Warum so schüchtern?

Der neue EKD-Text zur Bedeutung der Bibel lohnt sich
Veröffentlichung der Kammer für Theologie der EKD, Juli 2021.
Foto: Reinhard Mawick
Veröffentlichung der Kammer für Theologie der EKD, Juli 2021.

Heimlich, still und leise, nur mit einer unscheinbaren Pressemitteilung an einem späten Dienstagnachmittag vor zwei Wochen, veröffentlichte die EKD die neuste Schrift ihrer Kammer für Theologie. Warum so schüch­tern? Der Text „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Ent­scheidun­gen“ hat es jedenfalls nicht verdient, sang- und klanglos im Sommerloch unterzugehen.

In diesem Jahr wird in besonderer Weise an den Auftritt Martin Luthers vor Kaiser und Reich in Worms vor fünfhundert Jahren gedacht (vergleiche zz 4/2021). Der Reformator berief sich damals auf die Bibel und die Vernunft. In den Reichs­tags­ak­ten, die das Verhör Luthers vom 18. April 1521 dokumentieren, findet sich als Quelle jene lateinisch vorgetragene Aussage Luthers, die das evangelische Selbst­verständnis seither fundamentiert: Luther sagte, er könne nicht widerrufen „…(w)enn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzi­lien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst wider­spro­chen haben. So bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“[1]

Insofern ist es auch heute wichtig, die Konsistenz und Konsonanz kirchenleitenden Handelns mit der Bibel zu begründen und nicht nur zu behaupten. Wel­che Rolle die Bibel bei konkreten Entscheidungen kirchlicher Gremien und natürlich auch im Leben jedes einzelnen Christenmenschen spielt, wird aus pro­testantischer Per­spektive häufig vollmundig mit „sola scriptura“ beantwortet. Aber damit ist ja noch nichts Konkretes gesagt. Dieses „sola scriptura“ wird nun auf den gut einhundert Seiten der neuen Kammerveröffentlichung für das 21. Jahrhundert klar und in recht verständlichen Worten durchbuchstabiert.

Folgende Fragen sind dabei leitend: „Wie können wir die Bibel richtig verste­hen? Wie ist mit der Vielfalt des biblischen Zeugnisses umzugehen? Wie damit, dass es zu einem Thema und Problem offenbar verschiedene Aussa­gen in der Bibel gibt?“[2] Und, heute besonders wichtig: Welche Bedeutung und Funktion hat die Bibel, „wenn bezüglich eines Themas unabdingbar auch die Erkenntnisse anderer Wis­sen­schaften zu berücksichtigen sind?“ Das spielt beispielsweise bei den Erwägun­gen zur Klimakrise am Ende des Buches eine Rolle, denn zu diesem sehr neuzeitli­chen Thema, wie zu vielen anderen, steht explizit nichts in der Bibel.

Blaupause für Katholiken?

Zunächst aber werden in einem Eingangskapitel „Herausforderungen für den Schriftge­brauch“ zusammengetragen. Im Punkt 1.1. („Aufgabe und Anspruch evan­gelischer Kirchenleitung“) wird gut und bündig zusammengefasst, was Kirchenlei­tung „auf evangelisch“ bedeutet. Nämlich dies: „Für diese Aufgabe (der Kirchenlei­tung, R.M.) werden getaufte Christinnen und Christen auf Zeit gewählt und berufen. In ihrem Dienst stehen sie im Dialog mit allen Mitgliedern der Kirche und darüber hinaus. Die von ihnen getroffenen Entscheidungen begründen und vertreten sie öffentlich. Das kirchenleitende Handeln soll von allen getauften Mitgliedern der evan­gelischen Kir­che auf seine Schriftgemäßheit geprüft werden können, denn ein jeder Christen­mensch hat das Recht und die Pflicht, die kirchliche Lehre am Evangelium zu prüfen.“[3] (N.B.: Wenn die Aktivist:innen von „Maria 2.0“ oder des Synodalen Weges der römisch-katholischen Kirche in Deutschland eine Blaupause für zeitgemäße Kirchenleitung suchen – hier ist sie, oder?)

Unter Punkt 1.2. werden dann sehr handfest „Herausforderungen für den Schriftge­brauch im Prozess kirchenleitenden Handels“ vorgestellt, die sich von denen ande­rer, „weltlicher“ Entscheidungsgremien auch nicht unterscheiden, zum Beispiel „permante(r) Zeitdruck bzw. Zeitknappheit“ und das stete Gebot, „(d)ie Dringlich­keit, zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen, und die gebotene Gründlichkeit in der Beratung“ sorgfältig abzuwägen[4].

