisch angegangen, nämlich als eine Gottes-, Sünden- oder Kommunikationskrise:

Als Gottesfrage führt sie in eine Leere, mit der wir nicht so leicht umgehen können. Jeder weiß: Glaube kann nur von Gott geschenkt werden. Doch warum schenkt er nicht mehr Glauben in unseren Zeiten? Warum schickt er keine Erweckung? Warum können so viele Menschen über Gott sagen, er sei irrelevant und unerheblich?

Diese theologischen Fragen führen zum deus absconditus, vor dem man dann innehalten kann. Aber der stumme, schweigende Gott bestätigt ja nur jene, die immer schon behaupten, Gott sei irrelevant. Man braucht schon sehr intime Kenntnisse der Kreuzestheologie, damit der deus absconditus nicht einfach nur Skeptikern recht zu geben scheint, die da sagen: Gott kommt in der Kirche nicht zu Wort und deswegen verlassen viele die Kirche.

Die andere Erklärung rekurriert auf die Sünde des Menschen und redet im theologischen Sinn von „Verstockung, im landläufigen Sinn von allerlei Krisenphänomenen der Gegenwart, also von Kulturverlust und Konsumgier, von Klimagleichgültigkeit und Ungerechtigkeit, von Leistungszwang und Narzissmus, von fehlender Geschwisterlichkeit oder überhöhtem Egoismus. Jeder kann hier nach seiner „Krisen-Fasson“ selig werden. Im Kern aber geht es immer nach dem Muster: Die Welt ist nicht so wie Gott sie will! Und wenn man diese Wahrheit ausspricht, dann wollen die Leute das nicht hören und laufen weg.

Die dritte theologische Deutung des Relevanzverlust ist unsere Kommunikations-schwäche, womit nicht die rhetorische Schwäche gemeint ist – dazu können andere mehr sagen –, sondern die inhaltliche Schwäche, von Gott zu sprechen. Es gibt seit Jahren die Kritik am harmlosen Gottesbild, der alle immer lieb hat und insofern weder system- noch existenzrelevant sei, sondern irrelevant.

Stimmt das? Reden wir zu einfach, zu banal von Gott? Können klassische Bestimmungen und dogmatische Einsichten relevant und resonant entfaltet werden oder fallen sie einfach weg, weil wir selbst den Eindruck haben, sie seien zu abständig und fremd? Das wäre schlecht, denn eine Kirche, die ihre inhaltlichen Wurzeln nicht mehr relevant findet, wird substanzlos.

Vor diesem Hintergrund sollten die „Zwölf Leitsätze“ gelesen werden. Hier soll eine Kirche auf dem Weg ins geistlich Weite beschrieben werden, die sich gerade in ihren Kernbereichen, ihren zentralen Inhalten, jung und offen, neugierig und diskursfähig, traditionsbewusst und übersetzungsstark entfaltet. Und dazu braucht es eine neue Vertiefung in die Wissensbestände, die der Schatz der Kirche sind. Frömmigkeit und Mission, Seelsorge und öffentliches Zeugnis leben davon, dass wir uns vergewissern in dem, was uns ausmacht.

Wir haben als Wissenschaft und Kirche nur eine Zukunft, wenn wir unser Eigenstes stark machen und ebenso gehaltvoll wie verstehbar nach vorne stellen, ohne altbacken, anti-ökumenisch oder in falscher Weise konservativ zu wirken. Mit beiden Beinen in der Tradition, aber den Kopf in der Gegenwart und mit allen Sinnen in der Zukunft – das ist die Intention der Leitsätze.  

Drittens: Zum ekklesiologischen Hintergrund der Zwölf Leitsätze.

Eine häufige These ist ja, dass die Situation unserer Tage der urchristlichen Situation der ersten Jahrhunderte viel näher ist als dem 19. Jahrhundert. Deswegen geht die Ausstrahlungskraft der Gemeindeformen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind und im 20. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten, nun einem Ende entgegen.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Parochie wird bleiben, natürlich, sie ist Grundbestand christlicher Arbeitsteilung! Aber die lokal ausgerichtete, allein am Wohnsitz orientierte Gemeindeform hat kein Monopol mehr. Und es werden ja längst neue Formen und überraschende Orte der Verkündigung ausprobiert: Situative Gemeinden und „Kirche bei Gelegenheit“, überraschende Taufgelegenheiten und ungewöhnliche Anlässe für Gottesdienste sind ebenso Konkretionen wie die neu entdeckte weite Welt digitaler Optionen. Insofern tragen die letzten sechs der „Zwölf Leitsätze“ Eulen nach Athen, denn auch die Hinweise auf die Netzwerkstruktur, die wir stärken müssen, die vielschichtig notwendige Digitalisierung und die gemeindeübergreifende gegenseitige Hilfe und Entlastung in vielen Diensten, erscheinen weithin längst im Blick zu sein.

Im Grunde liefern die Leitsätze eher eine Zusammenfassung des erreichten Aufbruches. Auch wenn einige den Untergang der verfassten Kirche eingeläutet sahen, - es ist eher verwunderlich, dass nur einige wenige Kritiker*innen monierten, die Leitsätze sprängen nicht weit genug! Denn tatsächlich gibt es ja bei uns im evangelischen Deutschland beachtlich viele „Weiße Elefanten“ im Raum des sogenannten kybernetischen Diskurses, also des Diskurses um Fragen der Kirchenleitung und -strategie. „Weiße Elefanten“, die seit Jahren beschwiegen werden, obwohl alle wissen, dass diese Elefanten viel zu schwer sind, um sie in die Zukunft mitzuschleppen. Einige seien hier kurz benannt, weitere „Weiße Elefanten“ könnten und sollten alsbald identifiziert werden!

