Die Rückkehr der Seele

Warum der Seelsorge-Therapie-Dialog dringend neue Impulse benötigt
Eine Auszeit im Kloster, wie hier in Wennigsen bei Hannover, wird für immer mehr Menschen Teil ihrer Spiritualität.
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Eine Auszeit im Kloster, wie hier in Wennigsen bei Hannover, wird für immer mehr Menschen Teil ihrer Spiritualität.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Bedürfnisse der Seele eine zentrale Säule im Verständnis des Menschen. Durch die rasanten wissenschaftlichen und technischen Neuerungen fand dann eine Blickverengung statt, die heute viele als „Seelenverlust“ bemängeln. Doch Michael Utsch, Theologe und praktizierender Psychotherapeut, sieht Anzeichen für eine Renaissance der Seele auch in der Psychotherapie.

Ganzheitliche Gesundheit versteht die Person als eine Körper-Seele-Geist-Einheit – „an Leib und Seele gesund“. Begriffsgeschichtlich hängen Seelenheil und die seelische Heilung eng zusammen. Das englische „whole“ (= ganz sein) und „holy“ (= heilig) bringen die Verbindung zwischen körperlicher Heilung und Seelenheil schon rein sprachlich eindrücklich zum Vorschein. Früher wurden diese Aspekte durch ein umfassendes Weltverständnis verknüpft. Heilung hing mit Heiligung zusammen, also mit der richtigen Lebensführung. Naturreligionen legen bis heute Zeugnis von dem Zusammenhang zwischen dem persönlichen Wohlbefinden und der Verehrung einer höheren Macht ab. In Anknüpfung an dieses Verständnis ist etwa im Schamanismus bei einer körperlichen Heilung das Seelenheil eingeschlossen.

Glaube und Heilung, Spiritualität und Psychotherapie waren bis ins 17. Jahrhundert untrennbar miteinander verknüpft. Im Altertum waren die Heiler Angehörige der Priesterklasse, und auch im Mittelalter wurde der Arztberuf von der Geistlichkeit ausgeübt. Religiöse Übungen und Rituale wie Opfer und Anbetung wurden gezielt zu physischen und psychischen Heilzwecken eingesetzt.

Damit übernahm die Religion eine lebenspraktische Aufgabe, die ihre ursprüngliche Bestimmung, das Tor zum ewigen Seelenheil zu öffnen, durch zum Teil spektakuläre Heilerfolge konkret erfahrbar machte. Verfolgt man den Begriff Therapie auf seine älteste bezeugte Bedeutung zurück, tritt sein religiöser Kern deutlich hervor: Das Griechische „therapeuein“ schließt neben besorgen, warten, pflegen, ärztlich behandeln auch ein: heilen, die Seele (wieder-)herstellen, die Götter verehren oder einer Gottheit dienen. Damit ist auch die spirituelle Dimension bereits im Begriff Therapie angelegt.

Mit der Aufklärung, der umgreifenden Technisierung des Alltags und den professionellen Spezialisierungen brachen das religiöse Heil und die säkulare Heilung auseinander. Therapie und Theologie wurden zu Rivalinnen. Infolge einer zunehmenden wissenschaftlichen Welterklärung wurde Heilsein nicht mehr als ein ganzheitliches Erleben aufgefasst, sondern auf das rein materiell Messbare reduziert. Die verborgene und deshalb empirisch nicht fassbare Seele geriet aus dem Blick.

Das streng naturwissenschaftliche Forschungsideal objektiver Erkenntnis widerspricht einer ganzheitlichen Betrachtung, die den Menschen als Körper-Seele-Geist-Einheit zu verstehen sucht. Die stürmische Entwicklung der Psychopharmakologie und der bildgebenden Verfahren haben die seelischen Bedürfnisse weiter in den Hintergrund gedrängt. Erschwerend tritt hinzu, dass Religionen in der Psychiatrie oft in krankmachender Form auftreten, verzerrt durch wahnhaftes Denken oder eine angstmachende fundamentalistische Erziehung und radikalisierende fanatische Kleingruppen.

