„Friendly fire“

Eine evangelisch-theologische Stellungnahme zu „Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen“ (FAZ 11.01.2021, „Die Gegenwart“)
Symbolbild Suizidassistenz
Foto: Bret Kavanaugh

Der Artikel dreier prominenter evangelischen Theologen am 11. Januar 2021 in der FAZ hat im Raum der Kirche heftige Diskussionen und scharfe Kritik ausgelöst, da dort die Möglichkeit der Suizidbegleitung in diakonischen Unternehmen vorgeschlagen wird. Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Ruhr-Universität Bochum, ist absolut anderer Ansicht und legt diese in 32 Thesen dar.

1. Es gibt auch in hitzigen ethischen Debatten so etwas wie Irrläufer, oder wollte man es etwas martialischer ausdrücken, „friendly fire“. Um so etwas handelt es sich wohl bei dem am 11. Januar 2021 in der FAZ publizierten Plädoyer, die Kirchen sollten offen in die qualitäts­sichernde Begleitung und Organisation von assistiertem Suizid einsteigen (FAZ-Text siehe hier). Für die Diakonischen Einrichtungen sei es ein Akt gesteigerter Barmherzigkeit, für die Seelsorger eine Art „erweiterte Kasualpraxis“. Das Autorentrio vereinigt die evangelische Ethik (Reiner Anselm), die evangelische Seelsorgelehre (Isolde Karle) und die unternehmerische evangelische Diakonie mit keinem geringeren als ihrem höchsten politischen Repräsentanten (Ulrich Lilie).

2. Nach der raschen ablehnenden Reaktion der Deutschen Bischofskonferenz hat sich auch die EKD von diesem Vorstoß distanziert. Nun kennt die Evangelische Kirche kein moralisches Lehramt. Ebenso wenig existiert „die evangelische Ethik“. Daher sind die folgenden Übe­rlegungen ein Beitrag zur Debatte, nicht mehr und nicht weniger. Die Evangelische Kirche kann in dieser Sache in theo-politischen Manövern Bedenken vortragen, Abwägungen vornehmen und vor Gefahren warnen. Die Kritiker des assistierten Suizids können mit vielen guten Grün­den auf die Kontextabhängigkeit jeder Suizidentscheidung verweisen. All das kann sinnvoll sein, aber es reicht nicht.

3. Kirche und Theologie schulden es der Öffentlichkeit, in dieser Frage die Karten ihres Glau­bens offen auf den Tisch zu legen und zu erläutern – eben um sich selbst und andere nicht in die Irre zu führen. Die Evangelische Kirche darf sich in dieser Frage auch nicht hinter dem breiten Rücken der katholischen Kirche verstecken, so als fiele ihr selbst kein eigenes Argument mehr ein. Die katholische Kirche argumentiert mit guten Gründen und überaus respektabel weithin auf einer naturrechtlichen Basis, indem sie auf den Gabecharakter und die Heiligkeit des Lebens verweist. Wie stellt sich die Sache – gewissermaßen ergänzend – für die protestan­tische Theologie dar?

4. Um schon die letzte der sogenannten theologischen Karten gleich am Anfang auf den Tisch zu legen: Die Idee der Suizidunterstützung als „erweiterter Kasualpraxis“ der Evangelischen Kirche verkennt nicht weniger als eine Pointe des christlichen und auch speziell des evangeli­schen Glaubens: Die Versöhnung der Welt mit Gott als einem Ereignis, in dem er das sich selbst verfehlenden Leben jedes Menschen barmherzig annimmt und zurechtbringt. Und: Die Idee des Trios legt die Axt an die theologischen Grundlagen der Diakonie. Die Frage ist nun: Wo steckt der theologische Fehler?

Spezifische Gestalt der Selbstbestimmung

5. Um dies zu erkennen, ist nochmals ein Blick auf das Verfassungsgerichtsurteil notwendig. Das höchste deutsche Gericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 nicht nur das grund­sätzliche und grundgesetzlich gesicherte Recht jedes Menschen auf Selbstbestimmung heraus­gestrichen. Es hat auch, und genau hier steckt das Problem, ein Recht auf eine sehr spezifische Gestalt der Selbstbestimmung formuliert. Konkret: Zu einem Suizid, der zu jeder Zeit und un­abhängig von der Lebenssituation vollzogen werden kann und, da rechtsbasiert, im Bedarfsfall unterstützt werden darf und soll.

