„Kirchenjustes“ Mission

Das kirchliche und soziale Engagement der Kaiserin Auguste Victoria
Kaiserin Auguste Victoria als Protektorin des Roten Kreuzes, Gemälde von Arthur Fischer, 1914 (privat).
Foto: privat
Kaiserin Auguste Victoria als Protektorin des Roten Kreuzes, Gemälde von Arthur Fischer, 1914 (privat).

Auguste Victoria (1858 – 1921), die Ehefrau Kaiser Wilhelms II., war eine sehr fromme Frau mit einem besonderen Anliegen. Auch um Sozialisten und Atheisten im Kaiserreich zurückzudrängen, engagierte sie sich stark beim Neubau von Kirchen – aber auch das soziale Engagement war ihr wichtig. Über die letzte deutsche Kaiserin, die vor hundert Jahren starb, berichtet der Archivar und Sachbuchautor Jörg Kirschstein.

Der „Spitzname“ der letzten deutschen Kaiserin war nicht sehr fein. „Kirchenjuste“ wurde sie genannt: Auguste Victoria (1858 – 1921), deren Todestag sich am 11. April 2021 zum einhundertsten Mal jährt. Die typisch berlinerisch-freche Bezeichnung kam nicht von ungefähr. Wenn heute von Auguste Victoria die Rede ist, dann verbindet man mit ihrem Namen in erster Linie ihr ausgeprägtes kirchliches Engagement. Ihren tiefen Glauben praktizierte sie in Form von sonntäglichen Gottesdiensten und von täglichen Andachten. Die strenge protestantische Ausrichtung und die Glaubenspraxis der Monarchin wurden als konservativ und bigott empfunden – deshalb „Kirchenjuste“.

Seit der Thronbesteigung ihres Mannes Wilhelms II. im Juni 1888, war Augus-te Victoria Protektorin des im selben Jahr gegründeten „Evangelischen Kirchenhilfsvereins“. Der Verein hatte die Aufgabe, „die Bestrebungen zur Bekämpfung der religiös-sittlichen Notstände von Berlin und anderen großen Städten zu unterstützen“. Auguste Victoria hatte wiederholt geäußert, dass ihr „für Berlin Kirchenbauten, die Begründung kleiner Gemeinden und eine ausgedehnte Thätigkeit der Diakonissen am meisten am Herzen“ lägen. Besonders in Berlin sollte die Kirchennot durch eine Vielzahl von Neubauten behoben werden. Zum Vorsitzenden des Vereins wurde der Minister des königlichen Hauses Wilhelm Graf von Wedel gewählt; die treibende Kraft war aber Ernst von Mirbach. Er vertrat die Kaiserin in den wichtigsten unter ihrer Schirmherrschaft stehenden Vereinen. Er avancierte bald zu ihrem kirchlichen Ratgeber und koordinierte mit Diplomatie und Geschick das Kirchenbauwesen.

Die beiden ersten Kirchen im Großraum von Berlin, die Erlöserkirche in Rummelsburg und die Himmelfahrtskirche in der Elisabeth-Gemeinde am Gesundbrunnen, wurden nur zum geringen Teil durch den Verein finanziert. In erster Linie waren es Spenden von Berliner Bürgern, die die Bauten möglich machten. Da Rummelsburg zu den ärmeren Gemeinden gehörte, hatte der Hilfsverein entschieden, dort das erste Gotteshaus errichten zu lassen. Gleichzeitig forderte die Kaiserin wohlhabende Berliner Kirchengemeinden zu weiteren Spenden auf. Kein Entwurf wurde ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung ausgewählt, kein Antrag ohne ihre Zustimmung unterstützt. Als Schirmherrin des Kirchenbauvereins nahm Auguste Victoria an den meisten Grundsteinlegungen und Einweihungen teil. Zu den Kirchen gehörte auch die Errichtung von Gemeindezentren mit dazugehörigen Gemeindehäusern, Altenheimen, Kinderkrippen und Schulen. Die Gründung des Kirchenhilfsvereins wurde mit der zunehmenden Entkirchlichung und dem Desinteresse der Bevölkerung am Kirchenleben begründet. Dies war aus Sicht des Kaiserhauses eine Tendenz, die durch den gleichzeitigen Zuwachs der Sozialdemokratie als staatsgefährdend angesehen wurde. Dem musste demnach unbedingt Einhalt geboten werden. Im Jahr 1903 konnte von der Fertigstellung von 53 Kirchen in Berlin und seiner direkten Umgebung berichtet werden. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich die Aktivitäten über die Grenzen Berlins hinaus verlagert. Der Bau der Erlöserkirche in Gerolstein in der Eifel und der Ausbau der Erlöserkirche in Bad Homburg nahmen die meiste Kraft in Anspruch. Zudem wurden Projekte im Ausland unterstützt: Das letzte Großprojekt des Kirchenbauvereins, die 1903 gegründete „Kaiserin-Auguste-Victoria-Stiftung auf dem Ölberg bei Jerusalem“, war ein Komplex aus Erholungsheim, Hospiz, Versammlungsräumen und einer Kirche, dessen Bau vom Kaiserpaar während seiner Palästinareise bereits 1898 beschlossen war. Höhepunkt der damaligen Reise ins Heilige Land war die Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem für die in Palästina lebenden protestantischen Christen.

