Glauben auf Eis

Über die Gotteshäuser der Antarktis und mutige Menschen am Rand der Welt
Polarmeer
Foto: Edgar S. Hasse

Folgt man einem Seefahrerspruch, dann gibt es jenseits des vierzigsten Breitengrades kein Gesetz und jenseits des fünfzigsten keinen Gott. Doch stimmt das wirklich? Es waren unter den großen Polarforschern etliche Männer, die bei ihren Expeditionen beteten und in der Bibel lasen. Außerdem stehen in rund zehn der heute achtzig Antarktis-Forschungsstationen kleine christliche Kapellen. Eine Spurensuche im (fast) ewigen Eis vom Theologen, Journalisten und Kreuzfahrtseelsorger Edgar S. Hasse.

Am anderen Ende der Welt schwimmen Eisberge auf dem Südpolarmeer, die so hoch wie Kathedralen sind. Buckelwale und Pinguine tummeln sich im Wasser. Auf Südgeorgien, einer subantarktischen Insel, stehen tausende Königspinguine im Gletscherfluss, mausern und sonnen sich. Aber die Antarktis zeigt nicht weit von diesem Naturparadies auch eine ganze andere Seite: Es ist ihr hässlichstes, von Menschen entstelltes Gesicht.

Die Walfängerkirche in Grytviken.
Foto: Edgar S. Hasse

Die Walfängerkirche in Grytviken.

Wir sind in Grytviken, einer alten norwegischen Walfangstation auf Südgeorgien. Wer heute in der King-Edward-Bucht anlandet und die Geistersiedlung betritt, steht auf Blut getränktem Boden. Dem hiesigen Massenschlachten fielen in rund sechzig Jahren 54 100 Wale zum Opfer. Rostige Harpunen und Trankocher, Tanks und Schiffswracks, marode Hallen und Maschinenhäuser künden bis heute vom blutigen Handwerk der norwegischen Walfänger auf einer Station, die bis 1965 in Betrieb war und den britischen Schiffsarzt R. B. Robertson entsetzt sagen ließ, Südgeorgien sei die „schäbigste, ungesündeste Siedlung von Weißen auf der ganzen Welt“, getrieben von purer Profitgier.

Am Rande dieser verlassenen Siedlung ragt in hellem Weiß und mit spitzem Turm eine lutherische Kirche in den Himmel. Es scheint, als wollte sie sich ab- und emporheben vom Hauen und Stechen der hart gesottenen Walfänger und sie nach ihrem mörderischen Tun einladen, damit sie ihre Seelen im Schutz des Gotteshauses erquicken können. Manchmal erklingt ihre Glocke, wenn Forscher, Abenteurer und Expeditionskreuzfahrer in der renovierten norwegischen Holzkirche Gottesdienst auf der britischen Insel feiern, bevor sie sich weiter ihren Weg durch die eisigen Welten bahnen.

Kapellen aus Eis

Folgt man einem Seefahrerspruch, dann gibt es jenseits des vierzigsten Breitengrades kein Gesetz, und jenseits des fünfzigsten keinen Gott. Dabei waren unter den großen Polarforschern etliche Männer, die bei ihren Expeditionen beteten und in der Bibel lasen. Außerdem stehen in rund zehn der heute achtzig Antarktis-Forschungsstationen kleine christliche Kapellen, teils aus Schnee, teils aus Holz oder Metall. Dazu gehören die orthodoxe Lärchenholzkirche mit dem 15 Meter hohen Zwiebelturm in der russischen Bellingshausen-Station (King George Island) genauso wie die Franziskus-Kapelle in der argentinischen Esperanza-Station.

Die Heiliger-Franziskus-Kapelle auf der argentinischen Basis Esperanza.
Foto: Edgar S. Hasse

Die Heiliger-Franziskus-Kapelle auf der argentinischen Basis Esperanza.

