Leben und sterben lassen

Zur Freiheit der Kirche gegenüber der Selbsttötungshilfe
Bundesverfassungsgericht
Foto: dpa

Zu Jahresbeginn gab es große Aufregung um das Thema des assistierten Suizids in kirchlichen Einrichtungen. Jetzt gibt es erste Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe. Die Verfassungsrechtler Michael Germann und Christoph Goos prüfen kritisch das zugrundeliegende Karlsruher Urteil und zeigen rechtspolitische Aspekte und Aporien auf.

Seit das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 das wenige Jahre zuvor eingeführte Verbot einer „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ (Paragraph 217 des Strafgesetzbuches) für nichtig erklärt hat, bezieht das dadurch wieder eröffnete Ringen um einen Rechtsrahmen neue Maßstäbe aus den Urteilsgründen. Jenseits der für den Gesetzgeber unmittelbar verbindlichen Ableitung einer grundrechtlichen Freiheit jedes Menschen, zur Selbsttötung die freiwillig angebotene Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen, entwickelt das von den Karlsruher Richtern herangezogene Verständnis von Autonomie und Menschenwürde eine überbordende Eigendynamik.

Aus dem Urteil werden weitreichende Folgerungen für den gesellschaftlichen Umgang mit der Selbsttötung gezogen, die bisher keine parlamentarische Mehrheit gefunden hatten, jetzt aber kaum noch angreifbar erscheinen, weil sie sich nunmehr mit der Autorität des Bundesverfassungsgerichts umgeben können. Auch in der evangelischen Kirche und Theologie kann die Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als Bestätigung für ein Pathos der autonomen Selbstverfügung ankommen, das zuvor nicht unbedingt als Quintessenz evangelischer Ethik bekannt war.

Die Urteilsbegründung trägt ihren Teil zu dieser Eigendynamik bei. In der juristischen Ableitung bleibt sie zwar in methodischen Bahnen, die der Kritik keine vordergründigen Ansatzpunkte liefern. Ihre überschießende Rhetorik verleitet aber zu Schlüssen, die von der erkennbaren Absicht nicht gedeckt sind.

Dieser Überschuss könnte daran liegen, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Begründung seiner Entscheidung in der Defensive ist. Es verwirft mit dem Paragraphen 217 des Strafgesetzbuches ja eine Gesetzesnorm, in der die Volksvertretung nach aufwendiger öffentlicher und parlamentarischer Debatte im Jahre 2015 einen durch die politischen Lager hindurchreichenden Kompromiss in einer rechtsethischen Grenzfrage errungen hatte. Es stellt die alte Rechtslage wieder her, die nach seiner eigenen Erkenntnis „nicht geeignet war, die Willens- und damit die Selbstbestimmungsfreiheit in jedem Fall zu wahren“. Es bezieht in der Auslegung des Grundgesetzes zur gestellten Frage nach der Verfügbarkeit des Lebens eine Position, die beachtliche Verfassungsdiskurse in Gesellschaft und Staatsrechtswissenschaft nicht rezipiert, sondern autoritativ umwendet. Seine wuchtigen Prämissen zum Menschenbild des Grundgesetzes, zu Würde, Autonomie, Persönlichkeit und Freiheit des Menschen verdecken stellenweise auch argumentative Schwächen und Widersprüche.

Zu leicht macht sich das Bundesverfassungsgericht etwa die Wahl des grundrechtlichen Maßstabs, indem es den bis dahin durchaus prominenten Ansatz beim Grundrecht auf Leben und der Frage nach seinem „negativen“ Gebrauch nicht einmal erwähnt, sondern das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wie selbstverständlich an seine Stelle setzt und das daraus abgeleitete „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ zu einem „Verfügungsrecht über das eigene Leben“ steigert. Dieser Kniff hilft die schwierige Frage zu umgehen, ob sich das durch das Grundrecht in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) geschützte Leben so ausschließlich über den Willen definieren lässt wie die meisten aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Artikel 2 Absatz 1 GG abgeleiteten Rechtsgüter. Das hatte schon der Parlamentarische Rat in den Grundgesetzberatungen diskutiert und abgelehnt. Über das Verhältnis von Leben und Selbstbestimmung darf man auch nach der bundesverfassungsgerichtlichen Dezision geteilter Meinung sein. Gerade die Offenheit für das von anderen verschiedene Selbstverständnis des Einzelnen kennzeichnet das Menschenbild des Grundgesetzes, das ein selbstbestimmungsgerechtes Grundrechtsverständnis in so existentiellen Fragen ausmacht und in diesem Sinne mit dem Bundesverfassungsgericht als „Ausgangspunkt jedes regulatorischen Ansatzes“ festzuhalten ist.

