Identitätspolitik und Sühne

Warum es unsolidarisch ist, wenn alle auf der Seite der Opfer stehen wollen
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Wer ist Opfer, wer ist Täter? In der Debatte um die sogenannte Identitätspolitik spielt diese Frage immer wieder eine Rolle. Wer sich nicht selber als Opfer sehen kann, zeigt zumindest eine starke Identifikation mit den Opfern und sieht in beiden Fällen nicht die eigene Verantwortung. Was kann die Debatte vor diesem identitätspolitischen Sumpf bewahren? Peter Scherle, langjähriger Direktor des theologischen Seminares Herborn, verweist auf das alte Konzept der Sühne, das einen Ausweg zeigen könnte.

Die Debatte um die sogenannte Identitätspolitik wird derzeit an vielen Orten geführt, sie füllt auch die Website und die Seiten der Printausgabe von „zeitzeichen“. Doch gleich, wie klug und engagiert die Protagonisten wie etwa der emeritierte Theologieprofessor Ingolf Dalferth in seiner Klage über die bedrohte Wissenschaftsfreiheit an einer US-Universität oder der Journalist Arnd Henze in seiner Replik darauf  argumentieren – stets droht der  identitätspolitische Sumpf, in dem die jeweils anderen nicht nur als Täter identifiziert werden, sondern in dem das Tätersein ebenso wie das Opfersein essentialisiert und kollektiv zugeschrieben wird. Um diesem Sumpf zu entkommen soll hier eine  andere Perspektive entfaltet werden. Wir nennen sie die soziale Grammatik der Sühne.

 „Je suis Charlie“ – „Ich bin Charlie“. Unter diesem Motto versammelten sich im Januar 2015 Menschen in Frankreich und überall auf der Welt, um ihr Entsetzen über den Anschlag auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zum Ausdruck zum Ausdruck zu bringen. Es war ein Zeichen der Solidarität mit den Viktimisierten. Ein Zeichen allerdings, das der „Logik der Identifikation“ (Michael Rothberg) folgte. Damit allerdings auch einer dualistischen Aufteilung der Gesellschaft in Opfer und Täter.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Erinnerungsforscher Michael Rothberg zeigt in seinem Buch „The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpetrators“, dass die dritte Kategorie, die im Zusammenhang der Holocaust-Forschung geprägt wurde, die der „Zuschauer“, ungenügend ist, um die soziale Wirklichkeit zu erfassen. Das Dreieck Täter – Opfer – Zuschauer erfasst nicht, wie sehr diese Kategorien dadurch gekennzeichnet sind, dass die Subjekte in die Produktion und Reproduktion von Prozessen der Viktimisierung und Täterschaft „eingefaltet“ (von lat.: implicare) sind. Primo Levi, darauf weist Michel Rothberg hin, sprach deshalb von der „Grauzone“, die selbst ein KZ nicht auf den Dualismus von Täter und Opfer bringen kann. Die Opfer sind in das Herrschaftssystem der Todeslager eingefaltet. In derselben Art und Weise sind Menschen außerhalb des KZ eingefaltet in die Täterschaft. Und sie bleiben es auch in der Nachgeschichte des Holocaust, die keinen neutralen sozialen Ort ermöglicht.

In der Gründung der Aktion Sühnezeichen im Jahr 1958 wurde eine Möglichkeit der sozialen Positionierung geschaffen, die sich der Monstrosität des Holocaust stellt, ohne der Logik der Identifikation mit den Opfern zu folgen. Vielmehr gleicht sie der „Logik der Nicht-Identifikation“, die Michael Rothberg als eine langfristige Strategie der gesellschaftlichen Solidarität versteht. Über den theologisch geprägten Begriff der „Sühne“ wird jene soziale Position markiert, die Verantwortung für die historische Verwicklung in die Täterschaft im Blick auf den Holocaust markiert, die „im Namen der Deutschen“ geschah. Es geht dabei nicht um rechtlich zurechenbare (Kollektiv-)Schuld und genauso wenig um einen Schuld-Affekt, mit seinen emotionalen und moralischen Aufladungen, sondern um eine Solidarität der Nachgeborenen, die die Viktimisierten und ihre Nachgeborenen nicht der Möglichkeit beraubt, Verantwortung für zugefügtes Leid einzufordern.