 

Und es gibt eben, als Zeuge vergangener Zeiten, jene 1903 geweihte Whalers Church in Grytviken, deren Tür ich gerade öffne, um den Kirchenraum allein zu erleben. Als Teil des Scout-Teams eines Expeditionskreuzfahrtschiffes hatten wir zuvor die Möglichkeit einer Anlandung für die Passagiere erkundet. Doch die herabfallenden, katabatischen Winde machen die Überfahrt mit den hochseetauglichen Schlauchbooten zu riskant. Die Andacht in der Kirche und der Besuch des Friedhofs fallen deshalb aus. Während meine Kollegen die Rückfahrt mit den Schlauchbooten antreten, gehe ich in die Bibliothek. Sie liegt neben dem Altarraum und umfasst norwegische Unterhaltungsliteratur, gestiftet wie die Kirche von Stationseigner und Kapitän Carl Anton Larsen (1860 – 1924). Mich überrascht, dass viele Bücher kaum Gebrauchsspuren zeigen. Offenbar stand den Männern nicht so sehr der Sinn nach Lektüre. Sie gingen lieber ins Kino, zu dem die Kirche in den Anfangsjahren umfunktioniert wurde, bis es dafür ein eigenes Gebäude gab. Oder spielten Fußball. Ein norwegischer Pfarrer musste jedenfalls damals feststellen, dass das christliche Leben „in Grytviken leider nicht unbedingt stark pulsiert“.
Zahlreiche Trauerfeiern fanden in dieser Kirche statt. Auch für den Polarforscher Sir Ernest Shackleton (1874 – 1922), Sohn einer Quäker-Familie. Er starb den Herztod und hatte einige Jahre vorher seine Männer unter Einsatz seines Lebens von Elephant Island gerettet. Als das Schiff, die „Endurance“, vor dem ursprünglichen Plan, die Antarktis zu Fuß zu durchqueren, vom Eis zermalmt wurde und 1915 sank, konnte jeder nur wenige Habseligkeiten bergen. Shackleton entfernte von seiner Bibel das Deckblatt, zudem eine Seite aus dem Buch Hiob. Darauf stand: „Aus wessen Schoß geht das Eis hervor, und wer hat den Reif unter den Himmel gezeugt, dass Wasser sich zusammenzieht wie Stein und der Wasserspiegel gefriert?“ (Hiob 38,29).

Nach Monaten auf einer Eisscholle erreichten alle 28 Mann Elephant Island, endlich festen Boden unter den Füßen. Shackleton nahm zwei seiner Leute mit, segelte von dort achthundert Seemeilen weit durch das sturmgepeitschte Polarmeer nach Südgeorgien, um Hilfe zu holen. Auf der rückwärtigen Seite der Insel angekommen, mussten sie sich durch das Gebirge kämpfen. Shackleton notierte später: „Während jenes langen 36-stündigen Marsches über die namenlosen Berge und Gletscher von South Georgia hatte ich oft das Gefühl gehabt, wir seien zu viert, nicht zu dritt. Ein Bericht über unsere Irrfahrten wäre unvollständig ohne die Erwähnung dieses Unbegreifbaren, das uns im Innersten berührte.“ Im August 1916 konnten alle 22 Männer gerettet und nach Europa gebracht werden. Sir Ernst Shackleton, den sie „The Boss“ nannten, gilt vielen bis heute als Vorbild moderner Führungskunst. Jetzt stehe ich an seinem Grab, ein heller, schmaler Grabstein, nicht weit von der Walfängerkirche gelegen. Kaum zwanzig Meter entfernt schlummern tonnenschwere See-Elefanten, dahinter balgen sich Pelzrobben. Zu Shackletons Trauer-
feier 1922 in der Whalers Church waren nur wenige Menschen gekommen. So ist das eben am anderen Ende der Welt, wenn die wirklich Großen heimkehren.

Während die Walfängerkirche auf Südgeorgien eher selten aufgesucht wird, stehen Kirche und Glockenturm an der Hope Bay mitten in einem lebendigen Dorf. Auf der nördlichen Antarktischen Halbinsel ragt weithin ein Kreuz als Zeichen der Hoffnung in den Himmel. Wir sind auf der argentinischen Forschungsstation Esperanza. Hier leben ständig Forscher und Militärs mit ihren Familien, die auf das Kreuz schauen und eine Kapelle besuchen können. Der Name Hope Bay geht auf die Expedition des schwedischen Polarforschers Otto Nordenskjöld (1869 – 1928) zurück. Auch deren Schiff, die „Antarctic“, war vom Eis zermalmt worden, im Februar 1903. Ein kleiner Teil der Mannschaft rettete sich in das Vorratslager, das sich genau hier befand. Reste der Steinhütte sind erhalten und lassen nur erahnen, welche Verzweiflung, aber auch Hoffnung die dramatischen Monate der Polarnächte prägten.

