Genieße mit den Augen

Über die Wiederentdeckung des Flanierens
Theaterscheinwerfer
Foto: Rainer Sturm / pixelio.de

Das Flanieren ist etwas anderes als das Spazierengehen. Es ist auch kein Promenieren an der See, im Kurort. Der Flaneur streift nicht durch die Landschaft, er benötigt eine große Stadt. Und in ihr gibt er sich keinem hektischen Shoppingvergnügen hin, denn das Flanieren folgt keinem Ziel, keinem Plan, sondern es benötigt Zeit und Muße. Es ist ein zielloses Umherstreifen, eine flüchtige Begegnung, das zufällige Entdecken von etwas, was man nicht erwartet. Und dabei geht es auch um das Sehen und Gesehenwerden in der Folge einer Tradition, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand.

Ausgerechnet der Amerikaner Edgar Allan Poe gilt als Schöpfer des Flaneurs, der in der Geschichte „Der Mann in der Menge“ sein Debut feiert. Der Flaneur interessiert sich für Fremde, denen er jedoch in der Fülle der Stadt, dem Wirrwarr in der Menge der Passanten nicht folgen kann. Die Anonymität, der Fremde, wird zum Sujet einer Erzählung, der Flaneur betritt die Literaturwelt.

In Paris ist Charles Baudelaire begeistert von Edgar Allan Poe, übersetzt dessen Werk und hilft dem Flaneur auf die Sprünge – infolgedessen ist vorerst Paris die Stadt dieser Spezies. Denn hier, in der neuen Weltstadt mit den breiten Boulevards, den Trottoirs, der unterirdischen Kanalisation, den Laternen und Flaniermeilen, den Straßencafés, den Auslagen der Geschäfte in den überdachten Passagen, hat die moderne Stadt die alte Stadt abgelöst, die mit ihren dunklen Winkeln, den holprigen, stinkenden und schmutzigen Wegen für das Flanieren wenig attraktiv war. In den Blumen des Bösen folgt Baudelaire dem Großstadtmenschen, der sich in der Anonymität ausleben kann. Waren die einst verwinkelten Gassen der Ort der Ganoven und Dirnen, wird nun der öffentliche Raum für jeden zugänglich. Auch die Damen beginnen, allein die Wohnungen zu verlassen, die Eleganz und das Flirten halten Einzug in die Welt der Flaneure. In seinem Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat Marcel Proust diesen Figuren des Fin de Siècle ein Denkmal gesetzt mit den Figuren des Monsieur Swann, des Barons Charlus, der Kokotten und der Damen von Welt.

Ein Gesicht bekommen sie in den impressionistischen Gemälden von Gustave Caillebotte oder Jean Bèraud, diese eleganten Herren mit ihren Hüten, welche zum Gruß gezogen werden, den Stöckchen, mehr Zier denn Gehhilfe, schauen sie leicht gelangweilt vom Balkon, ehe sie in die wogende, zusammengewürfelte Menge eintauchen, während ein Oscar Wilde als junger Dandy in hippiehafter Attitüde mit einer Sonnenblume in der Hand am Piccadilly Circus flaniert. Walter Benjamin war es, der den Flaneur Anfang des 20. Jahrhunderts nach Deutschland transportierte. Wie geschaffen ist Berlin mit den breiten Alleen wie Unter den Linden und Kurfürstendamm für die hiesige Welt der Flaneure, die Benjamin in seinem Passagen-Werk beschreibt.

Was ist davon geblieben? Es scheint, als sei in Zeiten von Corona das Flanieren wieder en vogue. Zwar kommen die heutigen Flaneure nicht mehr so elegant daher, kein Stöckchen, kein Hut, aber die Jogginghose scheint unangemessen, eine gewisse Sorgfalt ist wieder zu finden. Man will sehen und gesehen werden, und so findet es bisweilen statt, dieses Umherschlendern, das Bummeln ohne Ziel, denn auch im Lockdown sucht der Mensch Gesellschaft. Und dann gibt es noch die virtuelle Welt. Hier kann man flanieren, stöbern, in sozialen Netzwerken die flüchtige Bekanntschaft suchen und das bei Tag und Nacht, weltweit. Die Anonymität bleibt gewahrt, denn der Avatar des Nutzers oder sein Fake-Profil spielen nun den modernen Flaneur und Voyeur. Und die Zeit? Sie löst sich auf im Internet, der Flaniermeile der Zukunft. Die Eleganz allerdings bleibt auf der Strecke. 

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