Aufrichtige Reue und offenes Bekenntnis

Es lässt sich unschwer erkennen, dass dies einer christlichen Praxis entspricht, dem Ritual der Buße. Dieses besteht aus einer zirkulären Bewegung: contritio cordis und confessio oris, absolutio und satisfactio operis. Frei übersetzt: aufrichtige Reue und offenes Bekenntnis, Bitte um Vergebung und Taten, die nichts wieder gut machen, wohl aber Zeichen der Verantwortungsübernahme sind. Nicht umsonst rufen Viktimisierte in den unterschiedlichsten Zusammenhängen nach „Wahrheitskommissionen“ (die etwa Gewaltdynamiken enthüllen) oder pochen auf eine Verantwortungsübernehme durch Forderungen nach „Reparation“ (etwa für das System der Sklaverei oder die Auslöschung von indigenen Völkern). Nichts davon kann geschehenes und fortwirkendes Leid wieder gut machen. Aber ohne solche Schritte, in denen Menschen sich in den Zirkel der Täterschaft stellen, kann es keine Vergebung, keine offene Zukunft geben.

Theologisch nimmt der Begriff Sühne ernst, dass es – jenseits von Eden – kein menschliches Leben ohne Verwicklung in Täterschaft gibt und geben kann. Das entscheidende Heilsereignis sieht der christliche Glaube darin, dass Gott selbst sich in diese menschliche Geschichte verwickelt hat. Im gekreuzigten Christus gesellt sich Gott zu den Viktimisierten, denen er die Pforten des Reichs der Toten aufsprengt (Karfreitag) und sie mitnimmt in das ewige Leben, in dem sie aufgerichtet und geheilt werden (Ostern). Der Gekreuzigte aber bittet im Sterben auch für uns alle, die in die menschliche Täterschaft verwickelt sind: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Wem diese Sichtweise des Glaubens fremd ist, darf daran erinnert werden, dass sich die soziale Grammatik der Sühne längst säkularisiert hat. Das reicht von der deutsch-französischen Aussöhnung nach 1945, über die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, bis zum Täter-Opfer-Ausgleich im Bereich des Jugendstrafrechts.

Solidarität durch Nicht-Identifikation

Von den Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen erfordert die soziale Grammatik der Sühne eine Haltung, die darauf verzichtet von den Viktimisierten Versöhnung einzufordern. Mehr noch: Die Freiwilligen, die ihren Dienst vorrangig in sozialen Einrichtungen tun, müssen den Schmerz und eine damit zusammenhängende Bitterkeit von Menschen, die zu Opfern gemacht wurden und werden, aushalten. Der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt hat das auf die Formel einer „Ethik des Gemiedenseins“ gebracht. Es geht darum, sich nicht mit den Viktimisierten zu identifizieren (nach dem Motto: Ich bin Anne Frank; Ich stehe auf der Seite der Opfer), sondern mit der Täterschaft, in deren Produktion und Reproduktion Menschen in Deutschland verwickelt sind und bleiben. Es geht um Solidarität durch Nicht-Identifikation.

Diese Erkenntnis ist aktuell von großer Bedeutung. Es gibt einen auffallenden Trend, die eigene gesellschaftliche Position als eine des Opfers bzw. der Identifikation mit den Opfern zu definieren. So wächst etwa die Zahl der Deutschen (auf gegenwärtig etwa ein Drittel), die meinen, dass ihre Vorfahren selbst Opfer des Nationalsozialismus gewesen seien oder den Opfern geholfen hätten. Irritierend ist es auch, wenn Menschen mit machtvollen Positionen, wie der ehemalige US-Präsident, sich fortwährend als Opfer stilisieren. Ebenso irritierend ist es bei europäischen Rechtspopulisten, die hemmungslos die Exklusion anderer fordern, sich dabei selbst aber beständig als Opfer von Exklusion darstellen.

Die Genannten lassen sich durch die jugendkulturelle Schmähung „Du Opfer!“ eher nicht schockieren. Sie nutzen vielmehr die Position „Ich Opfer“ zur Diskreditierung aller, die ihre politische Sichtweise nicht teilen. Und sie berauben die – nicht zuletzt von ihnen - real Viktimisierten damit auch noch ihrer Anerkennung. Dabei nutzen sie jedoch eine kulturelle Tiefenströmung in den westlichen Gesellschaften, die die Vorstellung eigener (Mit-)Täterschaft und Verantwortung seit längerem unterspült.