6. Das juristische Plädoyer für die grundlegend freie Selbstbestimmung unter den realen Bedingungen der Endlichkeit ist ohne Zweifel anzuerkennen und theologisch zu würdigen. Diese Selbstbestimmung ist Bestandteil der christlichen Freiheit und der Verantwortung vor Gott. Das spezifische Recht auf eine Selbstbestimmung in der besonderen Gestalt des assistier­ten Suizids ist allerdings eine Erfindung des Verfassungsgerichts und fordert aus der Sicht des christlichen Glaubens den entschiedenen Widerspruch – und eben nicht eine kirchlich-diakoni­sche Verwertung.

7. Warum steckt in dieser juristischen Er/Findung ein theologisches Problem? Die eigenverant­wortliche Entscheidung für die Lebensbeendigung ist nicht einfach eine Entscheidung zu einer Tat. Sie ist notwendig und immer ein Urteil. Dies ist sie insbesondere unter höchst ideali­sierten Bedingungen, und das heißt unter den empirisch unwahrscheinlichen Bedingungen der grundrechtlichen Rechtsfiktion absolut freier Selbstbestimmung. Es ist nicht nur ein persönli­ches Urteil, sondern spätestens durch die Assistenz ein sozial bestätigtes Urteil. Es ist ein Urteil über lebenswertes und nicht lebenswertes Leben. „Dieses Leben in dieser konkreten Gestaltung ist nicht lebenswert, sondern todeswürdig“, so lautet das Verdikt. Dem menschenrechtlich ge­gründeten nackten Freiheitswillen wird vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Recht zugesprochen, jederzeit und unbeschränkt ein moralisches Todesurteil zu fällen und dieses dann – notfalls mit Unterstützung – aber auch real zu vollstrecken.

8. Jede Entscheidung für den Suizid ist ein pointiert gnadenloses Urteil, das im Vollzug zu einem vernichtenden Urteil über ein Menschenleben wird. Die paradoxe Auffassung, dass die Würde des Menschen darin zu sehen ist, dass er das Recht hat, sich selbst die Lebenswürde abzusprechen, wird vom BVerfG begründungsfrei deklariert. Für den christlichen Glauben ist aber nicht nur dieses Paradox, auf das schon früh Ernst-Wolfgang Böckenförde hingewiesen hat, kritisch zu sehen, sondern vor allem auch das Urteil: „Dies ist ein nicht lebenswertes Leben!“

Gnadenlos und vernichtend

9. Warum können Christen das gnadenlose und in letzter Konsequenz vernichtende Urteil „Dies ist kein lebenswertes Leben!“ weder affirmativ bejahen noch gar unterstützen – auch da nicht, wo ein Mensch in Not, Angst und Perspektivenlosigkeit zu Recht vielfältiger Unterstützung bedarf und nicht allein gelassen werden darf? Warum ist dieses Urteil in seinem Irrtum, seiner Tragik und seiner Rätselhaftigkeit faktisch zu akzeptieren und doch zugleich weder philoso­phisch, moralisch oder gar theologisch zu rechtfertigen? Warum ist der Suizid für Christen keine grundsätzlich erwägenswerte Option der vor Gott verantworteten Lebensführung? Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es nicht um die letzten Zuckungen einer absterbenden religiösen Tradition. Es geht auch nicht einfach um ein religiöses Verbot, womöglich gar um ein willkürliches, nur durch Tradition und kirchliche Macht gestütztes Urteil. Wer so denkt, macht es sich zu leicht. Es geht um eine sozialphilosophisch und rechtlich weitreichende theo­logische Einsicht des Christentums.

