Jesus als Streiter

Über den Charakter der sogenannten Streitgespräche Jesu
„Die Reinigung des Tempels“, Kupferstich von Matthäus dem Älteren aus der Merian-Werkstatt, 1625/27.
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„Die Reinigung des Tempels“, Kupferstich von Matthäus dem Älteren aus der Merian-Werkstatt, 1625/27.

Das Neue Testament scheint Streit generell zu verurteilen. Und doch geht Jesus aus vielen Konfliktgesprächen als Sieger hervor. Mit der Aufforderung, die Feinde zu lieben, überträgt die Jesustradition die Ethik der Mächtigen auf eine Nicht-Elite und öffnet zugleich eine Tür, die Ab- und Ausgrenzungen überwinden kann, meint die Marburger Professorin für Neues Testament, Angela Standhartinger.

Die Antike kannte den Streit als Göttin Eris. Bereits im 6. Jahrhundert vor Christus möchte der Dichter Hesiod sogar zwei Göttinnen unterscheiden. Eine verachtenswerte, die Neid, Feindschaft und Krieg hervorruft, und eine lobenswerte, die das bäuerliche Leben bewegt, indem sie Bäuerin und Bauer mit dem Blick auf den Reichtum der Nachbar:innen zur Arbeit anspornt (Hesiod, Werke und Tage 11 – 26). Die letztere Göttin Eris kann die Mutter des homo oeconomicus genannt werden. Allerdings klärt Hesiod die Frage nicht, wie man nur eine der Göttinnen einladen, die andere aber abwehren könnte.

Das Neue Testament, so scheint es zunächst, kann dem Streit überhaupt nichts Gutes abgewinnen. Nach Matthäus erfüllt sich in Jesu Wirken die Verheißung aus Jesaja 42,2, dass er: „weder streiten noch schreien wird“ (Matthäus 12,19). Das „nicht streiten“ fügt Matthäus über den Prophetentext über den Gottesknecht hinaus hinzu. Bei Paulus erscheint eris „Streit“ regelmäßig in Lasterkatalogen neben „Zorn“, „Eifersucht“ und „Korruption“ (Galater 5,20; 2Korinther 12,20 und öfter). Streit gehört in die alte Welt der „Werke des Fleisches“ und nicht zum neuen Leben, zu „den Früchten des Geistes“ (Galater 5,19–23). Der Jakobusbrief stellt die Welt von Eifersucht, Ehrgeiz, Lüge und Streit der Welt Gottes ganz grundsätzlich gegenüber (Jakobus 3,16–4,7) und die Pastoralbriefe forderten den idealen Gemeindeleiter auf: „Die törichten und ungezogenen Fragen weise zurück; denn du weißt, dass sie nur Streit erzeugen. Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streitsüchtig sein, sondern freundlich gegen jedermann, im Lehren geschickt, einer, der Böses ertragen kann und mit Sanftmut die Widerspenstigen zurechtweist“ (2Timotheus 2,23–25, Lutherübersetzung 2017). Streit anzetteln ist für diese Briefe allein das Werk der Anderen (1Timotheus 6,3–5; Titus 3,9).

Allerdings muss die grundsätzliche Friedfertigkeit bei den Autor:innen dieser Briefe, die ihre Gegner:innen als „Krebsgeschwür“ oder „Schwätzer“ charakterisieren und als solche, die „mit dem Glauben Schiffbruch erlitten haben“, wohl bezweifelt werden (1Timotheus 1,19; 2Timotheus 2,17; Titus 1,10–12). Auch der Jakobusbrief fordert auf: „Widersteht dem Teufel“ (Jakobus 4,7, vergleiche auch 1Petrus 5,8f.). Gibt es also auch Fragen, bei denen man widerstehen und streiten muss?