Das Bundesverfassungsgericht darf deshalb nicht im Sinne einer autoritativen Normierung eines vom Grundgesetz vorgegebenen Menschenbildes verstanden werden, sondern nur im Sinne eines Verweises auf das individuelle, partikulare Selbstverständnis der Beschwerdeführer, die ihrem Leben ein Ende setzen wollten, wenn es etwa schreibt: „Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist [...] unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde.“ Manche werden diesen Satz als treffende Umschreibung ihres Verhältnisses zum Leben und Sterben annehmen, manche aber nicht, und auch sie haben damit recht.

Manche werden auch Bestimmungen ihrer Würde wie diese als Unsinn von sich weisen: „Der Mensch bleibt nur dann als selbstverantwortliche Persönlichkeit, als Subjekt anerkannt, sein Wert- und Achtungsanspruch nur dann gewahrt, wenn er über seine Existenz nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben bestimmen kann“. Dagegen wird etwa der eine oder andere Christ oder sonst weiterdenkende Mensch sagen dürfen, dass er seine Existenz schon vorgefunden hat, bevor er irgendetwas über sich selbst bestimmen kann. Vielleicht will es ihm deshalb nicht einfallen, wie er „über seine Existenz“ bestimmen können soll, abgesehen allein von der Selbsttötung. Wahrscheinlich hat das Bundesverfassungsgericht auch nicht alles so gemeint, wie es sich liest: dass die Würde des Menschen in der Selbsttötung so etwas wie ihre finale Bestätigung finde.

Legitime Zwecke

Wenig wegweisend ist auch die Umstandslosigkeit, mit der das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber die diesem obliegende, demokratisch legitimierte Definition gesetzlicher Schutzgüter aus der Hand nimmt. Der Bundestag hatte die Geschäftsmäßigkeit der Selbsttötungshilfe als ein sozialethisches Problem und deshalb als strafwürdig beurteilt. Das Bundesverfassungsgericht nutzt die grundrechtsdogmatisch durch nichts gedeckte, bisher scheinbar harmlose und nur formelhaft mitgeführte Unterscheidung von Gesetzeszwecken nach ihrer „Legitimität“, um die Verhältnismäßigkeitsprüfung ausschließlich auf den Schutz individueller Selbstbestimmung als einzigen hier „legitimen“ Zweck zu beziehen.

Für diesen Übergriff schließt es sich in einem unscheinbaren Zitat einem Sondervotum gegen eine Entscheidung von 2008 an, in der es die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen Geschwistern dem Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers noch zugestanden hatte. Die jetzt verfügte Exklusivität der Zwecke, die der Strafgesetzgeber nurmehr verfolgen können soll, wenn das Bundesverfassungsgericht sie „legitim“ findet, müsste neben dem Inzestverbot auch eine Reihe anderer Strafnormen zu Fall bringen: Dass der Gesetzgeber die Rechtmäßigkeit der Tötung auf Verlangen nicht mehr unter allen Umständen ausschließen dürfe, ist schon bemerkt worden und von denen, die für die Strafwürdigkeit der Tötung eines Menschen mit dessen Einwilligung schon bisher keinen Grund anerkennen wollen, in einen Vorschlag für eine umfassende Liberalisierung des Sterbehilferechts sogleich eingearbeitet worden.

Aber auch die Einwilligung in eine Körperverletzung dürfte nicht mehr wie im geltenden Recht unter den Vorbehalt eines Verstoßes „gegen die guten Sitten“ gestellt werden, und damit wären – wenn sich die Vermutung des freien Willens des Opfers nicht widerlegen lässt – wohl nicht nur „Kannibalenfälle“ dem Strafrecht entzogen, sondern auch die erst 2013 gesondert unter Strafe gestellte Verstümmelung weiblicher Genitalien.

Schließlich taugt das Bild vom „freien Willen“, das das Bundesverfassungsgericht zeichnet, schlecht dazu, den Gesetzgeber so an der Leine zu führen. So hoch das Urteil den freien Willen ins Unbedingte hebt, so dicht umspinnt es ihn mit voraussetzungsreichen Kautelen, nach denen nun der Staat mit einer neu zu errichtenden Bürokratie zur Willensexamination die wahre Freiheit des Willens verbürgen soll. Hierzu erwähnt das Gericht immerhin in einem Nebensatz, dass „Selbstbestimmung [...] immer relational verfasst“ ist. Einen Suizid-entschluss kann es eben doch nicht so einfach für sich gelten lassen, sondern definiert ihn nur unter der Bedingung als Ausdruck eines freien Willens, dass „der Einzelne seine Entscheidung auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider trifft“, „Handlungsalternativen zum Suizid erkennt, ihre jeweiligen Folgen bewertet und seine Entscheidung in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen trifft“, dass der Suizidentschluss „von einer gewissen ‚Dauerhaftigkeit‘ und ‚inneren Fes-tigkeit‘ getragen ist“ und „nicht etwa auf einer vorübergehenden Lebenskrise beruht“, dass er frei ist von „Fehlvorstellungen sowie unrealistischen Annahmen und Ängsten“. Wer diese gesetzlich zu regelnde Prüfung vor den Experten der Willensfreiheit nicht besteht, soll keinen Zugang zur staatlich lizenzierten Selbsttötungshilfe haben.