10. Im Licht der aufrichtenden Barmherzigkeit Gottes hat kein Mensch das Recht und die Ein­sicht, das Urteil „Nicht lebenswert, sondern todeswürdig“ zu fällen. Für Christen leben alle Menschen aus der vielgestaltigen Barmherzigkeit Gottes. Das göttliche Urteil der Barmherzig­keit widersteht allem vernichtend-unbarmherzigen menschlichen Urteil. Die Einsicht in diese Barmherzigkeit leitet die christliche Ethik. Diese theologische Einsicht betrifft selbstverständ­lich nicht nur die Beurteilung anderen Lebens, sondern auch die des eigenen Lebens. Das barm­herzige Urteil Gottes über verletzliches, scheiterndes und verfallendes Leben wird für Glau­bende zum widerstehenden Gebot der Barmherzigkeit, zur rettenden Grenze aller verworren schwacher und auch heroisch starker Selbstbehauptung. So bleibt für Christen jeder Suizid die Tragödie eines tödlichen Irrtums.

11. Die Barmherzigkeit Gottes begegnet nicht nur einem „Ich will nicht mehr!“, sondern auch einem „Ich kann nicht mehr!“ Gegenüber dem tief erschöpften und entmutigtem Leben wird die Barmherzigkeit Gottes Christen zur Aufgabe, die Lasten dieses Lebens, so weit es geht, mit zu tragen und zu versuchen, sie erträglich zu machen.

12. Die Barmherzigkeit Gottes steht jedem menschlichen Urteil „Nicht lebenswürdig!“ entge­gen – gleichgültig, wer es trifft und wen es trifft. Gottes Barmherzigkeit verweigert dem in allen Verwicklungen gelebten und beschädigten Leben das vermeintlich notwendige und vernich­tende Urteil. Von Gottes Barmherzigkeit lebend, verweigern auch die Christen die Zustimmung zu diesem Fehlurteil – ohne den betreffenden Menschen zu verurteilen. Jede Assistenz beim Suizid wäre aber eine faktische Zustimmung zu diesem aus der Bedrängnis geborenen Urteil über lebenswertes und nicht lebenswertes Leben. Die von Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie geforderte kirchliche Flankierung des assistierten Suizids böte darum nicht Barm­herzigkeit, sondern im Lichte der Barmherzigkeit Gottes eine falsche Versöhnung mit dem von den Betroffenen erfahrenen Elend. Die Seelsorger als kirchliche Qualitätsmanager des Suizids würden zu Verbündeten all der Mächte, Kräfte und Akteure, die diesen den Tod wünschenden Menschen so tödlich verletzt haben.

Keine Komplizenschaft mit Verzweiflung

13. Evangelischer Glaube ist keine Naturreligion. Das Leben selbst ist nicht heilig. Christen glauben nicht an die Macht des Lebens, sondern an Gott den Schöpfer, Begleiter und rettenden Vollender des Lebens. Vom Geist Gottes bewegte Menschen ringen gemeinsam mit Gott gegen das Chaos um das Leben. Um in einem mehr als 2500 Jahre alten Bild zu sprechen: Christen ringen gemeinsam mit Gottes Geist darum, „glimmende Dochte“ nicht „auszulöschen“ und „geknickte Rohre“ nicht zu „zerbrechen“ (Jesaja 42,3). So und nur so lässt die Kirche die Ster­bewilligen nicht allein. Wenn sich die Kirche gegen das Suizidbegehren wendet, verweigert sie sich der Komplizenschaft mit der Verzweiflung oder der nackten Selbstbestimmung – und spie­gelt genau darin Gottes rettende Barmherzigkeit zugunsten des Menschen wider. Wenn die Barmherzigkeit zum Gebot wird, dann wird dieses Nein zum Fehlurteil zugleich zur Pflicht der Begleitung und Fürsorge für die ausweglos Verzweifelten. Zu sagen, dass es sich um ein tragi­sches Fehlurteil handelt, dies steht letztlich nur dem zu, der dieses Leben nicht allein gelassen hat.