In den Evangelien ist Jesus durchaus ein streitbarer Charakter. Galiläischen Städten, die seine Botschaft nicht angenommen haben, wirft er ein „Wehe euch“ entgegen (Lukas 10,13–15/Matthäus 11,21–24). Ebenso klagt er Pharisäer an, sie achteten nicht auf das Wichtigste unter Gottes Geboten, nämlich „Barmherzigkeit und Treue“ (Lukas 11,42/Matthäus 23,23 vergleiche Hosea 6,6). Ja, er und seine Jünger:innen provozieren mit ihren Handlungen, ihrer Botschaft und ihrem Erfolg Konflikte mit Schriftgelehrten, Pharisäern, Sadduzäern und den vom Klientelkönig Herodes geförderten Oligarchen (Markus 2,1–3,6; 7,1–23; 11,27–12,34 und Parallelen). Diese Gespräche nennt das Markusevangelium ein syzetein „sich besprechen, disputieren, streiten“ (Markus 8,11; 9,14.16; 12,28). Die Forschung benennt sie „Streitgespräche“. Allerdings, so ist man sich weitgehend einig, handelt es sich nicht um Protokolle von Jesu Diskussionen, sondern um nach Ostern formulierte kleine Erzählungen.

Der antike Philosoph Aristoteles unterscheidet in seiner Schrift „Sophistische Widerlegungen“ vier Untergattungen des philosophischen Streitgesprächs. Das Lehrgespräch (didaktikos) stellt die obersten Grundsätze der Lehre vor, ohne auf das zu achten, was dem Gegenüber glaubwürdig ist, denn Lernende haben den Lehrenden zu vertrauen. Das dialogisch-argumentative Klärungsgespräch (dialektikos) startet bei den gemeinsam geteilten Meinungen und sucht eine sachbezogene Problemlösung. Das erprobende oder Kontroversgespräch (peirastikos) stellt das Wissen des Gegenübers auf die Probe, um ihn des Unwissens zu überführen, und im Streitgespräch (genos eristikos) geht es darum, mit Scheinargumenten Recht zu behalten (De sophisticis elenchis 2.3, 165a–b).

Schon ein oberflächlicher Vergleich zeigt, dass der Jesus der Evangelien keine Scheinargumente aus Rechthaberei im Mund führt, also auch keine „Streitgespräche“ nach der Definition des Aristoteles austrägt. Die Lehr- oder Schulgespräche mit Jünger:innen bringen ebenso keine systematische Entfaltung der Grundsätze der Lehre vor, sondern setzen sie voraus. Nur selten sucht der Jesus der Evangelien im freien Meinungsaustausch der dialogisch-argumentativen Gespräche eine sachbezogene Problemlösung. Die Ausnahme ist die Diskussion der „Frage nach dem höchsten Gebot“ mit einem Schriftgelehrten in Markus 12,38–44, in der beide Seiten eine Zusammenfassung der Gebote als Gottes- und Nächstenliebegebot formulieren und einen Konsens feststellen.

Vom Kleinen auf das Größere

Der Jesus der Evangelien führt vor allem Kontroversgespräche, die das Wissen der Gegner:innen auf die Probe stellen, um sie des Unwissens zu überführen. Ein eindrückliches Beispiel ist die Kontroverse über das Ährenraufen am Schabbat in Matthäus 12,–8. Menschen aus der pharisäischen Schule beobachten, wie Jesu hungrige Jünger:innen am Schabbat durch ein Kornfeld laufen und Ähren pflücken und essen. Sie beschweren sich über einen vermeintlichen Bruch der Schabbatregeln, doch Jesus demonstriert ihnen, dass sie ihr Bibelstudium noch nicht vollendet haben. Sie hätten erstens von David in Nob beim Priester Ahimelch lesen müssen, der David bei seiner Flucht vor Saul die Schaubrote aus dem Tempel essen ließ (1Samuel 21,1–7). Zweitens hätten sie in Numeri 28,9–10 lesen müssen, dass die Opfer auch am Schabbat im Tempel dargebracht werden. Mit Jesus aber, so die These, die als ein qual-wa-homer oder ‚Schluss vom Kleineren auf das Größere‘ eingeführt wird, steht jemand vor ihnen, der größer ist als der Tempel. Und schließlich hätten sie die Forderung des Propheten Hosea „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Hosea 6,6) verstehen und erkennen müssen, dass sie „Unschuldige verurteilen“.