Heilsame Kraft

Erst durch die Hospizbewegung und die Palliativmedizin werden seit einigen Jahren die spirituellen Bedürfnisse als ein wesentlicher Bestandteil des Wohlbefindens wieder genauer erforscht und therapeutisch einbezogen. Während in den vergangenen Jahrzehnten Seelsorgende viel von der Psychotherapie gelernt haben, fragen heute Ärztinnen und Therapeuten nach der heilsamen Kraft seelsorglicher Rituale und Praxis.

Trotz beeindruckender wissenschaftlicher und technischer Errungenschaften besteht nämlich eine große Unkenntnis darüber, wie die Bedürfnisse und Sehnsüchte der eigenen Seele gestillt werden können. Wichtige existentielle Entscheidungen, ethisch-moralische Konflikte sowie Sinn- und Wertefragen lassen sich nicht rational-wissenschaftlich lösen, sondern nur „gläubig“ beantworten. Erstaunlicherweise finden sich in der Kirchengeschichte bereits zahlreiche Programme zur Seelenführung und zur Umgestaltung des inneren Menschen. In Krankenhäusern ist es eine gute Tradition, in akuten Krisen pastorale Dienste der Seelsorge zur Hilfe zu rufen, vor allem durch die gut bewährte Krankenseelsorge. In Folge ärztlicher „Spiritual Care“ wird heute die spirituelle Begleitung immer mehr zum Teil der professionellen Gesundheitsversorgung. In der Gesundheitspolitik verlagert sich die Aufgabe der spirituellen Begleitung von einem kirchlich-pastoralen Angebot in das medizinisch-professionelle Arbeitsfeld, was die kirchliche Seelsorge schwächt.

Während in Deutschland über die Abgrenzung zwischen pastoraler und spiritueller Begleitung gestritten wird und „Spiritual Care“ für manche zum evolutionären Ersatz für die Seelsorge geworden ist, wird in anderen Ländern integrativer vorgegangen. Das renommierte American Journal of Pastoral Counseling wurde vor einigen Jahren umbenannt in The Journal of Spirituality in Mental Health, um die Zielrichtung zu erweitern, nämlich Spiritualität als eine Ressource in Seelsorge, Beratung und Psychotherapie besser zu verstehen und zu nutzen. Der erloschene Seelsorge-Therapie-Dialog benötigt dringend neue Impulse, weil beide Seiten viel voneinander lernen können und sie gemeinsam viel besser zum Wohl des Menschen beitragen können als getrennt.

Bis heute sind jedoch bei manchen Psychiatern und Psychotherapeuten antireligiöse und spiritualitätskritische Affekte festzustellen, weil sie eine „größere Wirklichkeit“ als kindliche Wunschvorstellung ablehnen, manchmal sogar als eine persönliche Kränkung empfinden. Das war vor hundert Jahren anders, als die Religionspsychologie in der Entwicklung psychotherapeutischer Modelle und Methoden große Aufmerksamkeit erhielt. Historisch ist es bemerkenswert, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Spiritualität und Religion ein Modethema der neuen Wissenschaft Psychologie waren. Gründungsväter der empirischen Psychologie waren aber vor allem deshalb an der Religiosität interessiert, weil sie Menschen von ihrem christlichen Glauben überzeugen wollten. Das Prinzip der methodischen Distanz wurde erst später strikt angewendet und die psychologische Religionsforschung geriet aus dem Blick. Erst durch den Esoterik-Boom, der seit den 1990er-Jahren die alternative Gesundheitskultur stark prägt, und die Hospizbewegung und die Palliativmedizin erfährt die spirituelle Dimension wieder mehr Aufmerksamkeit.

Heute wird das Konzept Spiritualität weltweit als wichtiger Faktor für gesundheitliches Wohlbefinden angesehen und dient als anthropologische Kategorie, um die existenzielle Lebenshaltung insbesondere in Grenzsituationen zu beschreiben. Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist jeder Mensch spirituell, weil er sich spätestens angesichts des Todes existenziellen Fragen stellen muss. Die WHO möchte die seelische Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität fördern und schützen.