Auch wird scharfsichtig festgestellt, dass es durchaus „herausfordernd“ sei, „über ethische Fragen zu entscheiden und nur begrenzt Fachwissen über die jeweilige Sachmaterie zu haben und sich in den wissenschaftlichen Debatten zu orientieren.“ Der gesunde Menschenverstand würde hier urteilen, dass beides schwer zusam­mengeht, ob aber diese Einsicht in Zukunft zum Beispiel die Flut von Synodalerklä­rungen eindämmt, ist aber wenig wahrscheinlich, es sei denn, die Kammer für Theolo­gie nähme als eine Art Taskforce an solchen Tagungen teil …

Doch die wahren Probleme beim Hören auf die Bibel, von vielen häufig weihevoll als „Heilige Schrift“ bezeichnet – nicht so in dieser Veröffentlichung, wo der Begriff nur selten und dann entweder historisierend oder in Anführungszeichen verwen­det wird –, ergeben sich nicht nur aus der Inkompetenz etwaiger User:innen, sondern aus folgender Eigenschaft biblischer Texte: „Zum gleichen konkreten Stich­wort bzw. Problem gibt es in ihnen verschiedene Positionen und Perspektiven.“ und „Biblische Texte entfalten ihre theologische Bedeutung oft nicht in Form einer primär begrifflichen Argumentation, sondern in Form von Erzählung, Gleichnis, Bekenntnis und Gebet.“[5]

Platter Biblizismus ist sinnlos

Wie löst man dieses Problem? Zum einen gar nicht, jedenfalls nicht durch exegeti­sche Zaubertricks. Sondern man löst sie durch die Berücksichtigung des wichtigsten Grundsatz dieses Textes, eines Grundsatzes, der aus vielfältigen Blickwinkeln immer wieder kon­turiert wird und der so zusammengefasst werden könnte: Nur die ausgelegte Schrift ist Wort Gottes, will sagen: Platter Biblizismus, der so tut, als sei die Schrift direkt vom Himmel gefallen, ist sinnlos. Hier gibt es keinen Automatismus, hier kommt unweigerlich der Mensch, der auslegt, ins Spiel, und das ist auch gut so, denn. „Der Bezug auf die Schrift legitimiert zwar, aber entbindet niemanden davon, für eine Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen und die Entscheidung im Einklang mit seinem Glauben, seinem Gewissen und seinen Einsichten zu treffen.“[6] Und da sind wir wieder bei Luther, für den „Zeugnisse der Schrift“ und „klare Ver­nunftgründe“ zusammengehören.

Mit Gewinn zu lesen ist auch das zweite Kapitel („Das reformatorische Schriftver­ständnis, die Bedeutung der historisch-kritischen Methode und die hermeneuti­sche Funktion der Bekenntnisse für den Schriftgebrauch“). Ein Höhepunkt des Tex­tes ist hier die Auflistung von 13 verschiedenen „vielfältigen Redeweisen vom Wort Gottes“, über „das schöpferische, in das Dasein rufende Wort (Gen 1,3 ff.; Ps 33, 6.9.)“ bis zu den vielfältigen Formen, was „Evangelium“ alles bedeutet und aus­macht. Hier wird aufmerksamen Leser:innen einiges aufgezeigt, und hier wird in besonders klarer Weise deutlich, dass „die“ Bibel viel, viel mehr ist, als ein Text mit Vorschriften, sondern vielmehr dem, der Ohren hat zu hören und ein Herz, das un­ruhig schlägt, zum großen Schatz werden kann.[7]

Erkenntnisreich geht es weiter zur „Bedeutung der historisch-kritischen Methoden für die Schriftauslegung“[8]. Dass diese Methoden „erhebliche Erschütterungen“ mit sich gebracht habe, wird konzediert. Viel wichtiger aber sei jedoch dies: „Das refor­matorische Schriftverständnis hat es der protestantischen Theologie möglich ge­macht, die in der Neuzeit einsetzende historisch-kritische Methode konstruktiv zu in­tegrieren. So konnte der historische Textsinn freigelegt und auch kritisch gegen eine autoritative, interessengeleitete Textauslegung zum Zuge gebracht werden.[9]

Immer wieder neu beginnen

Wer so weit gekommen ist – und es lohnt sich so weit zu kommen – der oder die sollte wei­terlesen, auch wenn er oder sie dann manches vielleicht doch zweimal lesen muss und auch nicht alles gleich wichtig ist – zum Beispiel könnte man sich streiten, welche Funktion die altprotestantischen Bekenntnisschriften heute noch haben, denen die Kammer in der Mitte ihres Text viel Liebe entgegenbringt.