Jesus ist der bessere Schriftgelehrte, so der Beweisgang dieses Kontroversgespräches. Zielgruppe dieses Beweisgangs sind allerdings nicht die pharisäischen Gesprächspartner, sondern diejenigen, die sich längst Jesus als dem Menschensohn angeschlossen haben, also die Leser:innen des Evangeliums.

„Auf die Probe stellen“, griechisch peirazein, ist in den Evangelien die Rolle der Anderen: Schriftgelehrte, Menschen aus der Gruppe der Pharisäer und Herodianer „erproben Jesus“, indem sie ein Zeichen vom Himmel fordern (Markus 8,11–13 und Parallelen) und indem sie fragen, ob man dem Kaiser Steuern zahlen dürfe (Markus 12,13–17 und Parallelen). In der römischen Provinz des ersten Jahrhunderts haben solche Fragen politische Sprengkraft. Himmelszeichen beweisen das Eingreifen der Götter und können Aufstände herbeiführen. Die Verweigerung von Steuern wurde seit dem Jahr 4 vor Christus in Galiläa und Judäa mehrfach als Protestmittel gegen römische Herrschaft verwendet und führte zu blutigen Gegenmaßnahmen. Auch in diesen Fragen erweist sich Jesus gegenüber den Fragestellenden als überlegen. Sein Verweis auf die kaiserliche Münze und seine Antwort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ gibt die Entscheidung zur Steuerfrage an die Fragenden zurück. Die sogenannten Streitgespräche oder besser Kontroversgespräche Jesu sind also vor allem Apologien. Wer Jesus nicht als Gottessohn und unschuldig Verurteilten erkennt, hat weder gut gelesen noch ihn richtig verstanden. Zu Unrecht wurde Jesus als Aufrührer von den Römern gekreuzigt.

Aber hat der historische Jesus nicht gesagt: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Auge gegen Auge, Zahn gegen Zahn.‘ Ich aber sage euch, ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen!“ (Matthäus 5,38f)? Die Formulierung als sogenannte „Antithese“, oder besser als Kommentarwort, überliefert lediglich das Matthäusevangelium. Ob sie also direkt auf Jesus zurückgeht, muss offenbleiben. Aber die Weiterführung, die dazu auffordert, denjenigen, die einen auf die Wange schlagen, auch die andere hinzuhalten, und denen, die den Mantel fordern, auch noch das Untergewand zu lassen, hat auch das Lukasevangelium (Matthäus 5,39–40/Lukas 6,29–30). Und das Matthäusevangelium fügt als drittes Beispiel die Aufforderung hinzu, denjenigen, die einen Frondienst fordern, also den Abgesandten der römischen Besatzungsmacht, das Gepäck eine Meile weit zu tragen, gleich noch eine zweite Meile anzubieten (Matthäus 5,41).

In dieser Reihe bleiben die Geschlagenen, die um das Nötigste Beraubten, vermutlich überschuldete Menschen, die verpfändet werden, und römische Untertanen nicht passiv und wehrlos. Das Hinhalten der anderen Wange, das Aushändigen des letzten Gewands und die Überbietung mit der zweiten Meile kann die Gegner:innen verblüffen. Die Forschung nennt es „provokative Wehrlosigkeit“.