Die Kirchenferne bleibt

Die meisten der in Berlin errichteten Kirchen zeichneten Höhe und Weiträumigkeit aus. Ihre Bauzeit lag in der Regel unter fünf Jahren. Die für den Kirchenbau zuständige Kommission hatte sich bei fast allen Bauten für den neugotischen Stil entschieden. Sie hatte damit einer Empfehlung des 1861 verabschiedeten Eisenacher Regulativs entsprochen, das rote Backsteinkirchen in Anlehnung an die Gotik vorsah.

In den Jahren von 1888 bis 1914 entstanden in Berlin 66 neue Kirchen, ab 1920 in Groß-Berlin waren es sogar 112 wilhelminische Gotteshäuser. Die zahlreichen Kirchenbauten verbesserten zwar die Versorgungsmöglichkeiten, sie verringerten aber keinesfalls die Kirchenferne der Menschen im gewünschten Ausmaß. Durch Gruppenarbeit und Bibelkreise versuchten Gemeindepfarrer, persönliche Kontakte zu fördern. Die neuen Kirchenbauten sorgten nicht überall für Beifall und Zufriedenheit. Zahlreiche Gemeindemitglieder sahen in den aufwendigen Bauten eine prunkvolle Kulisse für die Selbstdarstellung der Monarchie. Günther Dehn, der als Gemeindepfarrer in der Reformationskirche in Moabit Dienst tat, befand: „Und nun stand mitten unter diesem Volk die Reformationskirche. Sie war kein schöner Bau, ganz aus verstaubter kirchenbaulicher Tradition heraus in einer Art Neugotik errichtet, ohne Einfühlung in die lebendige Situation eines Arbeitsquartiers […].“ Er vermisste helle Räume für Kinderpflege und die Jugendarbeit. „Stattdessen hatte die Kirche einen gewaltigen Turm und bot 1 300 Sitzplätze. Alle Nebenräume waren zu eng geraten. Der für die Bibelstunden und Versammlungen gedachte Saal war völlig verbaut. Aber wir hatten nun eine ‚schöne‘ Kirche.“

Das Bauprogramm wurde flankiert durch die „Evangelische Frauenhilfe“. Sie wurde 1899 auf Anregung der Kaiserin gegründet. Auguste Victoria rief in einem Schreiben an den Evangelischen Kirchenhilfsverein alle evangelischen Frauen auf, sich in ihren Gemeinden sozial zu engagieren. So entstand in kürzester Zeit ein praktischer sozialer Einsatz bei der Hilfe der häuslichen Krankenpflege und Beaufsichtigung von Kindern. Ansonsten hielt die Frauenhilfe an der religiös-moralisch sanktionierten Priorität der Familie und Mutterrolle fest und lehnte öffentlich-politische Aktivitäten von Frauen ab.

Im Jahr 1912 bestanden bereits 2407 Vereine der Frauenhilfe mit 249 000 Mitgliedern. Für die Geschäftsstelle der Frauenhilfe erwarb der Evangelische Kirchenhilfsverein ein Doppelhaus in der Potsdamer Mirbachstraße 2/3 (heute Leistikowstraße 2/3). Während des Ersten Weltkriegs entwickelte sich die Frauenhilfe zu einer unverzichtbaren Säule des Kirchenhilfsvereins. Die finanziellen Mittel, die der Hilfsverein für sogenannte Liebesgaben in Form von Geschenkpaketen für Soldaten mit Bekleidung und Lebensmitteln einsammelte, waren enorm. Mit dem Ende der Monarchie 1918 kam auch die Arbeit des Kirchenbauvereins zum Erliegen und wurde schließlich 1930 aufgelöst.

Die Kaiserin war durch ihre hohe gesellschaftliche Stellung eine gefragte Schirmherrin für zahlreiche karitative Einrichtungen. Sie übernahm im Laufe der dreißigjährigen Regierungszeit ihres Mannes mehr als 140 Protektorate sozialer und kirchlicher Projekte. Im Volk wurde die Kaiserin als „Landesmutter“ betrachtet. Diesen Namen hatte man ihr gegeben, da sie es verstand, ihre ehrliche und persönliche Anteilnahme zu zeigen. Dem einfachen Volk brachte sie Verständnis entgegen und setzte sich für die Nöte von Müttern und Kindern in besonderem Maße ein. Ein ganz besonderes Interesse brachte die Kaiserin der Säuglingspflege entgegen. Die Säuglingssterblichkeit im Kaiserreich war generell hoch. In den 1880er-Jahren starben in Berlin vor Vollendung des ersten Lebensjahres von einhundert Neugeborenen dreißig Babys. Während der zunehmenden Industrialisierung war die Gefährdung der Säuglinge, deren Mütter in Fabriken arbeiteten und bald nach der Entbindung schnellstmöglich wieder erwerbstätig sein mussten, besonders hoch, da sie nur begrenzt Möglichkeiten hatten, ihr Kind zu stillen.