14. Die Barmherzigkeit Gottes ist für den christlichen Glauben keine Nebensache, kein rheto­rischer Weichspüler und keine Leerformel. Für Christen ist sie der Kern des Christusgesche­hens, also Bestandteil ihrer orientierenden Leitsymbolik. Mit einem Vergleich gesprochen: Hier geht es nicht um Begriffskosmetik oder ‚Wording‘, sondern um die Grammatik des Glaubens. Was Christen an Weihnachten feiern, ist eine erstaunlich Würdigung dieses verletzlichen Lebens. Dass Gott nicht als Rächer, sondern in höchst verletzlicher Gestalt diese Nähe zur ge­waltdurchsetzen Erde sucht, ist Zeichen seiner „Treue zu dieser Erde“ (F. Nietzsche). Die Heilungsgeschichten haben ihre Pointe darin, dass sich Gott in Jesus gegen die naturalen, kul­turellen und sozialen Prozesse der Lebensgefährdung und Exklusion wendet. An Ostern feiern Christen ein Versprechen Gottes. Sie feiern, dass Gott auch dann, wenn Menschen zerstörerisch unterwegs sind und sich der Barmherzigkeit gewaltsam entledigen, Gott mit barmherziger Kre­ativität reagiert. Über eine Welt, die in ihrer Selbstfürsorge scheitert, spricht Gott kein vernich­tendes Urteil. Vielmehr verspricht er in der Auferweckung des Gekreuzigten, sich dem real gelebten Leben nochmals schöpferisch und entwirrend, wahrhaft aufklärend und letztlich mit „rettender Gerechtigkeit“ (J. Habermas) zuzuwenden. Für Glaubende ist darum der Tod kein Freund des Lebens, sondern der „letzte Feind“ (Paulus). Christen feiern an Pfingsten, dass in die Wirrnisse des beschädigten Lebens Gott einen Menschen bewegenden Geist der Zuwen­dung und des Trostes sendet.

15. Ist das alles nur religiöse Lyrik, eben eine Story? Ja, selbstverständlich! Genauso ist es! Es ist die Story der Christen, die diese wahrhaft auch für ihre Ethik als grundierend erachten. Aber selbst das BVerfG erzählt eine in einem Jenseits angesiedelte Geschichte, die von einem jen­seits von allem realen empirischen Elend und jenseits allen Bedingtheiten lebenden bedin­gungslosen Willen und von einer abstrakten menschlichen Freiheit zur Selbstbestimmung han­delt. Darum ist der gegenwärtige Tumult um den assistierten Suizid ein Kampf der Narrative.

16. Die unternehmensförmig Diakonie, der der Präsident der Diakonie in Deutschland politisch vorsteht, ist – so ihr Anspruch – eine organisationsförmige Gestalt der christlichen Nachfolge­praxis. Diakonisches Handeln richtet sich in seiner Zeit an den realen Notlagen von Menschen und an kritikwürdigen Strukturen aus. Hierin gleicht es vielen anderen nichtkirchlichen Akteu­ren auf dem großen Sozialmarkt der Bundesrepublik. Wie die anderen Sozialakteure zielt die Diakonie auf die Bewahrung von Humanität. Das kirchlich-diakonische Handeln hat aber darin seine Besonderheit, dass es (nota bene: auch für den Gesetzgeber und die Gerichte) ein Handeln im Auftrag Gottes ist. Es geschieht in der Tat „an Christi statt“. Dieser Umstand ist Auftrag und Grenze jeder Markt- und Bedürfnisorientierung der kirchlich verantworteten Sozialunterneh­men. Sind doch, folgte man der Grundordnung der Evangelische Kirche in Deutschland, die „diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerung der Kirche“ (Artikel 15.1).

In Protest und Klage, aber mit Gott

17. Die Kirche hat in ihrer Diakonie immer wieder die im Neuen Testament dokumentierte Typik der Notlagen in die je eigene Zeit übertragen und umgekehrt die aktuellen Nöte in das Fürsorgehandeln Jesu rückübertragen. Ein kirchliches Qualitätsmanagement des assistierten Suizids ist aber schlechterdings nicht rückübersetzbar in ein an Jesus Christus ausgerichtetes Zuwendungshandeln.