Doch auch durch Menschen mit Migrationshintergrund ist die Bedeutung religiöser Zugehörigkeit auch in säkularen Gesellschaften erheblich gestiegen und das Thema psychotherapeutisch relevanter geworden. Psychologische Effekte religiöser Glaubensüberzeugungen wie Vertrauen, Hoffnung, Sinngebung oder Vergebungsbereitschaft scheinen sich auf die seelische Gesundheit wohltuend auszuwirken.

In dem neuen therapeutischen Ansatz der „Tugendpsychotherapie“ werden psychotherapeutische Interventionen zusammengefasst, welche die Förderung menschlicher Tugenden wie Mitgefühl, Vergebung und Dankbarkeit zum Ziel haben und früher in den Religionen kultiviert und vermittelt wurden. Dadurch soll die Seele wieder neuen Schwung erhalten. Manche betrachten spirituelle Gesundheit sogar als einen zentralen Bereich, der neben der psychischen, sozialen und biologischen Dimension als vierter Faktor für umfassendes Wohlbefinden gleichberechtigt zu berücksichtigen und zu fördern sei.

Empirische Studien weisen auf, dass positive Spiritualität nicht nur zur Krankheitsbewältigung betroffener Patienten dient und die Resilienz stärkt. Zunehmend wird sie auch von Mitarbeitenden zur Burn-Out-Prophylaxe entdeckt, um den zermürbenden und belastenden Erfahrungen des psychiatrischen, pflegerischen und psychotherapeutischen Alltags etwas entgegenzusetzen. Manche Experten empfehlen Achtsamkeit zur Förderung der ärztlichen Resilienz. Durch die Integration der spirituellen Dimension sollen in einem interdisziplinären Forschungsbereich ‚Medizinische Spiritualität‘ transpersonale Erfahrungen berücksichtigt werden, die einen heilsamen Effekt sowohl auf die Individuen als auch auf das gesamte Gesundheitssystem besitzen. Die Spiritualität der Mitarbeitenden, das Klima und Leitbild der Einrichtung sowie die spirituellen Erwartungen und Bedürfnisse des Patienten sind ein komplexes Geflecht, das genauer in den Blick zu nehmen sich lohnt.

Gelingende Zusammenarbeit

Das über Jahrzehnte vorherrschende Konkurrenzdenken zwischen Psychotherapeuten und Seelsorgern weicht zunehmend einer gelingenden Zusammenarbeit. Immer mehr erkennen beide Seiten ihre gegenseitigen Kompetenzen an. Weil der Glaube auch eine menschliche Seite hat – das individuelle Erleben von Gottes Reden und Handeln sowie die persönliche Beziehungsgestaltung zu Gott –, haben psychologische Überlegungen ihre Berechtigung und gewinnen Sinn. Und weil Seelsorge sich innerhalb menschlicher Begegnung und Begleitung ereignet, sind die psychologischen Grundlagen der Kommunikation sowie gesunder und kranker Lebensvollzüge nicht zu ersetzen.

Analog der Bio- und Medizintechniken ist heute jedoch die Vorstellung weit verbreitet, dass man sich mit geeigneten Psychotechniken umfassend ändern und von lästigen Schwächen und Fehlern befreien könnte. Demgegenüber betont Seelsorge die Würde und den Wert des schwachen, scheiternden, leidenden und zweifelnden Menschen. Seelsorge widersteht den Versuchungen, mit einem psychologischen „Bypass“ den dunklen und schmerzhaften Seiten der Seele auszuweichen – die „dunkle Nacht der Seele“ ist Teil unserer Lebendigkeit. Selbst wenn die Psychologie bald seelisches Leiden verhindern oder gar ausmerzen könnte – wohin würde das führen?

Literatur:

David G. Benner: Kraftvolle Seelsorge: Die wichtigsten Wege, um Gott zu erfahren und Menschen zu begleiten, Brunnen Verlag, Basel 2014.

Julius Kuhl: Spirituelle Intelligenz. Leben zwischen Ich und Selbst. Herder Verlag, Freiburg 2005.

Thomas Moore: Der Seele Raum geben. Wie Leben gelingen kann. Claudius Verlag, München 2010.

Kocku von Stuckrad: Die Seele im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019.

Michael Utsch (Hg.): Religiöse Psychotherapie. Evangelische Zentralstelle für  Weltanschauungsfragen, Berlin 2020.

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