Wie mächtig diese kulturelle Tiefenströmung ist, zeigt sich in jenen linken und liberalen Diskursen, die seit den 1970er Jahren herrschend geworden sind. Durch vielfältige soziale Bewegungen angetrieben, wurde die Solidarität mit den Marginalisierten und Viktimisierten zentral für die Kritik an den unterschiedlichsten Formen der Herrschaft. Die Logik der Identifikation wurde zum Kennzeichen solcher Solidarität. Wobei sich schon bald das Problem zeigte, dass sich multiple Diskriminierungen – etwa durch Geschlecht, Ethnie/Hautfarbe oder Klasse - nicht einfach zu globaler Solidarität aufaddieren. Schwarze Frauen, so die Erfahrung schwarzer Feministinnen in den USA, müssen damit rechnen, dass sich weiße Frauen in bestimmten Hinsichten mit weißen Männern solidarisieren. Weiße Frauen aus der Unterschicht wiederum müssen damit rechnen, dass sich schwarze Frauen aus der Mittel- und Oberschicht mit Frauen und Männern aus diesen Schichten solidarisieren. Solche Erfahrungen haben zum Konzept der „Intersektionalität“ geführt, mit dem die Verschränkung der Herrschaftslogiken in den Blick genommen werden sollte, ohne einen der Mechanismen wie z.B. Sexismus, Rassismus oder Klassismus zum Hauptwiderspruch zu erklären. Dieses Konzept hat seine Berechtigung, wenn es als Konfliktmodell im Blick auf unterschiedliche Macht- bzw. Herrschaftslogiken verwendet wird.

Zeichen der Sühne setzen

Allerdings etablierte sich gleichzeitig ein Identitätsdiskurs, in dem nicht mehr die soziale Einbettung von Subjekten, sondern die persönliche Empfindung als Kern einer essenzialisierten Identität verstanden wird. Inzwischen hat sich die Figur etabliert, dass Einzelne, die sich in ihren Gefühlen verletzt sehen, als Opfer von Diskriminierung und Exklusion verstehen, die „safe spaces“ brauchen. Sie fordern nicht nur Identifikation mit sich als Viktimisierten, sondern auch den Ausschluss von Personen, das Ende von Handlungen und die Abschaffung von Strukturen, durch die sie sich verletzt sehen. Gegenwärtig wird dieses Phänomen im Begriff der „Cancel-Culture“ erfasst.

Diesem Muster entsprechend könnten sich nun wiederum jene als Viktimisierte verstehen, die „ge-cancelled“ oder „gegen-diskriminiert“ werden. Der dagegen erhobene Einwand lautet, pointiert gesagt, alte weiße Männer müssten es aushalten, dass sie auf absehbare Zeit – zugunsten von Jüngeren, Frauen, Schwarzen usw. – in bestimmten Diskursen nicht mehr gehört werden sollen, um ihnen ihre Herrschaftsposition zu nehmen. Dieser Einwand blendet jedoch aus, dass die einzelnen Subjekte über Alter, Hautfarbe oder Geschlecht keineswegs in einen Opfer-Täter-Dualismus eingeordnet werden können.

Will ich mich als alter weißer Mann dennoch nicht auf meine Befindlichkeit zurückziehen und mich nun ebenfalls zum Opfer stilisieren, dann gibt es zwei Möglichkeiten der Solidarität mit den berechtigten Anliegen, gesellschaftliche Diskriminierungen oder Exklusionen zu bekämpfen. Ich könnte mich entweder ganz auf die Seite der Viktimisierten schlagen und eine persönliche Verwicklung in eine Täterschaft so bestreiten oder zumindest unsichtbar machen. In der stärksten Form wäre die Bestimmung meines Ortes eine Formel wie „Je suis Charlie“. Oder ich könnte gesellschaftliche Verantwortung für eine vergangene oder aktuelle Täterschaft übernehmen und eben deshalb Zeichen der Sühne zu setzen versuchen. Hier wäre die Bestimmung meines Ortes – gemäß der „Logik der Nicht-Identifikation“ – eine Solidarität, die den Viktimisierten ihren Ort nicht streitig macht.