18. Mit dieser ethischen und praktischen Ausrichtung werden die Betroffenen nicht, wie man­che Kritiker geneigt sind zu behaupten, „allein gelassen“. Sie müssen lebensförderlich begleitet und dazu ermutigt werden, weiter mit dem Leben und mit Gott in Protest und Klage zu verhan­deln. Der Todeswunsch ruft nach sorgenden und fürsorgenden Umgebungen. Gemeindeseel­sorger und Klinikseelsorger sind wie Ärzte keine Manager des Todes, sondern angesichts der Versprechen Gottes auch in aller Wahrnehmung und emphatischen Annahme der Endlichkeit des Lebens doch „Protestleute gegen den Tod“ (Chr. Blumhardt). Dies gilt auch noch für die Situation des Hospizes, in dem Menschen dem Tod begleitet entgegen gehen. Kein Mensch und so auch nicht die Christen müssen sich mit ihrem gelebten Leben in all seiner möglichen Ab­gründigkeit notwendig versöhnen. Im jüdisch-christlichen Traditionsstrom ist der gegen Gott in spiritueller Wut oder Enttäuschung geäußerte Todeswunsch die äußerste Grenze der Klage (Hiob, Elias) und das heißt, des gelebten Glaubens.

19. Kommunikation ist voller Paradoxien. Auch beim Thema des Suizids dürfte dies so sein. Über den Todeswunsch wird jemand in Not und Verzweiflung dann um so freier sprechen, je sicherer er weiß, dass der andere ihm widersprechen wird – und nicht sagt: „Ich weiß, wie es geht und bin gerne bereit, dabei qualitäts- und ergebnissichernd zu helfen.“ Das von Gottes Barmherzigkeit ausgehende Nein zum Suizid und seiner Beihilfe mag auf den ersten Blick hart erscheinen. Aber es ist dieses Nein, das im wirklichen Leben, d.h. in den Grauzonen der nichtheroischen Selbstbestim­mung einen realen Schutzraum des Vertrauens und der Fürsorge für gefährdetes und selbstgefährdetes Leben öffnet. ‚Öffnung durch Schließung‘ würde die Systemtheorie dieses wohlbekannte Phä­nomen nennen.

20. Dies schließt nicht aus, sondern ein, dass ein Arzt und ein Patient in Akten persönlicher Verantwortungsübernahme oder der akuten Verzweiflung und (!) der notwendigen persönli­chen Schuldübernahme anders handeln und darin wissend schuldig werden. Diese einzelnen Akte der Schuldübernahme unterscheiden sich fundamental von einer mit gutem Gewissen auf Wiederholung angelegten (juristisch: „geschäftsmäßigen“) religiösen Flankierung des assistier­ten Suizids. Realistisch betrachtet schließen die hier dargelegten Überlegungen auch die Mög­lichkeit einer Erfahrung des Scheiterns ein. Dies tritt genau dann ein, wenn Menschen, denen der Sui­zidwunsch nicht erfüllt wird, den Widerspruch gegen ihr Urteil als Entzug der Zuwendung und als lebensfeindliches Moralisieren erleben. In der Begrenztheit menschlicher Einsicht und in der Vielgestaltigkeit gelebten Lebens kann es Situationen geben, in denen derjenige, der aus Barmherzigkeit dem Suizidbegehren widerspricht und die Assistenz verweigert, selbst an Gott und dem betreffenden Menschen schuldig wird. Doch dies ist wiederum in Verantwortung vor Gott zu riskieren.

Tiefe Mehrdeutigkeit der Moralgeschichte

21. Selbstverständlich haben die Kirchen, und nicht nur sie, im Umgang mit Suizidenten gelernt und Verfehlungen aufzuarbeiten. Aber auch hier gilt es, nicht vorschnell und ideengeschichtlich naiv den Stab zu brechen und die tiefe Mehrdeutigkeit der Moralgeschichte zu leugnen. Es war ja die gleiche radikale Hochschätzung des Lebens, die zu Beidem führte: Zu der aus heutiger Sicht falschen Ausgrenzung der Suizidenten und zum Ausschluss der „Selbstmörder“ von der kirchlichen Bestattung, aber auch zur schrittweisen Entdeckung der freien Selbstbestimmung des Individuums. Selbst der im Urteil des BVerfG so machtvoll aufgerufene Immanuel Kant hat einen pietistischen Wurzelgrund.

