Sorgen um den inwendigen Menschen

Über Albert Schweitzer und die Lebensrelevanz der Musik nicht nur in der Pandemie
Albert Schweitzer 1954 an seinem „Urwaldklavier“ in Lambarene: Für ihn war Johann Sebastian Bach „einer der größten Mystiker, die es je gegeben“ hat.
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Albert Schweitzer 1954 an seinem „Urwaldklavier“ in Lambarene: Für ihn war Johann Sebastian Bach „einer der größten Mystiker, die es je gegeben“ hat.

Konzerte und gemeinsames Musizieren waren in den vergangenen Monaten nur sehr eingeschränkt möglich. Musik galt in pandemischen Zeiten nicht als systemrelevant. Warum sie aber lebensrelevant ist, das wusste schon der Arzt und Theologe Albert Schweitzer. Paul Mertens, Musikpädagoge in Berlin und Mitglied des Beirats der Stiftung Deutsches-Albert-Schweitzer- Zentrum, blickt aus aktuellem Anlass auf eine Predigt, die der spätere Friedensnobelpreisträger als junger Vikar hielt.

Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit. Die Covid-19-Pandemie hat gravierende persönliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Einschränkungen zur Folge, die nicht zuletzt den gesamten Kulturbereich für lange Zeit zum Stillstand gebracht hatten. Nur langsam und noch immer mit Auflagen kann der Kulturbetrieb wieder seine Arbeit aufnehmen.

Die Musik ist davon besonders hart getroffen. Was für die Gesundheit der menschlichen Seele unverzichtbar ist, galt über ein Jahr lang als Gefahr für die physische Gesundheit. Diese verquere Situation provoziert ein Nachdenken über die Bedeutung der Musik – für das persönliche Leben wie für die Gesellschaft insgesamt. Ist Musik systemrelevant? Nein, sagt der Pianist Igor Levit, sie ist lebensrelevant. Und das ist ein Unterschied. Unser Gesellschaftssystem funktioniert, wenn wir Geld verdienen und ausgeben, wenn Bildung gewährleistet wird und das soziale Netz, vor allem die medizinische und therapeutische Versorgung, intakt ist. Musik ist dafür nicht nötig. In systemrelevanten Bereichen, wie Schulen und Krankenhäusern (Musiktherapie), drückte man sie ans unterste Ende des Curriculums.

Der Lockdown verbot, was Musik ausmacht: den lebendigen Austausch im direkten Kontakt miteinander. Online-Unterricht mag mit reinen Wissensfächern (Naturwissenschaften, Sprachen) möglich sein; Musik lebt aber von der Interaktion mit körperlicher Präsenz, auch beim Hören! Der Jazzmusiker John Coltrane sagte es einmal so: „Es ist wichtig, diesen realen Kontakt mit dem Publikum zu haben, denn das ist es, was wir versuchen – zu kommunizieren … Die emotionale Reaktion ist, was allein zählt. Solange es ein Gefühl von Kommunikation gibt, ist es nicht erforderlich, dass man verstanden wird.“ Musik ist also auch ein soziales Phänomen.

Albert Schweitzer reiste seinerzeit als Organist durch Europa. Die Menschen füllten die Kirchen nicht allein nur für ein musikalisches Ereignis oder weil sie für Schweitzers Spital in Lambarene (Gabun) spenden wollten. Es war die „Aura“, die Präsenz einer Persönlichkeit, die Kraft und Mut vermittelte und in den Menschen ein unentbehrliches „Gefühl von Kommunikation“ entstehen ließ.

Albert Schweitzer (1875 – 1965) war eine Orientierungsgröße, ein Vorbild, ein Mutmacher und – ein Musiker. So konnte er für die Propagierung seiner Idee der „Ehrfurcht vor dem Leben“ einen musikalisch-geistigen Raum schaffen.

Heute, 55 Jahre nach seinem Tod, inmitten einer unüberschaubar bedrohlichen Weltlage, sind wir mit Fragen konfrontiert, die auch ein wesentlicher Bestandteil der Ethik Albert Schweitzers sind: Was hat für uns in unserem Leben wirklich Relevanz? Was hält uns gesund? Gibt es Fragen nach der physischen Gesundheit, die nicht von Medizinern und Virologen beantwortet werden können? Sind neben den bekannten Maßnahmen (Abstand, FFP2-Masken, Impfung) noch andere Lebensinhalte wichtig, die uns helfen, gesund zu bleiben? Wie sieht es mit dem psychischen Zustand der Gesellschaft aus? Was stärkt das Immunsystem? Was hat die Pandemie mit den anderen Krisen (Klima, Armut, Massentierhaltung, Atomwaffen) zu tun?