Die Chance der Positionierung durch Sühne-Zeichen besteht darin, dass sie letztlich auch den Viktimisierten die Möglichkeit eröffnet, sich aus der Täter-Opfer-Dichotomie zu befreien. Wenn Täterschaft verantwortet wird, müssen viktimisierte Subjekte nicht in der sozialen Position und Selbstbeschreibung als Opfer verharren. Wo Leid anerkannt, wo öffentliche Verantwortung übernommen wird und wo erkennbare Zeichen einer Veränderung viktimisierender Praktiken und der Bereitschaft zur Übernahme der gesellschaftlichen Kosten gesetzt werden - wo alles das geschieht, da können jene Prozesse in Bewegung kommen, die wir im christlich geprägten Abendland Vergebung nennen. Sie lassen sich aber auch – und vielleicht sogar genauer - als Selbstbefreiung der Viktimisierten aus einer essentialisierten Opferidentität verstehen.

Verwickelt in Ungerechtigkeiten

Deshalb ist es ein Problem, wenn Ingolf Dalferth ohne erkennbare Empathie und Reflexion der eigenen sozialen Position die soziale Praxis angreift, durch die Konstruktion von Opferidentitäten gesellschaftliche Ungerechtigkeiten offenzulegen. Denn solche Identitäten werden ja essentialisiert, um die Differenz zwischen Opfern und Tätern sichtbar zu machen. Eine Kritik daran ist nur legitim, wenn die Ungerechtigkeiten offengelegt und dadurch verantwortet werden, dass eigene Zeichen gesetzt werden, die neue gesellschaftliche Verhältnisse erwarten lassen. Die Antwort auf die „Gegendiskrimierung“ an Universitäten und die Forderung nach einer reparativen „restorative justice“ (für jene, die Diskriminierung und Ausschluss erfahren) müsste deshalb in einer kreativen neuen universitas des Forschens und Lehrens gesucht werden, die einer Art „creative justice“ entspringt.

Ein noch größeres Problem ist es allerdings, wenn Arnd Henze sich mit denen solidarisiert, die im Namen kollektiver Opferidentitäten auftreten. Denn auch er wäre identitätspolitisch denselben essentialisierten Täterkollektiven zuzuordnen wie Ingolf Dalferth. Als Deutscher wäre er als „Mensch mit Nazihintergrund“ (Moshtari Hilal u. Sinthujan Varatharajah) identifizierbar, als weißer Akademiker hat er Teil an der „white supremacy“ und wäre als Rassist identifizierbar, als älterer Mann verkörpert er das Patriarchat und wäre als Sexist identifizierbar. Indem er in diese identitätspolitische Melodie einstimmt und alle diese Einordnungen von sich weg und Ingolf Dalferth ausdrücklich zuweist, verweigert er die Übernahme von Verantwortung für jene Täterschaft, auf die er den anderen identitär (als „Emeritus aus Europa“ und den „theologischen Fakultäten in Deutschland“, der „offenen Rassismus“ zeige), festlegt.

Hier zeigt sich also in aller Deutlichkeit, wie wichtig die Überlegungen von Michael Rothberg zur „Logik der Nicht-Identifikation“ sind und warum die soziale Grammatik der Sühne aus dem identitätspolitischen Sumpf herausführen kann. Wir sind alle keine Zuschauer, sondern verwickelt in Ungerechtigkeiten, für die Verantwortung übernommen werden muss.

Aus theologischer Perspektive jedoch wäre es falsch, die Erwartung einer „restaurativen Gerechtigkeit“ zu hegen, einer Gesellschaft, in der es keine Verletzungen oder keine Diskriminierung mehr gibt. Die christliche Erwartung richtet sich auf die neuschöpferische „kreative Gerechtigkeit“, deren Vollendung Gott vorbehalten ist, der „kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten“. Denn dann werden auch alle jene aufgerichtet und geheilt, die keine Weltverbesserung und Wiedergutmachung mehr erreichen kann. Und alle werden befreit von jenen Festlegungen und sozialen Folgen, die heute noch durch Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe oder sozialen Status erfolgen.

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Peter Scherle

Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020  Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).


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