Schmerzhafte Erfahrung

Es ist sicher kein Zufall, dass sich die Kaiserin seit dem Herbst 1904 verstärkt für die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit einsetzte. Im Oktober dieses Jahres hatte Karl von Behr-Pinnow sein Amt als Kabinettsrat der Kaiserin angetreten. Ihm war es gelungen, die Kaiserin für dieses Thema zu interessieren. Aus eigener schmerzhafter Erfahrung musste sich von Behr-Pinnow mit diesem Thema befassen, da seine vier Geschwister im Säuglingsalter gestorben waren. Im Oktober 1905 unterbreitete der Kabinettsrat „einer Reihe von Persönlichkeiten den Wunsch Ihrer Majestät“, eine zentrale Musteranstalt in Groß-Berlin aufzubauen. Zu den prominenten Unterstützern gehörten unter anderem der Vizepräsident des Reichstags Hermann Paasche, Kultusminister Conrad von Studt und Oberbürgermeister Martin Kirschner.

Das Ergebnis des Spendenaufrufs war erwartungsgemäß sehr hoch. Bis zu Beginn des Jahres 1907 war eine Summe von 950 000 Goldmark zusammengekommen. Anlässlich der Silberhochzeit des Kaiserpaares im Februar 1906 übergab die Stadt Charlottenburg für den Bau der Musteranstalt ein großzügiges Grundstück, das direkt an den Schlosspark grenzt. Der große Gebäudekomplex entstand nach Entwürfen der Architekten Ludwig Hofmann und Alfred Messel in den Jahren von 1907 bis 1909.

Zum Hauptgebäude gehörten zwei mit einer Pergola verbundene Nebengebäude. Schwestern erhielten hier ihre Ausbildung, zudem konnten in der angeschlossenen Fürsorgestelle Kleinkinder behandelt werden. Das war für damalige Verhältnisse ein Novum. Es war die erste Säuglingsklinik in Deutschland. Einzigartig war auch die Errichtung eines Musterstalls zur Milchgewinnung. Dazu war ein Stallgebäude errichtet worden. Im Kaiserin-Auguste-Victoria-Haus arbeiteten 82 Personen, inklusive dem Pflege- und Hauswirtschaftspersonal. Im Durchschnitt konnten 1910 pro Tag sechzig Kinder betreut werden. Die jährliche Zahl der Entbindungen erhöhte sich von 166 im ersten Jahr nach der Eröffnung auf 242 im Jahr 1911.

Mit der Gründung des Kaiserin-Auguste-Victoria-Hauses hatten es sich Ministerialbeamte, Ärzte und Oberpräsidenten zur Aufgabe gemacht, die hohe Säuglingssterblichkeit im Reich zu erforschen und mit modernen Methoden zu bekämpfen. Mit Hilfe der Kaiserin war es gelungen, auch den Adel und Industrielle dafür zu gewinnen, die sich an der Finanzierung der Reichsanstalt beteiligten. Schließlich wurde darin eine nationale und patriotische Aufgabe gesehen, die das Überleben der Kleinkinder und der damit verbundenen nächsten Generation zusichert. Nach dem Ende des verlorenen Ersten Weltkriegs 1918 zerbrach die deutsche Monarchie. Wilhelm II. musste abdanken und ging ins niederländische Exil. Auguste Victoria folgte ihm. Die Kaiserin war öffentlich nicht mehr in Erscheinung getreten und starb schließlich – so die allgemeine Deutung – aus Trauer über das Schicksal ihres Landes und Hauses.

Aus heutiger Sicht war Auguste Victorias Persönlichkeit von einer rückwärtsgewandten, reaktionären Haltung und Anschauung geprägt. Zudem gilt sie als Verkörperung der bigotten Moralvorstellung am kaiserlichen Hof. Ihren Aufgaben als Kaiserin, Ehefrau und Mutter kam sie, dem damaligen Rollenbild folgend, mit ausgezeichneter Pflichttreue, Disziplin und Sanftmut nach. Was sie aber in besonderem Maße auszeichnete, war ihr großes Engagement für sozial benachteilige Personen und die Förderung zahlreicher kirchlicher Einrichtungen. Diese Aufgaben erfüllte sie aus innerer Überzeugung. 

 

Literatur:

Jörg Kirschstein: Auguste Victoria – Porträt einer Kaiserin. bebra Verlag, Berlin 2021, 192 Seiten, Euro 28,–.

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