Die Last der Dominanz

Biden konzentriert sich in der Außenpolitik auf realistische Ziele und wesentliche Interessen
Eine neue Außenpolitik: Europa wieder erwünscht. US-Präsident Joe Biden auf Augenhöhe mit europäischen Partnern bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2021.
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Eine neue Außenpolitik: Europa wieder erwünscht. US-Präsident Joe Biden auf Augenhöhe mit europäischen Partnern bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2021.

Außenpolitik sollte Nebensache bleiben. Doch die Realitäten in Nahost machen dem neuen US-Präsidenten Joe Biden einen Strich durch die Rechnung. Dahinter wird eine grundlegende Krise im Selbstverständnis und in der Position der Vereinigten Staaten weltweit deutlich, analysiert der Journalist Andreas Mink, der seit Jahren aus den USA berichtet.

Joe Biden und sein Team haben im Weißen Haus einen starken Start hingelegt – und das mit Ideen und Zielen, die der Lage Amerikas und der Welt angemessen schienen. Der Außenpolitik kam dabei eher eine Nebenrolle hinter der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und der Erneuerung der amerikanischen Volkswirtschaft durch immense Infrastruktur-Investitionen zu, die auf längere Sicht die gesellschaftlichen Spaltungen im Lande heilen sollten.

Dass Amerika längst nicht mehr die dominante Wirtschaftsmacht weltweit ist, schlägt aber auch direkt auf die Außenpolitik von „Team Biden“ durch. Das erklärt ein ehemaliger Offizieller am Nationalen Sicherheitsrat unter Barack Obama gegenüber zeitzeichen: Biden habe zwar die Rückkehr Amerikas in die traditionelle Führungsrolle an der Spitze der „freien Welt“ als Programm verkündet. Aber der Präsident, Außenminister Tony Blinken und der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan hätten sehr wohl erkannt, dass Amerikas Kräfte und Einfluss nicht zuletzt gegenüber der wachsenden Wirtschaftsmacht Chinas schwinden. Dies mache außenpolitischen Realismus und damit eine Konzentration auf wesentliche Interessen notwendig, so der frühere Mitarbeiter Obamas. Dazu gehörten laut dem Insider die Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen mit Europa auch im Rahmen der Nato, die Stabilisierung der Lage in Nahost und eine entschiedene Linie gegen die Provokationen und Ambitionen Russlands. Zentrales Ziel Bidens sei jedoch die Fortsetzung der „Wende in den asiatisch-pazifischen Raum“ und damit eine Stärkung der amerikanischen Position gegenüber China, die Obama eingeleitet und Trump auf seine eigene, chaotische Weise, etwa mit Truppen-Reduktionen in Afghanistan und im Irak, fortgesetzt hat. Die Voraussetzungen für dieses Konzept seien trotz der immensen von Trump verursachten Beschädigung des amerikanischen Ansehens günstig gewesen. Denn noch sei die „Hard Power“ Amerikas ungebrochen, also die auf Militär, Basen und Rüstungstechnik gestützte Macht. Der Insider kennt Bidens Team gut und hat eine sehr hohe Meinung von Blinken, Sullivan, aber auch Avril Haines, die als „Director of National Intelligence“ die Geheimdienste koordiniert. Zudem säßen auch in nachgeordneten Positionen erneut hochintelligente Fachkräfte, denen die persönliche Karriere nicht zu Kopf gestiegen sei.

Praktische Schritte für die Umsetzung des in vielen Details seit gut einem Jahr vorbereiteten Konzeptes waren laut dem Insider der Wiedereintritt in das Pariser Klima-Abkommen und generell ein neubelebter Dialog mit den Europäern. Dazu kam ein baldiger Abzug sämtlicher US-Truppen aus Afghanistan, nicht zuletzt aber die Rückkehr zu dem 2018 durch Trump aufgekündigten internationalen Atomabkommen mit Iran (JCPOA). Dieses sollte den allmählichen Rückzug Amerikas aus der Krisenregion Nahost und eine Bündelung der Kräfte auf den Fernen Osten erlauben. Doch spätestens mit dem erneuten Aufflammen des Konfliktes zwischen Israel und Palästinensern droht dieses fein gesponnene Konzept zu Makulatur zu werden.

Denn der Schlagabtausch im Heiligen Land offenbart zum einen die Grenzen der amerikanischen Macht, die weder die Eskalation verhindern, noch diese rasch wieder zu dämpfen vermochte. Zweitens aber verwandelt der Palästina-Konflikt Bidens Außenpolitik zu einem Zankapfel in der Innenpolitik. In der demokratischen Partei ist ein leidenschaftlicher Disput über die von Biden und Blinken beschworene „unerschütterliche Unterstützung Israels“ ausgebrochen. Wichtige Linke wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez haben Biden bisher erstaunlich loyal unterstützt. Nun setzen sie die Palästinenser mit unterdrückten Minoritäten in den USA gleich und rufen unter der Parole „Palestinian Lives Matter“ nach gleichen Rechten für Araber und der Streichung der jährlich vier Milliarden Dollar an Hilfen für Israel.