Nicht weit davon entfernt steht, umgeben von Geröll, die San Francisco de Assisi-Kapelle. Sie wurde aus einem Container gebaut, 1976 geweiht und nach dem Heiligen Franz von Assisi benannt. Selbstverständlich hängt in der Kapelle ein Foto von Franziskus, dem argentinischen Papst. „Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst“, heißt es im „Sonnengesang“ des Franziskaner-Gründers.

Als ich die Hope Bay besuche, wölbt sich blauer Himmel über spiegelglatte See. Wo sonst Nordoststürme von zweihundert Stundenkilometern über Meer und Kontinent peitschen, arbeiten im polaren Sommer bis zu hundert Menschen. Einige von ihnen haben ihre Kinder mitgebracht, für die es eine eigene Schule gibt.

Wie ein Stationsmitarbeiter berichtet, wurde hier 1978 das erste Baby getauft, das je auf dem antarktischen Kontinent das Licht der Welt erblickte. Dass Emilio Palma in dieser Siedlung mit den markanten roten Hüttendächern geboren wurde, sei auf Wunsch der argentinischen Regierung geschehen. Sie wollte ein Zeichen ihrer Besitzansprüche auf dieses Territorium setzen und hatte Militärangehörige zur „Esperanza“-Station entsandt. Während Emilios Vater die Garnison leitete, wurde seine Frau im siebten Schwangerschaftsmonat mit guter Hoffnung zur Hope Bay geflogen. Inzwischen sind auf „Esperanza“ rund zehn Kinder geboren worden.

Wer mit dem Schiff von Südamerika ins ewige Eis Richtung Südpol fährt, wagt sich in die gefährlichsten Meere der Welt. Von Seekrankheit geplagt, sorgt ein Zwischenstopp auf den (britischen) Falklandinseln für temporäre Linderung. An der Ross Road der Inselhauptstadt Stanley lädt die südlichste Kathedrale der Welt zum Verweilen ein, die 1892 gebaute Christchurch Cathedral. Vor dem Sakralbau blühen Ginster und Lupinen, daneben steht ein Monument aus Walknochen, es sind die Unterkiefer zweier Blauwale.

Blinddarm unerwünscht

Der krönende Abschluss einer Antarktis-Expedition ist für mich jedes Mal, wenn es das Wetter zulässt, der Aufstieg zu Kap Hoorn, tief im Süden Südamerikas. Dort steht neben dem Leuchtturm die chilenische Kapelle „Stella Maris“, ein Bau aus rohen Holzstämmen. Sie liegt auf einer Höhe von 424 Metern und wird von einer chilenischen Offiziersfamilie mitbetreut, die ständig auf dem Kap stationiert ist, um Wetterdaten und Schiffsbewegungen aufzuzeichnen.

Wer in dieser menschenverlassenen Region lebt, darf keinen Blinddarm mehr haben. Stürme von mehr als 250 Stundenkilometern gehören zum Alltag, und auf dem Meeresgrund liegen die Wracks von mehr als achthundert Schiffen. Rund zehntausend Seefahrer fanden in den Fluten den Tod. An sie – und die Dimension der Ewigkeit – erinnert ein Denkmal in der Nähe der Kapelle. Es zeigt einen Albatros und trägt diese Verse: „Ich bin der Albatros, der am Ende der Welt auf dich wartet. Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute, die zum Kap Hoorn segelten, von allen Meeren der Erde. Aber sie sind nicht gestorben im Toben der Wellen, denn jetzt fliegen sie auf meinen Schwingen für alle Zeit in die Ewigkeit, wo am tiefsten Abgrund der antarktische Sturm heult.“

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