Der Spitzensatz „Liebet eure Feinde“ geht im Lukasevangelium diesen Aufforderungen voran. Im Matthäusevangelium folgt es im nächsten Kommentarwort (Lukas 6,27/Matthäus 5,44). Die Feindesliebe gilt vielen als Kern der Ethik Jesu. Und tatsächlich ist bisher keine wörtliche Parallele zur Aufforderung „Liebet eure Feinde“ entdeckt worden. Aber inhaltlich sind die Parallelen durchaus zahlreich, sowohl in der übrigen jüdischen Ethik (vergleiche Sprüche 24,29; 25,21) als auch in der griechisch-römischen Philosophie. So fordert der zeitgenössisch schreibende stoische Philosoph Seneca: „Wenn du die Götter nachahmst, heißt es, dann erweise auch undankbaren Menschen Wohltaten; denn auch Verbrechern geht die Sonne auf, auch Seeräubern stehen die Meere offen“ (Seneca, Über die Wohltaten, IV.26.1; Übersetzung Manfred Rosenbach). Ganz ähnlich fährt Jesus im Matthäusevangelium fort: „Ich aber sage euch: ‚Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte‘“ (Matthäus 5,4–45). Mit der Feindesliebe, da stimmen Matthäus und Seneca überein, hebt man sich von dem gewöhnlichen Menschen ab. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36) und „Werdet vollkommen, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Matthäus 5,48) sind für Seneca Herrscherethik. Und genau das ist der entscheidende Unterschied: Für Seneca unterscheidet den guten vom schlechten Herrscher die Fähigkeit, Schmähungen ohne Gegenwehr zu ertragen (Seneca, Über den Zorn III.23.1). Die Herrschenden müssen Milde üben, das heißt „Mäßigung in der Macht zu strafen oder Zurückhaltung des Hochstehenden gegenüber dem Untergebenen, wenn Strafen festzusetzen sind“ (Seneca, Über die Milde II.3,1, Übersetzung Rosenbach). Im Evangelium sind dagegen die Untergebenen, die Überschuldeten, die besitzlosen Wandermissionar:innen und die Sklav:innen angesprochen. Und es ist ein Unterschied, wer sagt: „Was gibt es, weswegen ich meines Sklaven allzu deutliche Antwort oder zu trotzige Miene und sein nicht bis zu mir dringendes Murren mit Geißelhieben und Fußeisen sühne? … Es haben verziehen viele ihren Feinden: Ich sollte nicht verzeihen Faulen, Nachlässigen und Geschwätzigen“ (Seneca, Über den Zorn III.24.1, Übersetzung: Rosenbach). Die Aufforderung zur Feindesliebe stellt die Frage, wer dazu eigentlich die Macht und die Fähigkeit hat und was damit bewirkt werden kann.

Im Matthäusevangelium geht es jedenfalls um mehr als den persönlichen Feind. Es geht um diejenigen, die die Gemeinde verfolgen (Matthäus 5,44). Paulus formuliert den Gedanken: „Segnet, die euch verfolgen“ (Römer 12,14). Und Verfolgung bedeutet für die ersten Gemeinden ganz konkret das gewaltsame Zerreißen von Familien, Folter und Verrat vor Statthaltern und Stadträten (Matthäus 10,17–23/Lukas 12,1–12; Markus 13,9–13 und Parallelen).

Warum aber soll man Feinde in diesen existentiell bedrohlichen Konflikten lieben? Weil, so scheint es zumindest das Matthäusevangelium zu sehen, darin eine Chance liegt, die Gewalt abzuwehren, indem man sogar die Feinde für die eigene Sache gewinnt. Feindesliebe ist, wie gezeigt, eine Eliteethik. Es ist die Strategie der Überlegenen, sich bei den Unterlegenen beliebt zu machen. Die Jesusbewegung besteht jedoch nicht aus Menschen, die diesen Eliten angehören. Dennoch möchte sich die Gemeinde im Matthäusevangelium mit der Liebe ihrer Feinde abheben von den Zöllner:innen, Sündern und Menschen aus den Völkern. Die Feindesliebe überträgt den Rat an die Herrschenden auf die ‚gewöhnlichen‘ Menschen.

Mit dieser Übertragung auf Menschen, die es sich nicht aussuchen können, ob sie Feinde lieben oder hinrichten wollen, sondern die sogar noch verfolgt und bekämpft werden, öffnet die Feindesliebe eine Tür. Die Tür nämlich zur Überwindung von Ab- und Ausgrenzung. Mit konsequenter Feindesliebe kann sich die eigene Gruppenidentität nicht als statische Wahrheitsbehauptung gegenüber allen anderen Wahrheiten abgrenzen. Sie kann nicht wollen, dass Feinde ewig Feinde bleiben. Die Feindesliebe zielt darauf, die Feinde von der eigenen Sache zu überzeugen und zu gewinnen. Sie zielt, wie es Paulus formuliert, auf das Überwinden „des Bösen durch das Gute“ (Römer 12,21). 

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