22. Ob Menschen tatsächlich aus freier Selbstbestimmung heraus den assistierten Suizid su­chen, ist eine Frage, die ärztlicherseits durch Psychiater zu beurteilen ist. Darum sollte die Kir­che tunlichst darauf achten, einer anmaßenden Klerikalisierung der Suizidbegleitung zu wehren und die Grenze zwischen der ärztlich-psychiatrischen und der kirchlich-seelsorgerlichen Bera­tung nicht zu verwischen. Je spirituell asketischer die Seelsorge agiert, umso größer dürfte die Gefahr der Grenzverwischung sein.

23. Die Kirchen und insbesondere die Diakonischen Initiativen und Einrichtungen fördern auf vielgestaltige Weise die Freiheit zum Leben inmitten von markanten Einschränkungen. In einer großen gesellschaftlichen Koalition arbeiten Sie an den Nachtseiten des Lebens, um dort Barm­herzigkeit und Leben unter zum Teil schwierigen Bedingungen zu fördern. In dieser Arbeit an den Nachtseiten des Lebens kann es nicht Aufgabe der Kirchen sein, Qualitätsmanagerin des selbstgewählten Todes zu werden. In den Grauzonen zwischen wacher Selbstbestimmung und begrenzenden, auch oft beschämenden Ohnmachtserfahrungen müssen Menschen in diakoni­schen Einrichtungen eines tun können: Sie müssen ihrer Umgebung vertrauen können, dass sie auch dann, wenn sie sich in Not und Verzweiflung selbst nicht mehr trauen können, gut aufge­hoben sind. Für eine prinzipienorientierte Philosophie der nackten Selbstbestimmung ist dies zu komplex. Aber so ist das Leben. In der Arbeit mit hoch vulnerablen Menschen bleibt das Vertrauen die wichtigste Grundlage des Miteinanders. Dies gilt besonders für das Vertrauen in die lebensförderlichen Absichten der Betreuer und der Organisation. Nicht zu vergessen ist: Auch dieses Vertrauen wird gelebt „an Christi statt“. Würden die kirchlichen Einrichtungen ihr gegenwärtiges Angebot mit einer eigenen professionellen Flankierung des assistierten Suizids durch kirchliche Akteure ergänzen, so würden sie Vertrauensverhältnisse beschädigen oder gar schleichend vergiften. Anders formuliert: Was der Vorsitzende der EKD-Kammer für Öffent­liche Verantwortung, die Seelsorgespezialistin und der Diakoniepräsident den kirchlichen Ein­richtungen anempfehlen, dürfte sich für einen organisationssoziologisch informierten Blick zu­mindest mittelfristig als massives vertrauenspsychologisches Problem herausstellen.

24. Christen dürfen so verwegen sein, ein sich selbst verurteilendes menschliches Leben in den Raum Gottes zu stellen, der dieses Leben umgreift. Darum hoffen Christen und insbesondere Seelsorger stellvertretend. Sie bezeugen stellvertretend die Barmherzigkeit Gottes, selbst dann, wenn selbstvernichtende Urteile gefällt werden. Als Stellvertreter der Barmherzigkeit Gottes dürfen die Seelsorger die Betroffenen auch im Widerspruch zum Urteil nicht allein lassen. Eine organisierte Solidarität in den bittersten Stunden der menschlichen Endlichkeit ist tatsächlich ein Menschenrecht.

Eher deutsch-nordisch als jüdisch-christlich?

25. In diesen Grenzlagen der Not und Verzweiflung tritt unübersehbar hervor, dass dieses Leben in aller Güte und trotz steten Verbesserung doch nicht unüberbietbar gut ist, sondern auf eine rettende Vollendung wartet. Darum waren eine heroisch tragische oder eine stoische Welt­anschauung immer starke Alternativen zum Christentum. Anders als in der Sokratischen Tradition wurde der Tod nie als ein letztes Fest der Freiheit gefeiert. Auch die Religion der Edda unterschied sich in der Option für das Heroische immer vom Christentum. Der Suizid als „Freitod“, das heißt als heroische Gestalt der Freiheit und Vollendung des Lebens war mit guten Gründen nie eine christliche Option.