Albert Schweitzer hätte schon aus rein medizinischen Gründen mit Interesse die Entwicklung der Pandemie verfolgt. Immer studierte er zunächst die gegebenen Fakten, um sich rein sachlich eine Meinung bilden zu können, dann aber die ethischen Konsequenzen zu bedenken. So war seine Vorgehensweise während der Atomdebatte in den 1950er- und 1960er-Jahren, aber auch grundsätzlich bei jedem Problem. Ansatzpunkt für die Therapie eines Problems war für ihn aber der Einzelne. Die Bedrohung der Gesundheit und die für viele real existierende wirtschaftliche Notlage begleiten Ängste und Sorgen, die das Leben überschatten und ihrerseits wieder krank machen können. Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Vereinsamung, Depressionen wurden in den vergangenen Monaten vermehrt diagnostiziert, auch bei Kindern und jungen Erwachsenen.

Solche Begleit- und Folgeerscheinungen einer Krisenzeit zeigten sich für Albert Schweitzer in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.

Am Sonntag nach Neujahr, im Jahre 1910, hatte er, damals noch Vikar, Menschen in den Kirchenbänken von St. Nikolai in Straßburg vor sich, die ihr Leben von Unsicherheit, Angst und Sorgen bedroht sahen. Was und wie sollte er predigen?

Schweitzer beginnt mit der Beschreibung der Lebensumstände aus der Sicht der „kleinen Leute“, wobei er betont, dass auch „die da oben“ ihre Sorgen haben. Er spricht von der „Unsicherheit der Verhältnisse in unserer Zeit“, von der Arbeitslosigkeit, der großen Sorge, „die unter unseren Menschen einen Schrecken verbreitet wie die Pest“; von den Sorgen der Jugendlichen. „Welche Gedrücktheit und Bitterkeit in diesen jungen Herzen lebt“, konstatiert er. Nun wäre es für Schweitzer als Theologe ein Leichtes gewesen, auszuweichen und alles sozusagen Gott zu übergeben. Mit erstaunlicher Offenheit verweigert er sich aber vor der Gemeinde dieser Ausflucht, weil er nur das gelten lässt, was ihm selber immer geholfen hat. Er bekennt sich dabei auch zu seinen eigenen Zweifeln. So fragt er:

„Was bietet uns die Religion gegen die Sorge? Soll ich euch predigen: Werfet eure Sorge hinter euch, stellt alles Gott anheim.“ Und da wagt er mitten in der Kirche die Aussage: „Was Gott ist, weiß niemand.“ Und trotzdem erwartet Schweitzer von dort die Hilfe: „Aber die Sehnsucht nach Gott, nach der Harmonie mit dem Unbeschreiblichen, das wir Geist nennen, und mit dem unser innerstes Wesen zusammenhängt, das müssen wir fühlen – denn da ist die Hilfe gegen die Sorge.“

Aber wie nun konkret? Schweitzer entfacht ein Gegenfeuer gegen die Sorge, indem er den offensichtlich greifbaren Sorgen eine andere Sorge entgegenstellt: „Es sind so viele Menschen Knechte der Sorge, weil sie eine Sorge nicht kennen: die Sorge um das, was sie geistig werden, das Rufen ihrer Seele nicht vernehmen. Darum sind sie an die Furcht verkauft. Sie haben nichts, was sie erhebt, daß sie über die Sorgen hinaussehen können, und ahnen gar nicht, daß das, was ihr Sorgen so schwer macht, die innere Leere, Unruhe und Zerfahrenheit ist. Das gilt uns allen. Darum wünsche ich uns im neuen Jahr zu allen Sorgen noch eine neue: die Sorge um den inwendigen Menschen, und diese so brennend und zehrend, als eine Sorge nur sein kann.“

Wirkliche Relevanz

Das heißt: Wir können durch den erzwungenen Stillstand im Lockdown ins Nachdenken kommen über unser Leben, ins Sehnen nach einem Ort oder einer Person, die uns von einer „anderen Welt“ kündet. Schweitzer erinnert seine Gemeinde an die Tatsache, dass ein großes Unglück die ganzen kleinen Sorgen zerrinnen lasse. Wir stehen dann plötzlich vor Fragen, die für unser Leben wirklich Relevanz haben. Auf wen oder was kann ich meinen Blick richten, so dass ich eine hoffnungsvollere Perspektive erkenne? Gibt es etwas, das mich, wenn auch nur mal für eine Stunde, der Welt, so unberechenbar sie auch ist, enthebt? Für Albert Schweitzer konnte es ein Spaziergang sein, der ihn zu einem Ort führte, der den Blick in die Weiten der Natur ermöglicht. So beispielsweise „sein Felsen“ auf den Höhen der Vogesen mit Blick auf seinen Heimatort Günsbach oder am Ogowe-Fluss in Lambarene. Auch ein Konzert, das für ihn sich zur „Andacht“ erheben konnte, wenn es den Blick nach innen befördert und damit einen Moment der Ruhe, der Beruhigung inmitten der Angst entstehen lässt. Oder eine halbe Stunde Bach-Orgelmusik, gespielt auf seinem Tropenklavier im Spital zur Stärkung und Sammlung seiner selbst.