Die vorlaufenden Elf Leitsätze hatten sich an keiner Stelle so viel Empörung eingefangen wie bei Thema „Kirchensteuer. Dabei wurde in dem Papier lediglich in Erwägung gezogen, bei jener Gruppe junger Erwachsener genauer hinzusehen, die statistisch gesehen am häufigsten dann austritt, wenn sie ihren ersten Steuerbescheid bekommt. Als „billige Preispolitik“ wurde dies denunziert, wo es doch im Kern um Beziehung und Bindung geht! Denn wer sich die Möglichkeit einer Ermäßigung näher anschaut, der will ja in der Kirche bleiben; die anderen treten sowieso aus. Und dass solche „Kappungsmöglichkeiten“ in der Regel nur bei den ganz hohen Einkommen möglich sind, steht uns auch nicht gut an. Man mag andere, erfolgreichere Formen finden, diese Klippe zu überspringen, aber sie einfach zu ignorieren, nimmt den Abbruch bei den Jungen nicht ernst.

Der zweite „Weiße Elefant“ ist das Verhältnis der Landeskirchen untereinander: Wie in der EU sind die regionalen Interessen deutlich dominanter geworden in den letzten Jahren, der Wille zur Zusammenarbeit geht zurück und die Bereitschaft, zusammen zu arbeiten, ist schwächer geworden.

Man kann zwar nicht behaupten, dass die Maxime „Make Anhalt, Schaumburg usw. great again" Einzug erhalten hat, aber es gibt eine kaum mehr zu begründende Aufspreizung der Gliedkirchen. Und diese Zentripetalkräfte werden auch nicht ausgeglichen durch bekenntnisgebundene Strukturen, deren inhaltliche Spezifika unbedingt erhaltenswert, deren strukturell-gremiale Autonomie aber dysfunktional geworden ist. Es fällt im Übrigen auch schwer, von Politik und Gesellschaft selbstverständlich weitreichende Reformen von der Bewältigung der Klimakrise bis zur Flüchtlingsfrage zu erwarten und an dieser eigenen kleinen Strukturfrage nicht weiter zu kommen. Denn die guten Beispiele in der Nordkirche, in der EKBO und in Mitteldeutschland (EKM) zeigen ja, dass wir es können. Derzeit aber ist es leider wie in der EU: Weniger Gemeinsinn, viel Eigensinn und eine mit Absicht schwach gehaltene Zentrale.

Das führt zum dritten „Weiße Elefant, und der lautet „Reichskirche“. Noch 75 Jahren nach der Gründung der EKD in Treysa ist die Zentralisierung ein so schablonenhaft, gleichsam automatisiert geführter Vorwurf, dass man kaum eine rationale Diskussion über gesamtdeutsche Zusammenarbeit führen kann. Die EKD steht unter Generalverdacht! Dabei weiß im Grunde jede*r, dass ein*e starke*r Ratsvorsitzende*r allen gut tut.

Aber es dominiert jene protestantische DNA, die die jeweils nächsthöhere Ebene als das eigentliche Übel der Kirche ansieht, und „Kirche im eigentlichen Sinne“ immer jene Ebene ist, auf der man sich gerade befindet. Das Misstrauen gegen „Die-da-Oben“ wiederholt sich auf jeder Ebene und schwächt die Handlungs- und Kampagnenfähigkeit bis zur Selbstmarginalisierung. Diese Haltung erschwert nicht nur sinnvolle Zusammenarbeit und zwingend nötige gemeinsame Kommunikation, sondern kostet auch unerhört viel Geld und Lebenszeit, weil sie zu einer völlig überdimensionierten, von Misstrauen geprägten Gremien(un)kultur führt. Aber je geringer die Ressourcen der Kirche werden, desto enger müssen alle zusammenrücken und die vielen internen Abwertungen und Abgrenzungen, Streitigkeiten und Egoismen reduzieren. Zukunft hat die Kirche nur, wenn sie den Gemeinsinn stärkt, den von anderen in der Gesellschaft einzufordern sie nicht müde wird.

Diese drei „Weißen Elefanten“ sind durchaus ergänzungsfähig und -bedürftig. Aber ohne sie alle zu benennen und aufrichtig zu diskutieren, wird es keine gute Zukunft geben als aufgeschlossene Kirche. Denn wenn wir diese Elefanten nicht intern diskutieren, werden es über kurz oder lang andere tun – über unsere Köpfe hinweg. Deswegen ist mein Plädoyer am Ende einer langen Dienstfahrt: Unsere Kirche braucht ein neues Bild von sich selbst, denn das Ende der Volkskirche ist zuerst kein Finanzproblem, sondern ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wir sind – ob groß oder klein, reich oder arm – eine einzigartige Gemeinschaft der Herausgerufenen, deren Kernaufgabe lautet, Gott die Ehre zu erweisen – mehr nicht, weniger nicht. Und Gott wird nicht kleiner durch eine geringere Zahl der Zeug*Innen, sondern er macht sich klein – allein aus Gnade, allein in seinem Sohn, allein für den Glauben gemäß der Schrift.  

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Foto: ekd

Thies Gundlach

Thies Gundlach ist einer der drei theologischen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD und leitet die Hauptabteilung „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“.


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