26. Fehlt es den Protagonisten des Vorstoßes in der Reaktion auf das Urteil des BVerfG an Mut zur Gegenkultur? Vielleicht. Muss der geradezu libertäre Wind des Verfassungsgerichtes die theologischen Segel füllen, weil der Geist Gottes nicht weht? Oder sind die Segel des Diako­niepräsidenten und der ihm Gleichgesinnten einfach nicht in den richtigen Wind gedreht? Man weiß es nicht. Sicher ist nur, dass die Spitze der Diakonie und die anderen Spezialisten sich hüten sollten, den vielen Menschen, die sich in Caritas, Diakonie, in kommunalen und privaten Trägern tagtäglich um verletzliches und auch vergehendes Leben mühen, in den Rücken zu fallen. Würde die Evangelische Kirche zur Agentur des kirchlich gut gemanagten assistierten Suizids, so würde sie nicht nur das Ethos vieler ihrer Mitarbeiter unterminieren, sondern zu Recht auch nicht mehr uneingeschränkt als Anwalt des Lebens wahrgenommen.

27. Wer die Tür zur Frage „Ist dieses Leben noch lebenswert oder schon todeswürdig?“ öffnet und auf den nackten freien Willen verweist, der öffnet einen Debattenraum, zu dem das Grund­gesetz vor dem Hintergrund schlimmer Erfahrungen und aus guten Gründen die Tür geschlos­sen hat. Für einen Protestanten können, wie schon Konzile, auch Verfassungsgerichte irren. Indem das BVerfG als höchstes Gericht den Suizid selbst und die Assistenz von jeder Notlage des Betroffenen abkoppelt, öffnet es diese Türe nicht einen Spalt weit, sondern scheunentor­weit. Hier zeichnet sich – eingesponnen zuerst in ein Freiheitspathos des höchsten Gerichts und dann in ein Freiheits- und Anerkennungspathos des Theologentrios – ein Triumph des Vitalismus ab. Der hero­isch-ungebundene Freiheitswille und das religiöse Coachen der freien Entscheidung über Leben und Tod bewegen sich eher auf einem deutsch-nordischen Territorium denn im jüdisch-christ­lichen Raum der Barmherzigkeit Gottes.

Religion ohne Gott?

28. Der moderne sozial-liberale Protestantismus ist ein großes Experiment. Sind die Impulse eines christlichen Humanismus mittelfristig zu erhalten, wenn für leitende Akteure eine radi­kale Diesseitigkeit auch beim Umgang mit dem Tod angesagt ist? Ist die Humanität zu bewah­ren, wenn es keine einbrechende und widerstehende Transzendenz mehr zu geben scheint, eine die dieses zerbrechliche Leben rahmt, entwirrt, enträtselt und in rettender Gerechtigkeit auf­richtet? Ist Barmherzigkeit realistisch, zeichenhaft und nachhaltig entfaltbar, wenn sich auch die Kirche selbst nur noch in einem „immanenten Rahmen“ (C. Taylor) bewegen möchte, also Gott von der freien menschlichen Selbstbestimmung durch eine „freundliche“ Übernahme quasi ins Verschwinden gebracht wurde? Geht es noch um die religiöse Einheit von Glauben, Lieben und Hoffen, wenn Gott in all den Fragen keine auch nur imaginierte Rolle spielt? Wie ernst sind Kirche und Theologie noch zu nehmen, wenn die Fragen des Todes auch von ihnen unter einem „verlorenen Himmel“ (Th. Großbölting) verhandelt werden? Anders formuliert: Funktioniert Religion in der Öffentlichkeit ohne Gott? Wenn der höchste Repräsentant der evangelischen Diakonie sich für die modulare Ergänzung des Angebots durch ein qualitätssicherndes Flankie­ren des assistierten Suizids ausspricht, dann sind bei all diesen Fragen zumindest Zweifel an­gebracht.