Abschließend zu diesen Überlegungen wird jedoch ein bedeutsamer Abschnitt aus der Leuenberger Konkordie zitiert, dem jüngsten dieser Bekenntnisse und das ge­wiss alles andere als altprotestantisch zu nennen ist: „Sie (die Reformatoren, R.M.) gingen aus von einer neuen befreienden und gewiss machenden Erfahrung des Evan­geliums. Durch das Eintreten für die erkannte Wahrheit sind die Reformatoren gemeinsam in Gegensatz zu kirchlichen Überlieferungen jener Zeit geraten. Überein­stimmend haben sie deshalb bekannt, dass Leben und Lehre an der ursprünglichen und reinen Bezeugung des Evangeliums in der Schrift zu messen sei. Diese Haltung scheint bis heute ratsam und lohnend zu sein, um immer wieder neu für sich mit der Bibel zu beginnen.

Wir fassen vorläufig zusammen: Schriftauslegung aus evangelischer Perspektive bedeutet, bei ethisch bedeutsamen Entscheidungen, Kriterien und Gedankengänge aus verschiedenen Bereichen mit dem biblischen Texten zu konfrontieren und so zu verantwortlichen Entscheidungen zu kommen. Dabei gibt es keine Patentre­zepte und keine Tricks. Diesen Eindruck aber will der Text auch an keiner Stelle erwecken. Der Text benutzt zur Charakteristik dieser vielschichtigen Überlegungen den Begriff „Überlegungsgleichge­wicht“, der allerdings schon aufgrund seiner Länge ein biss­chen abschreckend, ja monströs wirkt. Und wenn schon, so ein kecker Gedanke, sollte man ihn doch zum „Überlegungsungleichgewicht“ erweitern, was ihn zwar noch monströser machte, aber doch die Pointe bei einem gewissen Überschuss in Richtung biblischen Text setzte.

Monstrum „Überlegungsgleichgewicht“

Doch mit Prozentrechnung kommt man hier sicher nicht weiter, und was das „Überlegungsgleichgewicht“ betrifft, so wurde zumindest mit der Verwendung des Begriffes eine gewisse Reminiszenz an seinen Erfinder, den Philosophen John Rawls, platziert, in dessen Klassiker Eine Theorie der Gerechtigkeit er 1971, vor ge­nau 50 Jahren, erstmals auftauchte. Möglicherweise aber wäre es sinnvoller gewe­sen, statt mit dem Ungetüm „Überlegungsgleichgewicht“ mit dem Begriff „Konstel­lation“ im Sinne von Adorno und Walter Benjamin zu arbeiten. Aber egal – viel­leicht wäre dies zumindest in einer Fußnote zu erwähnen, wenn die Schrift, da hof­fentlich bald vergriffen, in eine zweite Auflage geht.[10]

Besonders interessant ist im letzten Textdrittel, wie das berühmte paulinische Bei­spiel von den Starken und den Schwachen (1. Korinther 8) paradigmatisch für ethi­sche Entscheidungen heute entfaltet wird[11], und dann in drei „Etüden“ einige The­men konkret durch den Versuch der Erzielung eines Überlegungsgleichgewichtes demonstriert werden. Die gewählten Themen sind (a) die Frage nach der Teil­nahme von getauften Kindern am Abendmahl, (b) die Notwendigkeit der Ordina­tion von Frauen und schließlich (c) die Grundlegung einer evangelischen Umweltethik.

Die Exempla sind von speziell bis allgemein gewählt. Allerdings wäre es durchaus reizvoll gewesen, anhand der entwickelten Kriterien zum Beispiel ein auch innerhalb der deutschen evangelischen Kirche sehr umstrittenes Thema, wie zum Beispiel die genaue Art und Weise des Engagements der EKD in der Seenot­rettung im Mittelmeer. Solch eine Etüde wäre sicher mit großem Interesse gelesen worden und hätte vielleicht noch interessante Erkenntnisse gebracht.

Andererseits steht das jetzt ja allen Interessierten und kirchenleitenden Gremien vom Gemeindekirchenrats bis zum Bischofsrat frei, mit Hilfe dieser „Bibelhilfe“ in Gestalt des vorliegenden Textes die Probe aufs Exemplum zu versu­chen. Es könnte reizvoll und gewinnbringend sein. Summa: Ein wirklich lohnender Text, der keinesfalls im Sommerloch-Nirwana verloren gehen sollte.

 

[1] Vergleiche Uwe Riese: „Keine Spur von Freiheit – Luther vor Kaiser und Reich und die evangelische Seelsorge“ in zeitzeichen 4/2021, 42-44.

[2] Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen – ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 2021, 11 (Im Folgenden: „Die Bedeutung“).

[3] Die Bedeutung, 15.

[4] AaO, 19.

[5] AaO, 21

[6] AaO, 23

[7] AaO, 30-34.

[8] AaO, 43.

[9] AaO,43.

[10] Ich danke Prof. Dr. Albrecht Grözinger ausdrücklich für den Hinweis auf den Gedanken der Konstellation bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno und den Verweis auf die Arbeit von Jan Thumann, Münster 2015.

[11] Bedeutung, 61-66.

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