Keinem Gesetzgeber wird es gelingen, die argumentativen Schwierigkeiten des Bundesverfassungsgerichtsurteils ohne Rest aufzulösen. Daher taugt seine Begründung nicht als Blaupause für die erneuten rechtspolitischen Überlegungen, die es erzwingt. Die Aporien der Selbstbestimmung zum Lebensende, die es nicht wahrhaben will, setzen sich in den Aporien des gesetzlichen Schutzkonzepts fort, das es vom Leben auf die Selbstbestimmung über das Leben umzulenken verlangt. Der Gesetzgeber wollte der entstandenen Geschäftsmäßigkeit der Suizidförderung entgegentreten; nun wird ihm zugemutet, ihre Zuverlässigkeit zu sichern. Statt gemäß dem Zugeständnis des Bundesverfassungsgerichts verhindern zu können, „dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“, etablieren die bisher bekanntgewordenen, auf Lizenzierung gestützten Schutzkonzepte die Förderung der Selbsttötung als bürokratische Normalität und Routine bis hin zur staatlichen Versorgung mit Tötungsangeboten und Anspruch darauf.

In der rechtspolitischen Debatte um die anstehende Gesetzgebung zur Suizidhilfe ist die evangelische Kirche wie jede andere gesellschaftliche Stimme frei, in die Vielfalt der Ansichten eigene Bewertungen einzutragen. Dazu darf sie an den Bemühungen teilnehmen zu verstehen, was das Bundesverfassungsgericht unabhängig von den fallbezogenen Zuspitzungen mit den Ansätzen, in denen es durchaus etwa eine Normalisierung der Selbsttötung als autonomiegefährdend erkennt, eigentlich sagen wollte. Sie darf das auch in den Zusammenhang ethischer Positionen stellen, die besser durchdacht sind. Sie darf in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (Peter Häberle) auch eine Deutung dessen vortragen, was das Grundgesetz dem Gesetzgeber vor- und aufgibt. Sie kann etwas einwenden gegen Gesetzentwürfe, die die Ambivalenz der Selbstbestimmung über das eigene Leben mit einem Willensmangel verwechseln, das aufgegebene Schutzkonzept wie die Regulierung eines Marktes angehen oder die Förderung der Selbsttötung nun gleich zur Sache des Staates selbst machen. Vor allem darf sie für eine Sicht auf Leben und Sterben werben und rechtlichen Schutz einfordern, in der die Würde des Menschen mehr ist als seine Verfügung über sich selbst, der Schutz des Lebens mehr als der Schutz des autarken Lebenswillens, Hilfe im Sterben mehr als die Delegation des Trostes auf den Tod.

Diakonischer Umgang

Ein Gesetz über die Suizidhilfe wird den diakonischen Einrichtungen nicht die Entscheidung abnehmen, ob sie der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung in ihren Häusern Raum geben. „Niemand kann verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten“, betont das Bundesverfassungsgericht. Die Entscheidung, sie nicht anzubieten und sie fernzuhalten, kann nicht nur Ausdruck der ärztlichen Gewissensfreiheit, sondern auch des religiösen Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften und ihrer Einrichtungen sein. Wenn der Gesetzgeber Vorkehrungen dagegen treffen kann, dass Personen nicht in die Situation gebracht werden, sich mit Suizidangeboten „auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen“, dürfen diakonische Einrichtungen erst recht solche Vorkehrungen treffen. In den Verträgen mit den Bewohnern können sie sich von entsprechender Inanspruchnahme freizeichnen. Auch in den Arbeitsrechtsverhältnissen zu ihrem Personal können sie eine geschäftsmäßige Hilfe bei der Selbsttötung ausschließen. Schlechte Erfahrungen mit der europarechtlich imprägnierten Zurücksetzung religiöser Freiheit durch Arbeitsgerichte sollten nicht davon abhalten, den Handlungsrahmen nach dem verfassungsrechtlich garantierten und europarechtlich respektierten religiösen Selbstbestimmungsrecht innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu vermessen.

Die Kirche hat die Freiheit, diakonische Einrichtungen als Orte eines diakonischen Umgangs mit dem Leben und Sterben zu gestalten – auch und gerade wenn das heißt, von der woanders schon hingenommenen Normalisierung der Selbsttötung einen sicheren Abstand zu halten und zu versprechen. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Uni Halle

Michael Germann

Michael Germann ist Professor für Öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Kirchenrecht  an der Universität Halle.

Foto: privat

Christoph Goos

Dr. Christoph Goos ist Prodekan an der Hochschule Harz/Fachbereich Verwaltungswissenschaften, an der er eine Professur für Öffentliches Recht innehat.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"