29. Die Interpretation des Urteils des BVerfG durch Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie offenbart ein grundlegendes, wenngleich nicht untypischen Missverstehen der Rolle von Kirche und Theologie im Spiel des weltanschaulichen Pluralismus. Das Urteil des BVerfG vom 26. Februar 2020 lebt aus einem offensichtlichen Paradox: In der Fiktion einer zeitlos-reinen und prinzipienorientierten Grundgesetzauslegung spiegelt es selbst zugleich als aktuelle Deu­tung des GG Veränderungen in moralisch-kulturellen Kräftekonstellationen. Es reagiert auf Verschiebungen in dem, was der Philosoph Charles Taylor das soziale Imaginäre nennt. Für den Gesetzgeber ist die Deutung des BVerfG bindend. Für den pluralen Deutungsprozess der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure ist es aber weiterhin nur eine Deutung, die den moralisch-kulturellen Streit der Deutungen nicht beendet. Die Kirchen und die vielen anderen moralischen Akteure können und müssen auch in dieser Sache die normativen Gehalte des Grundgesetzes weiterhin selbständig erschließen und anhand ihrer eigenen (!) Ressourcen kont­rovers diskutieren – und zwar aus prägnant überschießenden Positionierungen heraus. Die Stärke des liberalen und pluralistischen Rechtsstaates ist, dass die Wertegemeinschaften nicht nur den „überlappenden Konsensus“ (J. Rawls) vertreten. Würden die Evangelische Kirche und ihre Ethiker einfach das Urteil des BVerfG von nun an zur eigenen ethischen Grundlage machen, so würden sie ihre Rolle im „Spiel“ des Pluralismus“ verkennen. Um es sozusagen sportlich auszudrücken: Sie würden sich weigern „Spieler“ zu sein und sich anmaßen, „Schiedsrichter“ zu sein. Es ist sicherlich spe­ziell für den theologisch-liberalen Protestantismus eine große Versuchung, mit dem Verweis auf die Vernunft in der Geschichte („minimaler überlappender Konsensus“) sich in Wahrheit in einen moralischen Konsenskorridor einzupassen und dabei einen sehnsüchtigen Kulturpater­nalismus mit theologischer Mutlosigkeit zu kombinieren.

30. Selbstverständlich muss sich die Evangelische Kirche und ihre Diakonie zum Urteil des BVerfG vor dem neuen Gesetzgebungsverfahren verhalten. Das Urteil des BVerfG und die zu­grundeliegenden moralisch-kulturellen Kräftekonstellationen stellen aber als solches noch nicht Gottes Gebot dar, auf das die Kirche mit großer Selbstverständlichkeit zu hören und von dem sie in ihrem eigenen Denken, Planen und Handeln auszugehen hat. Wer so denkt, manövriert sich theologisch in die Nähe von dem Modell eines „Volksnomos“, der den Christen im ge­schichtlichen Prozess – Recht, öffentliche Meinung und kulturelle Großklimata vereinend – zur jeweils gegenwärtigen Gestalt des Willens Gottes wird.

31. Die innerkirchlichen und die öffentlichen Debatten über das Karlsruher Urteil sind ohne Zweifel überfällig und angesichts des bevorstehenden Gesetzgebungsprozesses auch notwen­dig. Das besondere Timing dieser theologischen Intervention inmitten der Corona-Krise, in welcher „die Alten“ und die Heime schon auf vielfältige Weise im Zentrum einer zwiespältigen öffentlichen Aufmerksamkeit stehen und in welcher die Mitarbeiter der Heime trotz hohem Ethos mit der Erschöpfung ringen, ist aber nicht nur befremdlich. Es trägt geradezu Züge des Irrwitzigen. Kein so raffinierter wie entschlossener Gegner der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie hätte sich etwas Besseres ausdenken können. Wie so oft, überholt die Realität die Phantasie.

32. Die weltweite Corona-Krise stellt die Kirche, die Diakonie und die Theologie vor neue und vor daueraktuelle Herausforderungen – in der moralischen Orientierung, in der Gestaltung der kirchlichen Kommunikationen, im öffentlichen Auftreten und in der theologischen Reflexion. Dabei leben sie aus einem Versprechen, das sie sich selbst nicht geben können. Sie leben in der versprochenen Gegenwart nicht irgendeines Geistes des Lebens, sondern des Geistes Jesu Christi, einem Geist der Hoffnung und des Trostes. In herausfordernden kulturellen Umgebun­gen ist es ein Geist, der spirituelle Resilienz, Kreativität und nicht zuletzt eine wahrhaft barm­herzige „compassion“ verbindet.

Damit liegen die theologischen Karten, die es ja in der Tat noch gibt, auf dem Tisch.

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