Da ist es uns dann, fährt er in seiner Predigt fort, „als führte uns die Sorge einen hohen Berg hinauf, auf den die anderen Sorgen nicht mitkonnten. Als wir oben in der Sonne waren, ließ sie uns zurück- und hinunterschauen, wo es von Nebel und Wolken im Tal wogte, und sagte uns: Da drunten wolltest du leben.“

Sozusagen „weltenthoben“ lernen wir dann zu unterscheiden, welche Probleme wir gut bewältigen können (oder uns einbilden) und wie viele wirkliche Sorgen noch bleiben. Schweitzer, immer ja auch ein nüchterner Rationalist, sagt es dann in Zahlen: „20 Prozent bleiben wahre Sorgen“ – aber diese erdrücken uns nicht. In der besprochenen Predigt wird an keiner Stelle explizit von Musik gesprochen. Trotzdem ist sie Bestandteil von „Maßnahmen“, die uns „erheben“, die uns „geistig“ werden lassen und den „inwendigen Menschen“ stärken. Das dient vordergründig nicht dem System, aber unserem Leben inmitten des Systems.

Albert Schweitzer führt den in Sorge befindlichen Menschen ins Zentrum seiner Ethik, indem er als Voraussetzung für alles, was uns äußerlich leben lässt, das Zu-sich-selbst-Kommen für wesentlich hält. Denn grundsätzlich gilt für ihn: Alle „Ansichten und Überzeugungen entnimmt der einzelne hinfort seiner ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der Welt“.

Damit sind wir auf den Innenraum des Menschen verwiesen. „Inwendig“ heißt dann, das eigene Denken zu aktivieren und sich selber zuzuhören. Diese Wendung nach innen ist in Schweitzers praktischer Kulturphilosophie der erste Schritt, dem der zweite, die Hinwendung nach außen, also die ethische Tat, das Wirken in der Welt, folgt.

Musik gehört in den Innenraum; sie verlangt das Zuhören, wenn sie der Sammlung und nicht der Zerstreuung dient. Sie schafft innere Ruhe und senkt den Stresspegel. Das wissen heute nicht nur Psychologen; schon länger gibt es Forschungen dazu in allen medizinisch-neurobiologischen Disziplinen. Danach ist Musik nicht allein ein netter Zeitvertreib, denn sie hat, bewusst gehört, tiefreichende Wirkung im psychosomatischen Kontext. Dies lässt sich aber nur erkennen bei Musik, die wir wirklich lieben.

Für Albert Schweitzer war der große musikalische „Helfer“ und Spiritus rector, der unentbehrliche „Freund und Tröster“ Johann Sebastian Bach. Hat man Zugang zu dessen Werken, wird man Schweitzer in seinen Deutungen folgen können. Vielleicht ist es jedes Jahr vor Ostern ein Bedürfnis, die Matthäuspassion zu hören. Jedenfalls ermöglicht diese Musik vielen, etwas von der Botschaft des Jesus von Nazareth annehmen zu können, ohne konfessionell ein Bekenntnis ablegen zu müssen. Sie fühlen sich der Welt enthoben und ganz nah bei dem, was Schweitzer dichterisch, und ganz im Geiste der oben besprochenen Predigt, mal so ausgedrückt hat:

„Wir schauen bei ihm (Bach) das Leben, als wandelten wir auf einer Höhe, von milder Sonne umflossen, und sähen es durch blauen Nebel hindurch zu unseren Füßen ausgebreitet. Den Frieden, den er dem Leben, in Freud und Schmerz abgewonnen hat, spendet Bach in seinen Tönen; er redet zu uns als einer, der nicht im Leben, sondern über dem Leben steht. Darum ist seine Kunst als solche religiös.“

Nach Schweitzer bietet Bachs Musik uns eine Perspektive an, die leben lässt trotz aller Bedrängnisse, Ängste und Sorgen – „So liegt etwas wie eine Erlösung von der Welt und dem Leben in seiner Musik. Sie weckt in uns eine stille, tiefe Heiterkeit, eine Stimmung, die jenseits von Schmerz und Freude liegt. In dem Thomaskantor redet einer der größten Mystiker, die es je gegeben, zu den Menschen und führt sie aus dem Lärm zur Stille.“

Es ist eine erfüllte, innerliche, Ruhe schaffende Stille, die nichts mit dem lähmenden Schweigen des Lockdowns zu tun hat, weil nicht Finsternis, sondern Licht und Hoffnung ins Leben kommen. Ergänzt sei noch, dass, über Bach und Schweitzer hinaus, jede Musik in diesem Sinne wirken kann, die uns innerlich anspricht. Wenn das geschieht, dann ist für uns Musik lebensrelevant. 

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Paul Mertens

Paul Mertens ist Musikpädagoge und Mitglied des Beirats der Stiftung Deutsches-Albert-Schweitzer-Zentrum. Er lebt in Berlin.


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