Diese Differenzen hatten sich zuvor in einer hitzigen Debatte zum Iran-Atomabkommen JCPOA abgezeichnet: Hier fordern moderate Demokraten im Verein mit den Republikanern und Israel eine harte Linie gegen Iran, also keinerlei Zugeständnisse bei Sanktionen bis zum Abschluss eines neuen Vertrags. Dieser müsse Teherans Raketen-Rüstung oder regionale Aktivitäten wie das Bündnis mit Baschar Al-Assad in Syrien umfassen. Realistisch war dies bereits Anfang Mai nicht. Nach dem Aufflammen des Palästina-Konfliktes erscheinen Kompromisse zwischen Washington und Teheran über das JCPOA aber ohnehin als fragwürdig.

Kollidieren die Pläne von „Team Biden“ hier evident mit der rauen Wirklichkeit, so gerät die amerikanische Außenpolitik ohnehin in eine Grundsatzkritik mit wachsender Reichweite. Diese wird einerseits von altgedienten „Realisten“ wie dem Harvard-Historiker Stephen Walt oder dem Ex-Militär und Historiker Andrew Bacewich getragen, die Amerikas „endlose Kriege“ im Orient beenden und die Nation in die Rolle eines „Schlichters regionaler Konflikte aus der Distanz“ lenken wollen – im Fach-Englisch „Offshore Balancing“ genannt.

Dazu kommen jüngere Stimmen. Bacewich hat 2019 mit dem Iran-Experten Trita Parsi in Washington das „Quincy Institute for Responsible Statecraft“ gegründet. Finanziert von einer erstaunlichen Zusammenarbeit der ansonsten ideologisch konträren Philanthropen Charles Koch und George Soros, argumentiert der „Think Tank“ für eine radikale Abkehr der Außenpolitik von dem Beharren auf globaler Dominanz und „Leadership“, wie sie Biden grundsätzlich weiterhin vertritt. Diese Denkschule ist in Medien und auf Social Media zunehmend präsent. Einen fundamentalen Text dazu hat der junge Historiker Stephen Wertheim im vergangenen Jahr mit „Tomorrow the World. The Birth of U. S. Global Supremacy“ vorgelegt. Er ist am Quincy Institute als „Direktor für Global-Strategie“ aktiv.

Tieferliegende Denkfehler

zeitzeichen gegenüber bezeichnet Wertheim die Iran-Frage als Indiz für tieferliegende Denkfehler der Außenpolitik auch dieser Regierung: „Biden und Blinken teilen die Welt und speziell den Nahen Osten ebenfalls weiterhin in Freunde und Gegner.“ Diese Einmischung verschärfe regionale Konflikte sogar noch, da „Freunde“ wie Israel und Saudi-Arabien mit dem Beschützer Amerika im Rücken kaum an einem Ausgleich mit Iran interessiert seien. Dann holt Wertheim weiter aus: „Ich bin Jahrgang 1985 und betrachte mich als Mitglied einer Generation, die sich für das Handeln Amerikas als Weltmacht schämt. Das geht von den ‚endlosen Kriegen‘ nach 9/11 bis zu der Unterstützung der Saudis im Bürgerkrieg im Jemen. Dazu kommen die immensen Kosten für das Militär bei stetig steigenden Staatsschulden.“ Bidens Parole „America is Back“ sei wohl nur so zu verstehen, dass der neue Präsident in das alte Muster zurückfällt und die militärische Dominanz Amerikas erhalten will: „Aber diese auf das Jahr 1940 zurückgehende Doktrin ist eindeutig gescheitert.“

Wertheims Buch zeichnet die Entstehung dieser Doktrin noch vor dem Eintritt der USA in den Kampf gegen die Achsenmächte nach. Planer und Entscheidungsträger in Washington waren schockiert von dem raschen Triumph Hitler-Deutschlands über Frankreich im Mai-Juni 1940 und zogen daraus die Konsequenz: Amerika muss die Welt zukünftig als stärkste Macht militärisch dominieren können. Dahinter stand die Erwartung einer langfristigen Bedrohung durch totalitäre Mächte. Dagegen konnte nur Dominanz abhelfen: „Aber diese Gefahr ist eindeutig mit dem Kollaps der Sowjetunion vor nun über dreißig Jahren verschwunden. Doch damit gingen anscheinend auch Maß und Vernunft bei der amerikanischen Außenpolitik verloren, was nach 9/11 zu endlosen Kriegen in Nahost und Zentralasien, aber auch zu kaum überschaubaren militärischen Interventionen von Nordafrika bis auf die Philippinen geführt hat.“

Das Beharren auf Dominanz mit 900 Basen und 200 000 Soldaten in Übersee provoziert die Feindschaft anderer Staaten, blockiert produktivere Formen von Außenpolitik und untergräbt damit die Sicherheit Amerikas, so Wertheim: „Ich plädiere stattdessen für einen Übergang von Dominanz zu Kooperation.“ Mit amerikanischer Ermutigung sollten regionale Akteure von Osteuropa über Nahost und Zentralasien bis Nordostasien Verantwortung übernehmen, also Spannungen und Probleme untereinander beilegen. Die USA könnten dann den immensen Wehr-Etat in den „Wiederaufbau“ im Inneren umleiten.

Andererseits aber schöpft Wertheim schon Hoffnung aus dem Abzug aus Afghanistan. Biden habe die Grenzen des militärisch Möglichen dort erkannt und die richtigen Konsequenzen gezogen. Unklar bleibe jedoch, ob er diese Einsicht auf die strategische Ausrichtung der USA insgesamt anwendet, also über die Bücher geht und jedes Engagement Amerikas weltweit mit der Frage überprüft: „Verfolgen wir zeitlich begrenzt und jeweils realistische Ziele, die auch nachweisbar direkt der amerikanischen Bevölkerung zugutekommen?“ Denn heute seien die USA mit einem Drittel der Staaten weltweit alliiert, also an deren Verteidigung gebunden. Dies hat zu einer riskanten „imperialen Überdehnung“ geführt, so Wertheim: „Unsere Verpflichtungen sind derart extensiv, dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren. Was geschieht, wenn Gegner uns testen und wir plötzlich mehrere Konflikte gleichzeitig bewältigen müssen?“ Resultat könnte ein dritter Weltkrieg sein – oder aber, dass die Vereinigten Staaten Alliierte im Stich lassen.

Doch die Dominanz-Doktrin steht selbst dem Abzug aus Afghanistan im Wege. Dies erklärt Barnett Rubin in einer Analyse für das „United States Institute for Peace“. Rubin war Politologie-Professor an der New York University, Berater der Obama-Regierung und gilt als führender Afghanistan-Experte in den USA. Er hebt eine in der breiten Öffentlichkeit nur selten diskutierte, aber besonders problematische Facette der amerikanischen Dominanz-Strategie hervor: Amerika hat beim Einmarsch in Afghanistan vor zwanzig Jahren noch das fünffache Bruttosozialprodukt der eurasischen Nachbarstaaten inklusive China, Indien und Russland erwirtschaftet. Inzwischen ist dieser Wert auf die Hälfte der ökonomischen Potenz dieser Staaten geschrumpft. Dennoch hat die Trump-Regierung offiziell einen Dialog mit den als „Gegnern“ eingestuften Mächten China, Iran und Russland über eine Befriedung und stabile Nachkriegs-Ordnung für Afghanistan abgelehnt. So wirkt Amerika nun zu schwach, um ein erneut drohendes Chaos in Afghanistan alleine zu verhindern. Doch Washington scheint auch unter Biden nicht geneigt, dabei andere Mächte als Partner einzubeziehen. Aber eben diese Nachbarstaaten sind auf vielfältige Weise in Afghanistan involviert, und zumindest Iran macht den Amerikanern dabei durch Beziehungen zu den Taliban Probleme. Rubin ruft daher dringend zu einem Kurswechsel und Dialog mit den Anrainern auf. Wie oben erwähnt, erschien die Lage Mitte Mai in Israel-Palästina ähnlich. Washington wirkte lange unfähig, auch nur einen Waffenstillstand durchzusetzen, geschweige denn eine Friedenslösung, die Israelis wie Palästinensern eine selbstbestimmte Existenz in Sicherheit und Wohlstand erlaubt.

So sind von Biden unversehens Flexibilität und Entscheidungsstärke gefragt, die laut einem Exposé der New York Times nicht seine Stärke sind. Nun gilt es, die verbliebene „Hard Power“ Amerikas für eine sanfte Landung auf dem Boden geschrumpfter Wirtschaftsmacht umzumünzen. Dabei führt eigentlich kein Weg vorbei an Wertheims Maxime „von Dominanz zu Kooperation“. Aber letztlich steht hier auch die als Machtwettbewerb angelegte „Wende in den asiatisch-pazifischen Raum“ zur Disposition. Denn wenn die USA mit einer anderen Macht zu einem Dialog auf Augenhöhe kommen müssen, dann sicherlich mit China. Ob Peking jedoch an einer solchen „Zusammenarbeit“ interessiert ist, steht auf einem anderen Blatt. 

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